Ich hatte nicht nachgedacht, war einfach losgerannt. "Wie immer!", hätte mein Vater jetzt wahrscheinlich gesagt, aber das wäre mir egal gewesen. Der vollgepackte Rucksack fiel mir immer wieder schwer in den Rücken und schon nach zehn Minuten taten mir die Füße in den durchgetretenen Sportschuhen weh. Mein Pullover war von Regen durchnässt und mir war bitterkalt, doch immernoch rannte ich weiter. "Geh!", hatte er mir noch hinterhergerufen. "Geh! Schnell, bevor du es dir anders überlegen kannst!", das waren seine Worte gewesen. Das waren wahrscheinlich auch die Worte, die nie ein Kind von seinem Vater hören wollen würde und doch hatte er es ausgesprochen. Sicherlich hätte es Situationen gegeben, in denen ich mich gefreut hätte, gehen zu dürfen. Als er sich von meiner Mutter getrennt hatte, als eben diese im Koma gelegen hatte, als seine neue Freundin eingezogen war, aber nie hatte er es dann gesagt. Dafür hatte er es jetzt gesagt, jetzt, wo ich mich so angestrengt hatte, ihnen allen zu gefallen. Angeschrien hatte er mich, eine halbe Stunde lang hatte er nur geschrien und doch wäre ich geblieben. Wäre ich, hätte er es mir doch nur gestattet. Und nun lief ich, Schritt für Schritt, wie in Zeitlupe. Die verwunderten Blicke der Leute, die sich wohl wunderten, was ein Kind in meinem Alter um diese Uhrzeit auf der Straße zu suchen hatte, noch dazu mit Rucksack und durchnässten Klamotten, ignorierte ich gekonnt.
Ich rannte, rannte eine Stunde, rannte weiter und fühlte mich ein wenig wie Forrest Gump. Und genau wie dieser blieb auch ich irgendwann stehen, wenn auch vielleicht ein wenig früher. Es regnete immernoch und mein Magen tat mir weh. Ich musste wohl ziemlich bedröppelt aussehen. Ein Teenager, 13 junge Jahre mit einem ausgeleiertem, durchnässtem Pullover und ohne Jacke, mit ausgelaufenen Schuhen und einem schäbigen alten Rucksack. Dazu mein entsetzter Blick, als mir die Gedanke durch den Kopf schoßen. Ich habe nichts zu essen dabei. Nichts zu trinken, kein Geld. Meine aufgerissenen Augen starrten auf den Boden. Eine scheinbare Ewigkeit stand ich nur da. Die Leute wichen mir aus, niemand berührte mich. Ich trieb einen Keil in die Menge. Ein merkwürdiges Gefühl der Leere machte sich in mir breit. Was nun passieren würde, war mir egal. Sterben würde ich sowieso. Was auch sonst, ohne Nahrung, ohne Geld? Eine Träne kullerte aus meinem Auge bis hin zu meiner Nasenspitze. War ich wohl einfach zu schlecht für die Welt?
So schlecht, dass nicht einmal mein Vater mich bei sich behalten wollte?
So schlecht, dass meine Mutter mich nicht mit sich nahm?
So schlecht, dass ich die Welt auf ewig verlassen sollte?
Ich ging einige Schritte zur Seite und ließ mich an einer Mauer herabgleiten. Ich war bereit zu sterben, auch wenn ich es nicht gerne tat. Oder war ich selbst dem Tod nicht gut genug? Ich drehte meinen Kopf noch einmal zur Seite, wollte die traurige Stadt noch ein letztes Mal sehen, da sah ich ein lächelndes Gesicht. "Meine Mutter!" Das war der Gedanke, der mir durch den Kopf schoss, oder vielmehr "Mama!"
Sie zog mich hoch und nahm mich mit in eine lichtdurchflutete Wohnung. Wie die Wohnung überhaupt lichtdurchflutet sein konnte, wenn der Himmel doch von Regenwolken besetzt war, die der Sturm vor sich her trieb, wusste ich nicht, aber es war mir auch egal. "Du bist zu Hause!", seufzte die Frau und erst nun, beim Klang ihrer Stimme und beim genauerem Betrachten meiner Umgebung erkannte ich, dass dies nicht meine Mutter war. Es war die neue Frau meines Vaters.