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 Die Stadt Namenlos

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Faules_Kätzchen
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Die Stadt Namenlos Empty
BeitragThema: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyFr Aug 16, 2013 5:51 pm

Ich geb's auf. Ich krieg es einfach nicht auf die Reihe, regelmäßig zu schreiben, wenn ich mir keine Deadlines zum Kapitel-Hochladen setze.
Deshalb hab ich mir jetzt vorgenommen, jeden Montag ein Kapitel meiner neuen Geschichte "Die Stadt Namenlos" hochzuladen.
Wichtig: Leser sind herzlich willkommen, ABER ihr solltet wissen, dass alle Kapitel noch völlig unbearbeitet sind. Außerdem könnte es sein, dass ich beim Schreiben noch einiges an der Handlung verändere und dann einige Dinge irgendwann gar keinen Sinn mehr ergeben. (ein Grund, warum ich die Geschichte eigentlich erst hochladen wollte, wenn sie fertig ist, aber wie gesagt - irgendwie klappt das nicht mit meiner Schreibdisziplin Razz)

So, jetzt erstmal zur Geschichte selbst:


Titel: Die Stadt Namenlos
Genre: Mystery / Drama / Urban Fantasy
Altersgruppe: ab 16
Zusammenfassung: Die Stadt Namenlos ist ein düsterer, trostloser Ort, abgeschnitten von der Außenwelt. Regiert wird sie von mystischen Schattenwesen, und niemand hat den Mut, sich gegen sie zu erheben. Doch Ash, der sein Gedächtnis verloren hat, will sich nicht mit seinem Schicksal abfinden - und so schließt er sich im Untergrund der Stadt einer Rebellion an. Doch schon bald verwischen die Grenzen zwischen Gut und Böse, und Ash weiß nicht mehr, wem er trauen kann...


So, hier jetzt erstmal der Prolog. Das erste Kapitel folgt bald, und dann gibt es jeden Montag ein neues. (hoffentlich schaff ich das! Rolling Eyes  )


Prolog

Die Straße, auf der sich keine Menschenseele zeigte, lag in einer schmucklosen Häuserschlucht, welche hoch oben mit dem tintenschwarzen Nachthimmel verschmolz. Kein Fenster war erleuchtet, wie dunkle, leere Augen blickten sie schweigend in die Nacht, sodass die kahlen Häuserblocks nur eine düstere Kulisse für die hell erleuchtete Straße darstellten. Wie Scheinwerfer setzten die schlanken, stählernen Straßenlaternen den frisch gefallenen Schnee auf Fußweg, Straße und Autos in Szene, der im Mondlicht schwach glitzerte. Nebelschwaden flossen weich und träge durch die eisige Luft. Die Stadt lag still da, mit regloser Geduld wartete sie auf etwas Lebendiges, einen Schauspieler, der dieser eingefrorenen Bühne etwas Wärme geben und Leben einhauchen würde.
Kurz nach Mitternacht, in der schwärzesten und stillsten Phase der Nacht, wurde dem Warten ein Ende gesetzt. Eine junge Frau floh mit der Hast einer Verfolgten von einer Seitenstraße ins Rampenlicht der hohen Gasse. Schneller, als es das flache Profil ihrer pechschwarzen Lederstiefel erlaubte, schlitterte und stolperte sie über den vereisten Gehweg.
Sie näherte sich ihm rasch und wäre wohl auch an ihm vorübergelaufen, ohne ihn zu bemerken, hätte er sich nicht in diesem Moment aus dem Schatten einer offen stehenden Toreinfahrt gelöst. Lässig und doch wachsam betrat er die weiß gepuderte Bühne und musterte die Fremde mit leuchtend grünen Augen. Sie unterdrückte einen Schrei und strauchelte, als sie ruckartig vor ihm abbremste. Sie schien schon eine ganze Weile gerannt zu sein, denn trotz der Kälte lief ihr der Schweiß in Strömen über das gehetzte Gesicht und verklebte den Ansatz der nachtschwarzen Haare, die ihr dicht über die Schultern fielen. In ihren Augen, die in ihrer dunklen Farbe dem Nachthimmel ähnelten, stand die blanke Panik. Ihr Atem ging stoßweise und stieg in weißen Dampfwolken gen Himmel.
„Wer verfolgt dich?“ Seine tiefe, emotionslose Stimme wurde vom Schneepolster geschluckt und klang dumpf. Noch immer fixierte er sie mit seinen giftgrünen Augen auf eine Art, die ihr einen Schauer nach dem nächsten über den Rücken schickte. Als sie nicht sofort antwortete, zog er etwas silbern Aufblitzendes hervor. Sie schrie auf und stolperte rückwärts bis an die Hauswand, als er sich ihr mit einem langen Messer in der Hand näherte. Doch anstatt sie anzugreifen, stapfte er mit knirschenden Schritten an ihr vorüber und blickte die Straße entlang. Eine Weile beobachtete er, ohne zu blinzeln, die Kreuzung in der Ferne, von der einige düstere Seitenstraßen abzweigten. Doch er nahm nichts Verdächtiges wahr.
Ohne das Messer wegzustecken, wandte er sich erneut der jungen Frau zu. Sie verspannte sich sofort wieder und presste sich zitternd an die überfrorene Wand.
„Wer verfolgt dich?“, wiederholte er seine Frage.
Sie musste ein paar Mal schlucken, bevor sie antworten konnte. „Es... es sind die Vampire. Mal wieder.“ Ihre Stimme zitterte genauso wie sie selbst. „Die kennst du doch, oder? Die Vampire? Oder Schattenteufel? Wie auch immer man sie nennen will.“, wiederholte sie, als er sie nur verständnislos anblickte.
Bei dem Wort „Schattenteufel“ verspannte er sich sichtlich und presste die Kiefer aufeinander. „Oh ja.“, sagte er düster, packte das Messer fester und schaute sich wieder wachsam um, die irritierend grünen Augen zu Schlitzen zusammengekniffen. „Die kenne ich allerdings.“
Die Zeit schien still zu stehen, während er bewegungslos in dieser Stellung verharrte. Auch das Mädchen gab nun keinen Laut mehr von sich und betrachtete gebannt die Sterne, die sich in der blanken Messerklinge spiegelten. Es war totenstill, die Sekunden zogen sich hin, es hätten auch Stunden sein können. Nur seine leuchtend grünen Augen bewegten sich in dieser erstarrten, farblosen Landschaft hin und her.
Irgendwann fielen ein paar einsame Schneeflocken vom Himmel, die schnell Gesellschaft bekamen. Die junge Frau begann, in ihrem dünnen schwarzen Mantel zu frieren. Fröstelnd zog sie ihn enger um sich.
Er hatte wohl ihre Regung bemerkt, denn nun löste auch er sich aus der Bewegungslosigkeit. Mit einem letzten wachsamen Blick durch die Straße steckte er das Messer zurück an seinen Gürtel. Als er sich ihr wieder zuwandte, schien er fast überrascht, dass sie immer noch dort stand. „Soll ich dich nach Hause bringen?“, fragte er. Seine leise Stimme klang genauso emotionslos wie zuvor, doch wenn sie sich nicht täuschte, war diesmal ein kleiner Funken Wärme darin.
Sie schüttelte den Kopf, starrte ihn aber weiterhin fasziniert an. Dann holte sie Luft, als würde sie einen Entschluss fassen. „Danke, nicht nötig. Meine Wohnung ist hier in der Nähe.“ Sie senkte beinah beschämt den Blick und unterdrückte ein Seufzen. „Und ein Zuhause habe ich eh nicht. Jedenfalls keins, in das du mich zurückbringen könntest.“
„Oh.“ Er wusste nicht genau, was sie damit meinte, aber er fragte nicht nach. Entweder wollte sie seine Hilfe einfach nicht, oder sie brauchte sie wirklich nicht. „Aber wer hat hier schon ein Zuhause? Ich jedenfalls auch nicht.“ Er lachte freudlos. „Nicht wirklich.“
„Verstehe.“, sagte sie und nickte, ohne ihn anzuschauen. Aus irgendeinem Grund hatte er das Gefühl, dass sie ihn wirklich verstand. Eine Weile schwiegen sie sich an. Zögerlich, langsam hob sie wieder den Blick und schaute ihm in die Augen, als könnte sie nicht ganz glauben, was sie sah. Wie auf Kommando wandte er sich da zum Gehen, öffnete die Autotür und wollte einsteigen. Doch er spürte immer noch ihren Blick im Nacken. Fragend drehte er sich zu ihr um. „Was ist?“
Sie antwortete nicht, schaute ihm nur weiterhin in die Augen, schüttelte irgendwann ungläubig den Kopf. „Du...“
„Ach so. Ja.“ Er wandte den Blick von ihr ab. „Komisch, oder? Ist aber 'ne lange Geschichte. Und ich verstehe sie selbst noch nicht genau.“
Erschreckend laut für diese Nacht sprang der Motor an. Ohne sich noch einmal umzuschauen, wendete er den Wagen und fuhr davon. Sie stand verlassen an der kalten Hausmauer, während sich auf ihrem dunklen Haar langsam der Schnee sammelte. Sie schaute den Rücklichtern zu, die sie wie zwei rote Augen noch lange anschauten und allmählich mit der Dunkelheit verschmolzen. Warum verspürte sie diesen Drang, dem Wagen nach zu laufen? Unschlüssig blinzelte sie gegen die fallenden Schneeflocken in den Himmel. War er das etwa? Der Eine?
Und in dem Moment geschah es: Ein Stern blinkte hell auf, bevor er herunterfiel und verschwand. Ja. Ihre kalten Lippen lächelten leicht. Seit Wochen hatte sie sich nicht mehr so glücklich gefühlt; oder waren es schon Monate gewesen? Oder Jahre? Sie hatte das Gefühl, zu schweben, spürte die Kälte nicht mehr. Mit schnellen, knirschenden Schritten nahm sie die Verfolgung der frischen Reifenspuren im Schnee auf. Es gab also doch noch Hoffnung.
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Faules_Kätzchen
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BeitragThema: 1. Willkommen in Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyDi Aug 20, 2013 12:16 am

So, hier jetzt erstmal das erste Kapitel. Es hat 18 Seiten. Shocked  Ja, die Kapitel werden bei dieser Geschichte zur Abwechslung mal ziemlich lang... Rolling Eyes 




1. Willkommen in Namenlos

Keiner weiß mehr wie er aussieht - oder wie er heißt
Alle sind hier auf der Flucht - die Tränen sind aus Eis

Es muss doch auch anders gehen - so geht das nicht weiter
Wo find ich Halt, wo find ich Schutz - der Himmel ist aus Blei hier

Ich geb keine Antwort mehr - auf die falschen Fragen
Die Zeit ist rasend schnell verspielt - und das Glück muss man jagen.

Cassandra Steen: Stadt


1.0 Eric

Vor Überraschung zog ich scharf die Luft ein. Ich hätte nicht gedacht, dass es so einfach wäre, ihm die Waffe aus der Hand zu schnappen. Vor Schreck ließ ich sie fast wieder fallen, als hätte ich mich verbrannt. Ich hatte noch nie eine solche Mordwaffe in den Händen gehalten. Erst recht nicht mit der Mündung auf das Gesicht eines anderen Mannes gerichtet.
Mein Herz raste, meine Hände zitterten, doch ich griff nur umso fester zu. Die Pistole lag schwer in meiner Hand, kaltes Metall auf meiner überhitzten Haut. Panik machte sich in mir breit, eine ganz andere Panik als die Todesangst, die ich vor wenigen Sekunden verspürt hatte. Ich fühlte mich rettungslos überfordert. Schwer atmend blickte ich über den Lauf der Waffe hinweg auf meinen Widersacher, den fülligen kleinen Mann mit den gräulich-blonden Locken, die sich auf seinem Kopf schon lichteten. Mit erschrocken aufgerissenen Augen starrte er mich an, wie ein Reh, das von dem Licht eines Autos überrascht wurde. Okay, ein ziemlich fettes Reh.
Er hätte so harmlos ausgesehen, hätte nicht zu seinen Füßen ein blonder Junge in seiner eigenen Blutlache gelegen. Stefan, getötet durch einen einzigen Schuss mitten in die Brust. Der Junge, der wie ein kleiner Bruder für mich war. In meinen Ohren rauschte es. Dieser Mann hatte ihn getötet! Mordlustige Wut stieg in mir hoch wie bittere Galle und drängte die Panik zurück. Ich wollte diesen namenlosen, unbedeutenden Mann töten, dieses plötzlich angstverzerrte Gesicht auslöschen, genauso, wie er einen meiner Freunde einfach aus diesem Leben gerissen hatte, ohne mit der Wimper zu zucken.
Mein Finger lag am Abzug. Nur eine winzige Bewegung, und ich würde sehen, wie das Licht in diesen blassblauen Augen erlosch, wie sein Blut an die abblätternde Tapete der Wand hinter ihm spritzte. Nur eine winzig kleine Bewegung...
„Eric!“
Ich zuckte leicht zusammen, als ich meinen Namen hörte. Ich erinnerte mich wieder, dass wir ja nicht die einzigen Personen in diesem kleinen, vollgerümpelten Wohnzimmer waren, das durch die tief stehende Abendsonne mit roten Schatten gefüllt wurde. Hinter mir standen meine Freunde, oder besser gesagt: meine Komplizen. Ich kam langsam in die Gegenwart zurück und spürte plötzlich überdeutlich ihre Blicke in meinem Rücken, die sich wie Nadelspitzen in meine Haut bohrten.
„Ja?“, knurrte ich zwischen zusammengepressten Zähnen hervor, ohne die Augen von meinem Gegenüber abzuwenden. Die Pistole in meinen Händen schien mit jeder Sekunde schwerer zu werden, drückte sich in mein Fleisch.
Ich hörte, wie hinter mir jemand Luft holte, doch niemand antwortete. Ich biss die Zähne zusammen, bis meine Kiefer schmerzten. Schweiß brannte in meinen Augen. Was erwarteten sie von mir? Was erwartete ich von mir? Was der Mann, der zur leichenblassen Salzsäule erstarrt vor mir stand, erwartete, brauchte ich mich nicht zu fragen. Er schien zweifellos damit zu rechnen, dass ich schoss. Sollte ich seine Erwartungen erfüllen? Es wäre gerechtfertigt. Schließlich hatte er Stefan getötet. Warum also sollte ich nicht auch dasselbe mit ihm tun?
Kalte Mordlust presste mein Herz zusammen und ließ meinen Atem stocken. Ich wagte nicht, zu Stefan hinabzuschauen, der seltsam verdreht vor meinen Füßen lag. Ich sah jedoch aus den Augenwinkeln, wie sich der dunkelrote Fleck auf seinem Rücken immer noch weiter ausbreitete, obwohl er sich schon längst nicht mehr rührte. Mein Magen drehte sich um und vor meinen Augen verschwamm alles, während meine Knie weich wurden.
Nein!
Ich verdrängte das Grauen, ließ stattdessen den Hass durch mich pulsieren. Er gab mir Kraft. Ich stabilisierte meine Arme, das Zittern hörte auf. Ich weiß nicht, was der Mann in meinen Augen sah, aber es schien nichts Gutes zu sein, denn er wirkte, wenn das möglich war, noch panischer als zuvor. Seine farblosen, schmalen Lippen bewegten sich hektisch, als wollte er etwas sagen, doch er brachte keinen Ton heraus. Sein säuerlicher Angstschweiß stach mir unangenehm in die Nase und er wurde so blass, dass es mich nicht getäuscht hätte, wenn er auf der Stelle tot umgekippt wäre. Wenn Blicke töten könnten... vielleicht konnten sie das ja? Ein grausames Lächeln verzerrte meine Lippen, ich konnte gar nicht dagegen ankämpfen. Ich griff die Pistole so fest, dass es wehtat. Sie brannte sich in meine Haut, verband sich mit mir, bis ich ein Teil der Waffe wurde. Gefühllos, gedankenlos. Gemacht, um zu töten. Langsam, als würde ich einen noch immer vorhandenen inneren Widerstand überwinden, zog ich am Abzug...
„Eric!“
Wieder die Stimme, diesmal wie eine Wattewand. Ich blendete sie aus.
„Eric!“
Eine Hand packte meine Schulter, schüttelte sie leicht. Sie schien aus einer anderen Welt zu kommen. Ich versuchte, sie abzuschütteln und einfach zu schießen. Es war doch so leicht. Doch aus irgendeinem Grund waren meine Hände taub geworden, ich konnte sie keinen Millimeter mehr bewegen. Waren sie nun wirklich mit der Pistole verschmolzen?! Jemand schrie, und ich bemerkte schockiert, dass ich es war. Wieso konnte ich nicht schießen?!
„ERIC!“
Ich schlug die Augen auf und schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Vor meinen Augen schwamm das kantige, dreitagebärtige und ziemlich besorgte Gesicht von Tobias, das nur langsam Konturen annahm. Ich stöhnte benommen, mir war schwindelig. Wo war oben, wo war unten? Es war so dunkel... war schon Nacht?
„Na, endlich bist du wieder da. Leute, Eric ist wieder wach!“, rief Tobias über die Schulter den anderen zu, die irgendwo im Hintergrund waren, wo ich sie nicht sah. Zur Antwort kam nur erleichtertes Gemurmel.
Dann wandte sich Tobias wieder mir zu. Seine Augen und Mundwinkel zuckten, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er besorgt, erleichtert oder genervt dreinschauen sollte. Sein fahle Haut glomm schwach in der Dunkelheit, ein heller Fleck in all der Schwärze. „Wir haben uns schon ein bisschen Sorgen gemacht, Mann. Du warst ganz schön lange weg. Hast wohl heute auch noch nicht genug Wasser getrunken, was? Flüssigkeitsmangel, dann geht das ganz schnell. Zack, liegst du da und wir müssen uns Sorgen machen.“, plapperte er weiter. Die Erleichterung hatte anscheinend sein Mundwerk wieder gelöst. Gut so, ein schweigsamer Tobias wäre nämlich echt gruselig.
Ich blinzelte und versuchte, damit das Schwindelgefühl zu vertreiben. Vorsichtig setzte ich mich auf und rieb mir den Kopf. „Was ist passiert?“, nuschelte ich. „Hab ich... ihn getötet?“ Ich schauderte, als ich es aussprach. Ich wusste nicht, wovor ich mehr Angst hatte: vor einem Ja oder Nein.
Tobias seufzte. „Nein, hast du nicht. Dein weiches Herz hat dich davon abgehalten“, sagte er trocken.
Ich runzelte die Stirn. Das sah mir gar nicht ähnlich. Okay, vielleicht war ich wirklich mal ziemlich weichherzig gewesen, doch die Zeiten waren definitiv vorbei.  „Ich hab kein weiches Herz“, entgegnete ich, eher verwundert als trotzig.
Er öffnete den Mund, um zu protestieren, doch dann überlegte er es sich anders. Wieder seufzte er, diesmal entschuldigend, und rieb sich die farblosen Bartstoppeln. „Mist, du hast recht. Schade, ich dachte, du wärst noch benommen genug, um mir das abzukaufen. Dann hätte ich dir die peinlichen Details ersparen können.“ Er grinste freudlos und zeigte dabei seine gelblichen Zähne. „Du hast zu Stefan runter geschaut und er sah anscheinend so umwerfend aus, dass du einfach umgekippt bist. Kannst froh sein, dass Hanna und ich direkt hinter dir standen und dich aufgefangen haben, sonst wärst du mit der Fresse direkt in der Grütze gelandet.“
Okay, das war wirklich peinlich. Ich hatte gar nicht gewusst, dass ich so empfindlich auf Blut reagierte. Wenn die beiden mich nicht gehalten hätten... Mein Magen krampfte sich bei der unappetitlichen Vorstellung zusammen. Schnell presste ich mir eine Hand vor den Mund und würgte trocken. Ich hatte noch immer den rostigen Geruch von frischem Blut in der Nase. Oder bildete ich mir das nur ein? Vielleicht roch auch einfach die gesamte Luft in dem kleinen Raum danach. „Danke“, brachte ich hervor.
Mitfühlend drückte Tobias kurz mit mattem Griff meine Schulter. Dann erhob er sich. „Keine Ursache. Hey, wie wär's, wenn du dafür heute für mich die Nachtwache übernimmst?“ Grinsend streckte er mir eine Hand entgegen, um mir aufzuhelfen.
Ich verdrehte nur die Augen. Obwohl ich ihm insgeheim dankbar war, dass er das Thema wechselte. „Das hättest du wohl gerne. Wenn ich die Nachtschicht für dich machen würde, müsste ich ja die ganze Nacht lang dein Schnarchen hören.“ Ich wollte seine Hand ignorieren, als ich mich auf die Beine stemmte, doch ich taumelte so sehr, dass ich dann doch lieber danach griff und mich festhielt. War die Erdanziehung schon immer so stark gewesen? Und meine Hände... die Handflächen kribbelten, als hätte sich tatsächlich ein Teil der Mordwaffe darin eingebrannt und unsichtbare Spuren hinterlassen. Für einige lange Momente flimmerten kleine Lichter vor meinen Augen, doch ich nahm ein paar tiefe Atemzüge und blinzelte sie weg.
„Geht's wieder? Kann ich dich jetzt loslassen?“, fragte Tobias leise. Er klang für einen Moment ernsthaft besorgt, versuchte aber wie immer, es mit einem kleinen Scherz abzutun: „Weißt du, die anderen gucken nämlich schon komisch, wenn wir hier so lange händchenhaltend herumstehen.“
Ich rang mir ein Lächeln ab. Er versuchte einfach immer wieder, mich aufzuheitern. Dass seine Versuche nur selten von Erfolg gekrönt waren, lag wohl eher an mir als an ihm. Oder einfach an unseren mehr als unglücklichen Umständen. „Jaja, danke. So labil bin ich nun auch noch nicht“, sagte ich, etwas peinlich berührt davon, dass ich so unsicher auf den Beinen war, und machte mich los, um mich umzuschauen. Außer uns beiden waren nur noch zwei andere dunkle Schemen im Raum, ein Junge und ein Mädchen. Ich konnte jedoch aufgrund der Dunkelheit ihre Gesichter nicht erkennen oder sehen, ob sie zu uns schauten. Dann verließen sie wortlos das Zimmer, mit Schritten, die auf den ausgedorrten Holzdielen leicht knarrten.
Tobias hob abwehrend die Hände. „Wie du meinst. Wollte nur sichergehen, dass du nicht wieder auf den Boden klatschst wie ein toter Pfannkuchen. Siehst nämlich immer noch ein bisschen blass um die Nase aus, wenn ich das so sagen darf. Such am besten mal Anton und frag ihn, ob er noch ein klein wenig zu trinken hat.“
Ich schnaubte nur. Blass um die Nase war ich also. Da keiner von uns allen eine besonders gesunde Gesichtsfarbe aufwies, musste ich im Vergleich ja aussehen wie der Tod auf Latschen höchstpersönlich. „Wo steckt Anton denn?“
„Keine Ahnung. Such ihn einfach, das Haus ist ja nicht besonders groß.“ Er zwinkerte mir zu und deutete mit dem Daumen über die Schulter, wo ein rechteckiger Fleck, der etwas heller war als die Umgebung, anzeigte, dass sich dort wohl die Tür nach draußen befand. „Oder du kommst mit mir nach draußen zu Hanna und Paul und hilfst uns, den armen Teufel Stefan irgendwo auf dem Kompost zu verscharren.“
Alles in mir schrie danach, dieses Haus mit der erdrückend niedrigen Decke zu verlassen, aber auf ein solches entwürdigendes Begräbnis zwischen Regenwürmern und Kartoffelschalen konnte ich gut verzichten. Gerade in meinem jetzigen Zustand, und erst recht, wenn dabei eine blutige Leiche beteiligt war. „Muss nicht sein“, sagte ich daher schnell und schüttelte mich unwillkürlich, was mir ein verständnisvolles kleines Lächeln von Tobias einbrachte. Kaum war es über sein Gesicht gehuscht, unterdrückte er es jedoch wieder, als würde es ihm wehtun, die Mundwinkel zu heben.
„Ähm, aber wenn ihr wirklich Hilfe braucht, helfe ich natürlich.“, fügte ich noch etwas schuldbewusst hinzu, bevor er etwas sagen konnte. Ein bisschen Höflichkeit musste schließlich sein. Und ich hatte schon ein wenig schlechtes Gewissen, dass ich einfach umgekippt war und so lange ohnmächtig herumgelegen hatte, während die anderen wahrscheinlich alle fleißig gearbeitet hatten. Ich konnte mir schon bildlich die anschuldigenden Blicke vorstellen, die Anton und Cecilia mit Sicherheit meiner reglosen Gestalt zugeworfen hatten. Und die sie auch jetzt noch meiner nicht mehr ganz so reglosen Gestalt zuwerfen würden, sobald sie mich zu Gesicht bekamen.
Tobias schnaubte nur und nickte mir gutmütig zu, als Zeichen, dass er auch das Unausgesprochene verstand. „Na gut, falls wir dich brauchen, geb ich dir Bescheid.“, behauptete er.
Ich schaute seiner großen, breitschultrigen Gestalt hinterher, als er verschwand, und unterdrückte ein Seufzen. Er erinnerte mich in so vielen Dingen an meinen großen Bruder, Ash. Tobias war genauso fürsorglich, hilfsbereit und harmoniesüchtig wie er. Und beide waren manchmal zu nett für ihr eigenes Wohl. Der einzige Unterschied zwischen ihnen war, dass Tobias immer einen flotten Spruch auf den Lippen hatte und versuchte, mich und alle anderen aufzuheitern, egal, wie dreckig es ihm selbst ging, während Ash in dieser Hinsicht das genaue Gegenteil war. Immer war ich derjenige gewesen, der Ash aufgeheitert hatte – selten umgekehrt.
Die Erinnerung an ihn verursachte einen scharfen Stich der Sehnsucht und Besorgnis. Ich hatte keine Ahnung, was in den letzten Monaten aus Ash geworden war. Manchmal hatte ich das Gefühl, dass er mich mehr brauchte, als ich ihn. Immerhin war ich inzwischen sechzehn Jahre alt und würde auch ohne einen Beschützer durchs Leben kommen. Er jedoch hatte schon immer einen Hang zu Depressionen gehabt – was ich ihm in dieser gottverlassenen Welt nicht verdenken konnte – und das war ein weitaus größeres Problem. Er brauchte einfach jemanden – jemanden, der ihn über Wasser hielt. Und er hatte doch nur noch mich, seit unsere Eltern vor einigen Jahren spurlos verschwunden waren. Ich machte mir Sorgen um ihn. Was, wenn er sich etwas antat? Oder wenn er psychisch in so ein tiefes Loch fiel, dass auch ich ihn nicht mehr herausziehen konnte, falls wir uns jemals wiedersahen?
Ich schüttelte diese unangenehmen Gedanken ab, wie ich es in letzter Zeit immer tat. Ich war im Verdrängen echt gut geworden. Ob das wirklich eine gute Eigenschaft war, darüber konnte man streiten, aber zumindest fraß mich so die Sorge nicht komplett auf – und im Moment waren sowieso andere Dinge wichtiger.
Meine Augen hatten sich inzwischen an die schlechten Lichtverhältnisse gewöhnt und ich schaute mich um. Ich stand in der Ecke eines kleinen, äußerst zugerümpelten Wohnzimmers, direkt neben einem antiken Holzschrank, dessen bräunliche Farbe ich nur erahnen konnte. Unwillkürlich grinste ich leicht, als ich mir vorstellte, wie meine Freunde mein ohnmächtiges Ich in diese Ecke gezerrt, geschoben und gerollt hatten, damit ich nicht mehr im Weg lag. Die Schranktür stand leicht offen und der dunkle Spalt starrte mich irgendwie bösartig an. Gab es bösartige Schranktürspalte? Ich hatte nicht vor, es herauszufinden. Nicht, dass der Schrank mir noch irgendwelche Gliedmaßen abbiss.
Noch immer hing ein rostiger Blutgeruch in der Luft. Ich wusste, dass er von dem dunklen Fleck in der Mitte des Raums herrührte, den ich mehr roch, als dass ich ihn sah – an der Stelle, wo Stefan gestorben war, dachte ich mit einem mulmigen Gefühl in der Magengegend. Schnell wandte ich meinen Blick ab. Verdrängung war wieder angesagt, wenn ich keine Wiederholung meines wenig glorreichen Abgangs Richtung Boden hinlegen wollte.
Die Vorhänge waren zugezogen, wahrscheinlich, damit niemand hineinschauen konnte und den Blutfleck sah. Ich schnaubte sarkastisch. Als ob sich irgendein lebensmüder Wanderer überhaupt in diese Einöde verirren würde! Aber Vorsicht war vermutlich besser als Nachsicht.
Irgendwo hinter den Vorhängen summte eine Fliege und knallte immer wieder gegen das Glas. Die Vorhänge schlossen das dunstige Dämmerlicht der untergehenden Sonne aus; die stehende, stickige Hitze hielten sie jedoch gefangen. Nur von der geöffneten Eingangstür, die direkt in den erstaunlich ordentlichen Vorgarten führte, wehte eine leichte Brise herein und strich über meine schweißverklebte Haut. Es war bei weitem keine ausreichende Abkühlung.
Ich strich mir eine feuchte Strähne meines matt-bräunlichen Haars von der überhitzten hohen Stirn zurück und verspürte plötzlich einen beinahe schmerzhaften Durst. Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal etwas getrunken hatte, und meine Kehle fühlte sich rau und ausgetrocknet an. Wo steckte Anton mit den Wasservorräten, wenn man ihn mal brauchte? Ich drehte mich um meine eigene Achse. Der Raum hatte drei Türen: die eine führte nach draußen und ich hörte dahinter die gedämpften Stimmen meiner Kameraden und ihr emsiges Wühlen in der Erde (und ich wollte gar nicht wissen, worin sie noch wühlen mussten). Die zweite und dritte waren beide links von mir, jedoch stand nur eine von ihnen offen. In der anderen steckte eine umgedrehter Schlüssel, sie schien verschlossen zu sein.
Ich erinnerte mich, wie das Haus von außen ausgesehen hatte, als wir, neun Jugendliche, uns angepirscht hatten: Niedrig und geduckt wie ein ängstlicher, alter Buckliger hatte es zwischen den leicht geschwungenen, staubtrockenen Hügeln gehockt, das Strohdach reichte fast bis zur Erde. Vermutlich hatte Tobias recht, es würde wirklich nicht allzu schwer sein, in diesem Mausloch den guten Anton zu finden. Hoffentlich hatte er bereits eine Stelle in dem Haus ausfindig gemacht, wo er unsere Wasservorräte aufstocken konnte. Ich hoffte es sehr, denn er war normalerweise immer extrem sparsam mit dem erfrischenden Nass.
Wobei ich des öfteren das Gefühl hatte, dass er nur mich so kurz hielt. Aus irgendeinem Grund konnte Anton mich nicht leiden, und mein kleiner Ohnmachtsanfall hatte mich bestimmt in seiner Gunst nicht höher gestellt. Alter Miesepeter. Aber letztendlich konnte er mich ja nicht verdursten lassen. Und vielleicht würde er auch in Zukunft etwas großzügiger mit dem Wasser sein, wenn ich ihm weismachte, dass ich nicht wegen des Anblicks von Stefans Blut, sondern aufgrund meines Flüssigkeitsmangels umgekippt war. Einen Versuch war es wert.
Ich straffte meine Schultern und machte auf noch etwas unsicheren Beinen einen Schritt auf die geöffnete Tür zu. Gerade wollte ich sie aufstoßen, als über mir plötzlich ein lautes Krachen die Decke beben ließ, gefolgt von dem Schrei eines Mädchens.


1.1 Nebula


Mein unruhig klopfendes Herz war das lauteste Geräusch in der Stille der Nacht. Die Absätze meiner schwarzen Lederpumps hallten in der menschenleeren Straße wider. Ich gab mir Mühe, mich nicht ständig umzuschauen, ob ich verfolgt wurde, aber es war echt schwer, auch nach all dieser Zeit. Bei jedem kleinen Geräusch zuckte ich zusammen und jeder eisige Luftzug richtete die Härchen auf meinem Nacken auf. Eigentlich sollte ich mich wirklich inzwischen daran gewöhnt haben. Ich sollte nicht so eine dumme Angst empfinden, nicht bei einer solchen Routinesache. Aber es war mein Kopf, der das sagte, nicht mein Unterbewusstsein. Ich war und blieb eben ein Angsthase, egal, wie viel Routine ich nun hatte.
Meine Hände waren kalt und schwitzig, obwohl ich sie in die Taschen meines knielangen, schwarzen Mantels gesteckt hatte. Nervös tastete ich mit der rechten Hand immer wieder nach dem kühlen kleinen Glasfläschchen, das hier in der weiten Tasche steckte, verborgen in meiner Handfläche. Es war winzig, aber das Wertvollste, was ich im Moment besaß. Ich verdiente nicht viel in meinem Job und hatte bald alle Familienerbstücke verkauft, um mir regelmäßig ein Fläschchen Somnium leisten zu können. Was aus mir wurde, wenn die wertvollen Stücke alle verkauft waren, daran wollte ich gar nicht denken. Und auch daran, was passieren würde, sollte ich doch einmal von der Ordnungs-Einheit erwischt werden oder mein Somnium verlieren, daran wollte ich erst recht nicht denken. Ich war noch nie erwischt worden.
Ich bog in eine dunkle Seitengasse ein, die nur von ein paar dunstig glimmenden, ölig gelben Straßenlaternen spärlich beleuchtet wurde. Eine von ihnen flackerte und warf zuckende Schatten an die dreckige Häuserwand, die an meinen sowieso schon angespannten Nerven zerrten. Ich zuckte leicht zusammen, als eine Ratte über das Kopfsteinpflaster huschte und wieder in der Dunkelheit verschwand.
Wer nicht gesehen werden wollte, musste einfach vorsichtig sein. Am besten unsichtbar. Und das funktionierte am besten, wenn man sich nachts, dunkel gekleidet, durch die Seitenstraßen schlich – eben genauso wie die Ratten. Vielleicht war ich doch kein Angsthase, sondern eine Angstratte – ständig voller Furcht vor den Katzen. Ich hatte inzwischen Übung darin, mich praktisch unsichtbar zu machen und wusste die besten Wege, hatte meine Standard-Routen. Dennoch kroch jedes Mal die Angst wieder in mir hoch. Sie würde wohl nie ganz verschwinden. Vielleicht war das auch ganz gut so. Wer keine Angst hatte, machte schnell mal einen Flüchtigkeitsfehler. Und Fehler durfte ich mir nicht erlauben.
Als ich endlich zuhause ankam, hatte ein leichter Nieselregen begonnen, der mir auf den Kopf tröpfelte und meine hüftlangen, glatten schwarzen Haare durchnässte. Wie jedes Mal, wenn der Regen mich überraschte, nahm ich mir vor, den löchrigen alten Schirm zu reparieren, der seit Monaten in einer dunklen Ecke meiner Wohnung darauf wartete. Ich war vollkommen durchgefroren. Plötzlich hörte ich ein leises Rascheln hinter mir, wie Papier und verdammt nah. Mein Herz stockte und ich wirbelte erschrocken herum. Die Straße war leer. Erleichtert ließ ich meinen angehaltenen Atem wieder entweichen und versuchte, meinen verkrampften Griff um das Somnium-Fläschchen zu lösen, während mein Herz hektisch gegen meine Rippen hämmerte.
Was das Geräusch ausgelöst hatte, war eine Zeitung, die auf der gegenüberliegenden Straßenseite aus einer Toreinfahrt herausflatterte, welche mich wie ein dunkles, aufgerissenes Maul angähnte. Was für eine unhöfliche Toreinfahrt. Ich erkannte die Zeitung sofort: Es war die Verbotene Zeitung, die man am besten nicht länger als zwei Sekunden anschaute, weil man dafür schon verhaftet werden konnte und in irgendeinem ungemütlichen dunklen Loch landete. Davon gab es in dieser Stadt genug. Kurz zauderte ich, eigentlich wollte ich nicht das Risiko eingehen, dabei gesehen zu werden, wie ich die Zeitung mitnahm. Aber andererseits... Ich sah, wie die Buchstaben auf dem Titelblatt bereits begannen, mit dem Regen zu verschwimmen. In kleinen Bächen floss die Tinte über die Straße, bis der Strom in einem übelriechenden Gulli endete. Flüchtig schaute ich mich noch einmal um, doch ich war allein und alle umliegenden Fenster waren entweder zerschlagen und unbewohnt, einfach dunkel, oder hatten zugezogene Vorhänge. Mit wenigen Schritten war ich bei der Zeitung, hob das feuchte Papier auf und schüttelte ein paar Regentropfen davon ab. Es war ein sinnloser Versuch, sie zu trocknen, aber zum Glück war sie noch nicht allzu durchnässt.
Mit tauben Fingern, die sowohl vom Adrenalin, als auch von der Kälte zitterten, zog ich mein Schlüsselbund hervor und machte mich daran, die rostige Tür zu meiner heruntergekommenen Wohnung aufzuschließen. Mit einem beinah menschlichen Seufzen schwang die Tür schließlich auf und mir schlug abgestandene Luft entgegen, die genauso kalt war wie draußen. Ich imitierte das Seufzen von der Tür. Was würde ich jetzt für eine Heizung tun, oder wenigstens einen warmen Tee! Doch solcher Luxus war mir leider verwehrt, seit ich meine Strom- und Gaskosten nicht mehr bezahlen konnte. Ich drückte fest die kleine Flasche in meiner Hand. Aber das war es wert. Somnium war das alles wert.


1.2 Eric


Erschrocken schaute ich zur Decke auf, von deren dunkel gemusterter Tapete zwar etwas Schimmel herunterrieselte, die aber zum Glück keine Anstalten machte, über mir zusammen zu brechen. Auf den Schrei folgten Gepolter und Stimmen, die durcheinander riefen, doch ich verstand kein Wort.
Kurzentschlossen rannte ich durch die offen stehende Tür. Fast hätte ich mich auf die Schnauze gelegt, als in der Dunkelheit dahinter direkt eine steile Holztreppe begann, an der ich mir ziemlich unheldenhaft die Zehen stieß. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, stolperte ich nach oben, von wo der ganze Lärm nach unten drang. Durch eine Bodenluke tauchte ich auf einem sehr kleinen und niedrigen Dachboden auf, der mehr schlecht als recht von dem dunkelroten Licht erhellt wurde, welches durch ein paar winzige, dreckverkrustete Dachlukenfenster sickerte.
„Eric, pass auf!“
Geistesgegenwärtig ruckte mein Kopf herum und ich konnte gerade noch rechtzeitig schützend die Arme hochreißen, bevor ein ziemlich großes Etwas gegen mich krachte. Ich verlor das Gleichgewicht auf der steilen Treppe und polterte mit dem Etwas, das ziemlich schwer und übelriechend war, Stufe um Stufe wieder hinab. Na toll, die ganze Kletterei umsonst. Nachdem wir mit einem dumpfen Umpf! und auf eine nicht gerade knochenschonende Weise unten angekommen waren, krallte ich mich instinktiv an dem zappelnden Irgendwas fest, das mit Händen, Füßen, Zähnen und wüsten Beschimpfungen versuchte, sich von mir los zu reißen. Erfolglos, denn ich war nicht gerade der Schwächste und hatte, wenn es darauf ankam, einen Klammergriff wie eine Affenmutter. Im nächsten Moment waren schon viele helfende Hände, trappelnde Schritte und aufgeregte Stimmen bei mir, die mir meine Last wieder abnahmen.
„Eric, geht’s dir gut?“
Zum zweiten Mal schauten besorgte Gesichter auf mich hinab und mir wurde von tausend Händen gleichzeitig wieder auf die Beine geholfen. „Ich weiß nicht, ich denke schon...“, sagte ich etwas durcheinander. Das Ganze war so schnell gegangen, dass ich mir wirklich nicht sicher war, ob es mir gut ging. Selbst mein Körper schien zu überrascht, um irgendeinen Schmerz zu spüren, dabei mussten mir doch nach diesem Poltersturz sämtliche Knochen wehtun. Oder hatte ich einen kleinen Gehirnschaden davongetragen und spürte nun gar keinen Schmerz mehr? Das wäre schon ziemlich cool.
Erst, als das lautstarke und sehr wortreiche Fluchen abrupt abbrach, wurde ich wieder auf dessen Ursprung aufmerksam. Sofort stieg erneut die Mordlust wie bittere Galle in mir hoch. Es war der verdammte Kerl, der Stefan eiskalt erschossen hatte. Cecilia hielt ihm die Arme hinter dem Rücken fest und hatte ihm einen schmuddeligen Stofflappen in den Mund gestopft, damit er mit dem Gefluche aufhörte. Er hatte ein paar violette Prellungen im Gesicht, die schnell anschwollen, und aus seiner breiten Nase rann ein bisschen Blut. Meinen Blick erwiderte er jedoch ohne das kleinste Bisschen Reue, nein, eher mit einem äußerst hässlichen Gemisch aus Zorn und Angst.
Ich war kurz davor, mich mit einem Knurren auf ihn zu stürzen, als plötzlich ein kantiges Gesicht mit schlechten Zähnen in meinem Blickfeld war. „Was ist denn hier schon wieder los? Eric, hast du wieder Ärger gemacht?“, beschwerte sich Tobias mit der Strenge eines großen Bruders, hinter der er seine Besorgnis verbarg. An seinen Händen klebte dunkler Staub. Er wischte sie notdürftig an seiner ehemals schwarzen, jetzt aber eher grauen Jeans ab, bevor er meine Stirn betastete. Ich zuckte zusammen. Autsch! Allmählich machten sich an meinem ganzen Körper die Prellungen bemerkbar.
„Mann, du siehst aus, als wärst du die Treppe runtergefallen“, murmelte Tobias stirnrunzelnd.
„Er IST die Treppe runtergefallen“, stellte eine Stimme hinter ihm fest. Es war Anton, der endlich auf der Treppe auftauchte. Ohne mich weiter zu beachten, warf er dem Mann, der mich als Sturzdämpfer missbraucht hatte, einen düsteren Blick zu und fuchtelte mit den Armen herum. „Cecilia, Tobias, bringt unseren Gefangenen wieder nach oben. Und passt auf, dass ihr ihn diesmal richtig fesselt und er sich nicht wieder losmachen kann.“
„Verstanden“, sagte Cecilia sofort und ich hätte mich nicht gewundert, wenn sie salutiert hätte. Mit ihrer stämmigen Statur, den dominanten Augenbrauen und dem markanten Kinn sah sie zwar nicht gerade wie ein Mädchen aus, das sich viel sagen ließ (und meistens stimmte dies auch), doch auf Anton hörte sie ohne Widerworte, wie ein gut dressiertes Hündchen. Es war mir ein Rätsel, wie er das schaffte. Sie packte den „Gefangenen“ so fest am Arm, dass er schmerzlich zusammenzuckte, und ich empfand dabei eine gute Portion Schadenfreude.
„Eric, du könntest Cecilia auch gerne mal helfen“, fuhr Anton fort. „Und danach werde ich mal nach draußen gehen und kontrollieren, wie weit Hanna und Paul mit dem Begräbnis sind. Kümmert euch auch alle ein bisschen um Helena, solange ich weg bin, okay? Sie ist mit Lisa unten in der Küche. Tobias, du übernimmst heute wie besprochen die Nachtwache.“
Oh ja, Anton spielte gern den Boss. Ich verdrehte die Augen. Tobias kniff jedoch nur missbilligend die Lippen zusammen und musterte mich noch einmal prüfend von oben bis oben, bevor er sich mit erzwungener Beherrschung und einem kalten Lächeln zu unserem „Chef“ Anton umdrehte. „Ich glaube nicht, dass Eric schon wieder in der richtigen Verfassung ist, so ein widerspenstiges Nilpferd wie den da die Treppe hoch zu schleifen. Ich glaube, es wäre besser, wenn du ihm erstmal was zu Trinken geben würdest, zur Feier des Tages.“
Antons Gesicht blieb absolut regungslos, nur in einem Augenwinkel seiner kleinen, glasigen Schweinsäuglein zuckte ein Nerv. „Trinken gibt’s genug in der Küche. Essen ebenso. Das kann er sich ja hoffentlich noch selbst holen, oder?“ Hämisch grinste er mich an. Sein breiter Mund erinnerte mich wie immer an einen Frosch. Einen äußerst fiesen Frosch.
„Ja, keine Sorge, das schaffe ich noch gerade so“, knurrte ich und warf Tobias einen vielsagenden Blick zu. Er meinte es ja gut mit mir, aber... manchmal meinte er es einfach ZU gut mit seiner Fürsorge. Ich war ja nicht mehr so ein kleines Kind wie Helena, das ständig umsorgt werden musste. Wobei das ein schlechter Vergleich war, denn Helena war zwar ein kleines Kind, aber sie war unglaublich selbstständig – was Anton allerdings anders sah und ständig verlangte, dass sich jemand um sie kümmerte.
Geschlagen hob Tobias die Hände. „Na gut“, sagte er kurz angebunden, „Dann versorg dich selbst, Kumpel. Vorwärts jetzt, Nilpferd.“ Er gab dem Mann, den ich mir gar nicht mit einem anderen Gesichtsausdruck als grimmig und / oder verängstigt vorstellen konnte, einen nicht gerade sanften Schubs. Dann stießen Tobias und Cecilia ihn die Treppe hinauf, immer Anton hinterher, der mich keines Blickes mehr würdigte.
Skeptisch schaute ich ihnen hinterher, jeden Moment damit rechnend, dass der Mann wieder versuchen würde, sich loszureißen. In dem Fall wäre die Wahrscheinlichkeit wohl ziemlich hoch, dass er mit den Jugendlichen wieder die Treppen hinabstürzen würde. Kein Wunder, dass Anton vorne ging, er wollte ganz sicher nicht so wie ich als Sturzdämpfer enden.
Und da auch ich fand, dass ich mir für heute genug Prellungen eingefangen hatte, trat ich schnell wieder durch die niedrige Tür zurück in das Wohnzimmer. Meine Augen hatten sich inzwischen so sehr an die Dunkelheit gewöhnt, dass mir das Zimmer geradezu hell erschien. Die mit Gardinen verhangenen Fenster glommen leicht, wie schlecht abgedichtete Hochöfen. Die bemitleidenswerte Fliege surrte immer noch unaufhörlich gegen das Glas dahinter. Wenn ich mich nicht irrte, klang sie schon etwas verzweifelter als zuvor. Ich nahm mir ein Herz, ging zu dem Fenster und öffnete es für das arme Vieh.
„Hab ich das richtig gehört? Du bist die Treppe runtergefallen?“
Ich schaute zur Eingangstür, wo im Türrahmen ein ziemlich staubiger, ziemlich schadenfroh grienender Paul lehnte und sich mit stampfenden Schritten die bloßen Fußsohlen abstaubte. Ich glaubte, sogar an seinen perfekt geraden Zähnen Staub zu sehen, und als er sich mit einer Hand die Haare durchschüttelte, wirbelte er eine Staubwolke auf. Mit seiner schlanken, großen Statur, dem schmal geschnittenen Gesicht und den mattbraunen (okay, im Moment eher grauen) Haaren, die ihm glatt in die Stirn fielen, sah er ungefähr aus wie eine perfektionierte Version von meiner Wenigkeit. Und eine deutlich dümmere Version.
Ich wollte zurückschnappen, überlegte es mir dann aber anders. Es war nie gut, Paul auf die Palme zu bringen. Und er ließ sich sehr schnell auf die Palme bringen. Ich hatte keine Lust, dass Tobias mich heute noch ein drittes Mal „retten“ musste. „Ja“, antwortete ich daher zähneknirschend, „Weißt du zufällig, wo die Küche ist?“
Paul prustete los. „Ernsthaft? Was ist passiert? Bist du auf deinem Arsch gelandet? Oder auf der Fresse?“ Er lachte laut bei der Vorstellung, und ich musste mich stark zusammenreißen, um nicht wieder die Augen zu verdrehen. Paul lachte definitiv zu viel. Okay, Berichtigung: Er lachte zu viel auf Kosten anderer Leute. Und das wäre ja nur halb so schlimm gewesen, wenn es wenigstens nicht so hohl klingen würde, so, als ob er selbst gar keinen Spaß daran hätte. Warum tat er es dann überhaupt? Nur um andere zu nerven?
„Ach komm, Paul, lass Eric doch mal.“ Eine blasse, zarte Hand schob sich zwischen den Jungen und den Türrahmen. Ohne zu protestieren, ließ Paul sich von seiner Schwester Hanna zur Seite schieben, die er um mehr als einen Kopf überragte. Sie war von uns allen die Einzige, auf die er hörte. Was Cecilia für Anton war, war Paul für Hanna: Ein folgsames Hündchen. Ich glaube, wenn sie nicht wäre, hätten wir Paul schon längst aus der Gruppe rausgekickt. Er war einfach zu unberechenbar, zu aufbrausend – zu gefährlich. Doch aus irgendeinem mysteriösen Grund liebte Hanna ihren Bruder über alles. Blut war wohl wirklich dicker als Wasser. Ich konnte sie dafür nur bewundern.
Sie lächelte mich an, und in ihren hellen Augen lag so viel Mitgefühl, wie ich es sonst nur von Tobias kannte. „Aber mit einem hat Paul schon recht: Die siehst wirklich ganz schön fertig aus.“ Sie strich sich eine helle Haarsträhne aus der Stirn und klopfte sich etwas staubtrockene Erde von der zerrissenen Bluejeans-Shorts, bevor sie in ihren viel zu großen Sneakers den Raum betrat. Es waren eigentlich Pauls Schuhe, doch der hatte sie ihr überlassen, nachdem sie ihre eigenen Schuhe auf unserer Flucht verloren hatte.
„Ja, ich bin eigentlich nur die Treppe hoch, weil da oben so ein Radau war“, begann ich nun doch, zu erklären, und gestikulierte in Richtung der steilen Treppe, die mir zum Verhängnis wurde, „Aber oben hatte sich wohl dieser... dieser Kerl losgerissen und wollte runter, also hat er mich so ziemlich die Treppe runtergerissen.“ Ich zuckte hilflos mit den Schultern. Pauls Mundwinkel zuckten, doch er heftete seinen Blick schnell auf seine Schwester und verkniff sich einen erneuten Lachanfall.
„Du Armer“, sagte Hanna und stellte sich etwas dichter vor mich, sodass sie zu mir aufschauen musste. Paul folgte ihr wie ein Wachhund. Die Art, wie er abwechselnd mir Todesblicke und seiner Schwester zärtliche Blicke zuwarf, war fast schon lustig. „Aber du scheinst ja okay zu sein. Und immerhin hast du den Kerl von der Flucht abgehalten. Wenn auch auf eine etwas unkonventionelle Weise.“ Hanna lächelte mir aufmunternd zu. Dann nickte sie zu der zweiten Tür des Raums, die ich vorher für verschlossen gehalten hatte. „Dahinter soll übrigens der Flur sein, und auch die Küche. Die suchst du doch, oder?“
„Richtig.“
„Dann gehen wir doch zusammen, ich hab auch ziemlich Hunger. Und Durst.“
Wie auf Kommando sprang Paul vor und öffnete die Tür etwas zu schwungvoll, sodass sie gegen die Wand knallte. Er hielt sie für seine Schwester offen und folgte, wobei er sie hinter sich sofort wieder zuknallte, ohne mich noch eines Blickes zu würdigen. Murrend öffnete ich die Tür ein zweites Mal. Ich verstand echt nicht, was Paul gegen mich hatte. Aber wahrscheinlich hätte es mich eher wundern sollen, wenn Paul nichts gegen mich hätte. Denn Paul hatte gegen jeden irgendetwas.
Ich hatte nur wenige Schritte in den Flur getan, als mir ein penetranter, beißender Brandgeruch in die Nase stieg.
Sofort schrillten bei mir alle Alarmglocken.


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BeitragThema: 1. Willkommen in Namenlos (Teil 2)   Die Stadt Namenlos EmptyDi Aug 20, 2013 12:17 am

Woah der Beitrag war zu groß, das ist mir ja noch nie passiert Shocked 




1.3 Ash


Als ich an diesem Morgen aufwachte, waren all meine Erinnerungen fort. Ich erwachte beinah ruckartig aus einem sehr langen und tiefen Schlaf, und dass etwas anders war als sonst, das spürte ich sofort. Ich konnte es nur nicht genau definieren. Irgendwie fühlte ich mich... naja, anders eben, mein Kopf war wunderbar leer und leicht, es war ungewöhnlich angenehm. Falls ich geträumt hatte, konnte ich mich auch an die Einzelheiten der Träume nicht mehr erinnern. Grau waren sie auf jeden Fall gewesen, farblos und kalt.
Ich öffnete die Augen.
Also genauso wie die Realität, stellte ich trocken fest. Ich fand mich in einem steril weißen, aber trotzdem irgendwie düsteren Zimmer wieder. Das einzige Möbelstück in dem kahlen, kleinen Raum mit der hohen Decke war das unverhältnismäßig große Bett direkt in der Mitte, in dem ich lag. Ich zitterte unter der dünnen Decke, mein Körper fühlte sich vor Kälte steif an.
Irgendwie kam mir diese ganze Situation sehr bekannt vor, als hätte ich sie schon tausendmal in meinem Leben erlebt. Wie ein Déjà-Vu, nur schlimmer. Stimmte es dann vielleicht, war es mehr als ein Déjà-Vu? Hatte ich diese Situation wirklich schon tausendmal erlebt, war es eine Erinnerung? Wenn ja, dann hatte ich wohl ein ziemlich beschissenes Leben. Ich runzelte verwirrt die Stirn.
Mein Leben.
Warum zum Teufel konnte ich mich an nichts erinnern? Absolut gar nichts? Leichte Panik kroch in mir hoch, die aber schnell wieder abebbte. Irgendwie war es ja auch spannend. Wer war ich wohl? Vielleicht ein reicher Prinz in einem skurrilen Eisschloss? Ich grinste bei der Vorstellung. Nach der Größe und dem Luxus des Bettes zu urteilen, das sich wie eine kühle, aber weiche Wolke unter mir und um mich bauschte, wäre es gar nicht mal so abwegig. Nur die Bettdecke war ein bisschen zu dünn für einen Prinzen. Ich wandte meinen Kopf nach rechts und links, doch leider lag neben mir auch keine schöne, schlafende Eisprinzessin. Ich war allein. Schade.
Mit einem tiefen, lautlosen Seufzen streckte ich mich wie ein aus dem Winterschlaf erwachtes Murmeltier, wobei meine steif gefrorenen Gelenke knackten. Selbst so lang ausgestreckt reichten meine Beine nicht zum anderen Bettende. Beeindruckend. Ich wandte meinen Blick wieder nach oben, und jetzt, wo ich etwas wacher war, sah ich plötzlich, dass jemand mit einem schwarzen Edding Worte an die hohe Decke gekritzelt hatte. Die Buchstaben standen sorgfältig in einer Reihe, doch irgendwie wirkte die symmetrische Ordnung erzwungen, wie Zähne nach einer Zahnspangen-Behandlung. Sie waren leicht ineinander verschlungen und es kam wie ein Schock, als ich erkannte, dass es meine Schrift war.
Ich kniff leicht die Augen zusammen. Was ich da an die Decke gekritzelt hatte, interessierte mich jetzt aber mal. Die Buchstaben waren verdammt klein, schon verblichen und daher ziemlich schwer zu entziffern. Ich bewegte lautlos meine Lippen mit, als ich langsam las: Willkommen in der Stadt Namenlos. Oder besser gesagt: Willkommen zurück. Auf ein Neues. Auch dieser Tag geht irgendwann vorbei, versprochen.
Verwirrt kratzte ich mich am Kopf, wo meine Haare vom Schlaf zerzaust abstanden wie bei einem Rosetten-Meerschweinchen. Da hatte ich wohl eine sehr depressive Phase gehabt, als ich diese Worte geschrieben hatte. Aber immerhin wusste ich jetzt schon einmal, wo ich mich befand: In der Stadt Namenlos. Falls das überhaupt eine richtige Stadt war und keine ach so poetische neue Wortschöpfung. Ich meine, was war das schon für ein unkreativer Name: Namenlos?! Vielleicht hielt ich mich ja für einen Möchtegern-Dichter. Wer weiß?
Auf jeden Fall klingelte bei dem Begriff „die Stadt Namenlos“ etwas in meinem Kopf, und auch die Formulierungen kamen mir irgendwie bekannt vor. Wie aus einem vergessenen Traum, an den man durch irgendein kleines Detail nach Jahren plötzlich wieder erinnert wird. Ja, genau so fühlte es sich an. Apropos Traum: Wie lange hatte ich eigentlich geschlafen, dass ich mein ganzes bisheriges Leben einfach vergessen hatte?
Aber Moment; wer sagte eigentlich, dass ich jetzt gerade nicht auch träumte? Vielleicht war all dies nur ein sehr verwirrender Traum! Jetzt, wo ich so darüber nachdachte, war ich mir dessen gar nicht mehr so sicher. Ich schloss probeweise die Augen. Das bedeutete dann wohl, dass ich nur lange genug warten musste, damit ich irgendwann wieder aufwachte. Oder ich würde hier einfach verhungern.
Irgendwann hielt es mich jedoch nicht mehr im Bett. Je länger ich hier reglos lag und versuchte, wieder einzuschlafen – oder aufzuwachen – umso kribbeliger fühlte ich mich. Und bevor mich der Hunger irgendwann umbrachte, würden es mit Sicherheit die Langeweile und Neugierde tun. Darauf konnte ich gut verzichten.
Ich schwang meine Beine aus dem Bett. Sie waren ganz schön knochig und farblos, stellte ich fest, aber aus irgendeinem Grund hielt sich mein Schock darüber in Grenzen. Die sahen wohl immer so aus. Na, großartig. Barfuß tapste ich über die glatten grauen Fliesen ans Fenster. Draußen regnete es, ein ekelhafter Nieselregen, der lange, farblose Spinnenfäden vom Himmel zur Erde wob. Irgendwie war draußen alles grau in grau. Hoffentlich war das hier nicht immer so ein Wetter.
Ich seufzte leicht und mein Atem hinterließ einen kleinen beschlagenen Fleck an der Fensterscheibe, der sich langsam wieder auflöste. Ich malte mit dem Finger ein großes Fragezeichen hinein. Ich wünschte, ich könnte mich noch an mein Leben vor dem Einschlafen erinnern, doch es wollte mir beim besten Willen nicht gelingen. Einfach weg. Irgendetwas musste doch dagewesen sein, Irgendetwas musste in meinem Leben doch passiert sein, das in meinem dummen Kopf hängen geblieben war! Doch so sehr ich auch nachgrübelte, da waren nur nichtssagende Schatten in meinem Hirn, die ineinander verschwammen. Immer dann, wenn ich glaubte, eine Erinnerung zu fassen zu kriegen, entwischte sie mir wieder und verschwand im trüben Wasser, in dem ich buchstäblich fischte. Was war los mit meinem Erinnerungsvermögen? Hatte ich irgendwelche Drogen genommen? Oder war ich schon dement?!
Mit wachsender Unzufriedenheit stieß ich mich von dem Edelstahl-Fensterbrett ab, auf dem übrigens nur eine sehr dünne Staubschicht lag – allzu lange konnte ich also nicht gepennt haben – , und durchquerte mein Schlafzimmer. Ich hatte inzwischen kalte Füße, machte mir aber nicht die Mühe, die dunkelgrauen Hausschuhe anzuziehen, die am Fuße des Bettes standen. Erst im Nachhinein fiel mir mein Verhalten auf und ich blieb verdutzt in der Schlafzimmertür stehen, um zu den Schuhen zurück zu schauen. Irgendetwas sagte mir, dass Frieren für mich nichts Neues war. Normalzustand eben. Aber das musste ja jetzt nicht so bleiben, entschied ich und ging zurück zum Bett, um die Hausschuhe anzuziehen. Ich wollte nicht riskieren, mir in dieser Wohnung aka Kühlschrank eine Erkältung einzufangen. Hatte ich eigentlich gar keine Heizung?! Als ich in die äußerst unmännlichen Filz-Puschen schlüpfte, stellte ich überrascht fest, dass sie mir perfekt passten – und hätte mich in der nächsten Sekunde am liebsten für diesen dummen Gedanken geohrfeigt. Natürlich passten sie mir perfekt, es waren schließlich MEINE Schuhe!
Kopfschüttelnd über meine eigene Zerstreutheit betrat ich den Flur, der noch kälter als das Schlafzimmer war und eine noch höhere Decke hatte. Fröstelnd schlang ich die Arme um mich. Auf der Suche nach einer gottverdammten Heizung tappte ich über den kalten, glatten Granitboden bis in ein Spiegelzimmer. Hier hingen an allen vier Wänden mehrere unterschiedliche Spiegel, die wohl das wenige Licht reflektieren sollten, welches tagsüber durch ein kleines Fenster sickerte. So wirkte das Zimmer wenigstens ein bisschen heller als die anderen. Gar nicht mal so dumm. In der Mitte des Zimmers lag eine ziemlich flache, mottenzerfressene, schmale Matratze. Meine Hoffnung, ein reicher Prinz zu sein, der einfach einen hundertjährigen Schönheitsschlaf im Dornröschen-Stil gehalten hatte, sank beim Anblick dieser bemitleidenswerten Matte auf den Nullpunkt.
Zögerlich trat ich vor einen der Spiegel und hob langsam den Kopf, um mein Spiegelbild in Augenschein zu nehmen. Wenn ich nun jahrzehntelang im Tiefschlaf gelegen hatte und ein alter Mann geworden war...? Im Prinzip wusste ich doch gar nichts (mehr) über mich selbst, nicht mein Alter, nicht mein Aussehen, nichts über meine Vergangenheit. Null.
Als ich mir ein Herz nahm, mit einem Ruck den Kopf hob und in die Augen meines gespiegelten Abbilds blickte, lief mir ein leichter Schauer über den Rücken.
Meine Haut war hell und fahl, meine Haare von einem sehr dunklen, gräulichen Braun, beinah Schwarz, und standen buschig in alle Richtungen ab. Sehr lang waren sie aber nicht, ich schien also nicht allzu lange geschlafen zu haben. Ich gab eine ziemlich blutleere Erscheinung ab, sogar meine Lippen waren blass. Und aus all dieser Farblosigkeit stachen meine smaragdgrünen Augen wie leuchtende Neonsterne hervor. Alle nur erdenklichen Grünschattierungen fanden sich darin wieder. Wirklich erstaunlich. Ich hätte echt gedacht, dass ich so intensiv grüne Augen hatte. Waren es vielleicht Kontaktlinsen? Probeweise grabschte ich mir ins Auge. Autsch! Ich schenkte meinem Spiegelbild ein gequältes Grinsen. Nein, das war keine Kontaktlinse.
Mein Grinsen verblasste. Eigentlich war meine Situation alles andere als lustig. Wer war ich? Und wer um alles in der Welt hatte meine Erinnerungen geklaut?! Okay, das Schlafzimmer und das Spiegelzimmer kamen mir zumindest bekannt vor. Ebenso der Name der Stadt Namenlos. Und auch mein Spiegelbild hatte ich schon mal irgendwo gesehen (was für ein Zufall).  Aber was wusste ich ansonsten noch?
Fragend blickte ich mein zweites Ich im Spiegel an, welches meinen auffordernden Blick jedoch nur schweigend erwiderte. Von diesem Freund konnte ich wohl keine Hilfe erwarten.

1.4 Eric

Hanna und ich tauschten nur einen Blick aus, dann stürzten wir vorwärts, Paul dicht an Hannas Seite. Der Gestank schien seinen Ursprung hinter der ersten Tür im Flur zu haben, die nur angelehnt war. Hanna wollte sie aufreißen, doch Paul drängte sie schützend hinter sich und öffnete an ihrer Stelle. Wie es aussah, hatten wir die Küche gefunden, und meine Augen tränten, als uns eine dicke Rauchwolke entgegenschlug. An dem kleinen, runden, grob aus Holz geschnitzten Küchentisch saßen in aller Ruhe Lisa und Helena, die uns mit großen, verdutzten Augen anschauten.
Synchron atmeten wir auf, wobei Hanna leicht husten musste, und die Anspannung fiel von unseren Schultern. „Was ist denn hier für ein Unfall passiert?“, fragte ich und drängte mich an Paul vorbei, um nach dem Ursprung für den Gestank zu suchen. Ich fand ihn im Backofen, wo ein undefinierbarer, noch leicht rauchender, verkohlter Haufen vor sich hin stank.
„Lisa hat gekocht“, erklärte die kleine Helena stolz, die Unschuld in Person, und löffelte eine milchig weiße, wässrige Suppe.
„Na ja, versucht, zu kochen“, murmelte die picklige Lisa in ihre Suppenschüssel und ließ sich ihr strähniges dunkles Haar vors Gesicht fallen.
„Riecht eher, als hättet ihr hier einem Pferd ein Brandzeichen verpasst“, fand Hanna. naserümpfend. Paul, der die Gefahr nun gebannt sah, machte ihr Platz, und sie ging schnurstracks zum Küchenfenster, um es so weit wie möglich aufzureißen. Es war ein kleines Fenster, dass sich dummerweise nur kippen ließ, und ich fürchtete, dass es noch Jahre dauern würde, bis dieser penetrante Rauchgeruch abgezogen war.
„Mehreren Pferden“, berichtigte ich Hanna. Wir grinsten einander kurz zu. Paul schaute angespannt zwischen uns hin und her, bereit, jederzeit zuzuschnappen. Herrgott, ich hatte nicht vor, seine Schwester aufzufressen!
Lisas Kopf hob sich mit einem Ruck. Feindselig musterte sie mich und Hanna. „Daran, dass der Braten angebrannt ist, ist der Ofen schuld! Und wenn ihr es besser könnt, dann macht euch doch selber was zu Essen!“ Oh nein, Lisa war schon wieder beleidigt. Aber das war bei ihr Normalzustand, darum fand wohl noch nicht mal Paul, dass es nötig war, mit ihr einen handfesten Streit anzufangen.
„Also, ich find's lecker“, murmelte Helena leise mit ihrem hohen Stimmchen, ohne den Blick von ihrer merkwürdigen Suppe abzuwenden.
„Na, wie auch immer. Was ist das denn für eine Suppe?“, fragte Hanna, während sie sich aus dem winzigen, altmodischen Küchenschrank drei Gläser nahm und an dem rostigen Wasserhahn der Spüle auffüllte. Zwei der Gläser verteilte sie an Paul und mich. Kurz streiften sich unsere Finger, als sie mir das kühle Wasserglas in die Hand drückte. Ihre Finger waren zart und erstaunlich warm.
Lisa schnaubte nur unwillig. „Wasser, Zucker, Mehl, Milch...“, leierte sie herunter. „Was halt gerade so da war.“
„Ist noch was übrig?“ Ich hob den Deckel von dem kleinen Metalltopf, der auf dem Herd stand. Mein Herz sank ein wenig, als ich sah, dass sich nur noch ein ziemlich kleiner Rest darin befand, und mein Magen rumpelte enttäuscht. Zwar klang die Suppe nicht besonders lecker, aber ich hätte bei meinem derzeitigen Hunger wohl so ziemlich alles gegessen. „Lisa...“, begann ich.
„Glaub ja nicht, dass du von mir was abbekommst“, brummelte sie mit einem giftigen Blick in meine Richtung und zog, willkürlich oder unwillkürlich, ihren Suppenteller näher zu sich. Ich stieß leicht genervt die Luft aus und stellte mein leeres Wasserglas ein wenig zu heftig auf der zerkratzten Arbeitsfläche neben dem Gasherd ab. „Ich wollte eigentlich nur fragen, ob denn überhaupt noch was von den Zutaten da ist. Oder irgendetwas anderes Essbares.“
Hanna nickte unterstützend. „Ja, das würde ich auch gerne wissen.“
Lisas Blick huschte skeptisch zwischen uns hin und her, dann zu ihrer Suppe und zu dem Backofen, bevor er auf einer sehr schmalen Tür zwischen dem Küchenschrank und dem Herd hängen blieb. Harsch nickte sie mit ihrem ungleichmäßig geröteten Kinn zu der Tür. „Da in der Vorratskammer müsste noch was sein“, murmelte sie, „Ist aber nicht mehr viel.“
„Nicht viel ist immer noch besser als nichts“, sagte Hanna optimistisch und zog die Tür auf. Plötzlich wurden ihre Augen ganz groß. „Was ist DAS denn?!“

1.5 Nebula


Farbe. Was war das schon? Etwas, das vor langer Zeit einmal existiert hatte? Blödsinn. Farbe existierte nur in den Träumen. In den vergifteten Träumen, um konkret zu sein. Vergiftet. Wie negativ das klang! Dabei war doch süßes Gift die einzige Freude am Leben. Oder auch Somnium, wie es von denen genannt wurde, die es illegal konsumierten. Zwar war dies streng verboten, doch was hatte man schon zu verlieren? Den Arbeitsplatz? Dass ich nicht lache. Die Freiheit? War hier ein Fremdwort. Die Würde? Hatte schon bessere Witze gehört.
Okay, ich gab es ja zu: Ich war somnium-süchtig. Und dazu noch ziemlich pessimistisch und zynisch, vor allem, wenn ich wie jetzt in dem Rattenloch einer Wohnung hockte und in irgendeine dunkle Ecke starrte. Hier waren alle Ecken dunkel, daher war die Auswahl groß. Meine Hände spielten mit dem kleinen Fläschchen Somnium, das selbst in der Dunkelheit wie ein Kristall glitzerte. Das süße Gift.
Aber egal. Scheiß auf die Sucht! Scheiß auf die höllischen Kopfschmerzen, die ich jedes Mal bekam, sobald die Wirkung verflogen war! Scheiß drauf, dass ich immer höhere Dosierungen brauchte, die ich mir nicht leisten konnte! Scheiß drauf, dass ich deshalb bald meine Miete nicht mehr würde bezahlen können! Mir doch egal! Mir ging es zumindest tausendmal besser als den reichen Pinkeln, die in ihren riesigen Villen hockten und irgendwann vor lauter Depressionen Selbstmord begingen. Zugegeben, Depressionen hatte ich auch, aber ich glaube, dass die jeder hier hatte. Besonders stark waren sie immer, sobald die Wirkung des Somniums verflogen war. Aber ich kam wenigstens in den regelmäßigen Genuss wirklicher Träume. Träume voller Farbe und Licht! Träume, die für ein paar Augenblicke Wärme und Geborgenheit schenkten! Träume, die mich vorerst vom Selbstmord abhielten!
Mit Betonung auf vorerst. Wenn ich richtig lag, war Selbstmord nämlich der einzige Weg, in einen ewigen Somniumrausch zu kommen. Doch wie gesagt, ich war mir nicht sicher. Wenn mir jemand dies bestätigen könnte (und wer sollte das tun?) würde ich keinen Augenblick zögern, mir eine Schlinge um den Hals zu legen. Doch was, wenn ich dann in die Hölle käme? Nun, viel schlimmer als Namenlos konnte es dort eh nicht sein. Aber Namenlos selbst war ja schon unerträglich; ich würde durchdrehen, wenn ich an einem Ort leben müsste, der auch nur um einen winzigen Tick schrecklicher war. Sofern das überhaupt ging. Das einzig Gute hier war, wie gesagt, das Somnium. Mein Reisepass nach Utopia, ins Land der Träume, in mein zweites Leben, welches mir oft lebendiger erschien als die Realtität. Manchmal fragte ich mich, woran man Realität überhaupt festlegen konnte. Vielleicht war Utopia die Wirklichkeit und dies der Albtraum.
Vielleicht war er Wirklichkeit und meine ständige Einsamkeit hier nur ein Albtraum. Ich musste unwillkürlich lächeln, als ich an ihn dachte. Den Einen. Meinen Traummann, im wahrsten Sinne des Wortes. Er war es mir wert, jeden Tag 23 Stunden in dieser verfluchten Stadt auszuharren, nur um täglich zweimal dreißig Minuten zu ihm zu entfliehen. Doch obwohl die Zeit im Somnium-Rausch länger erschien, war sie immer viel zu schnell vorüber. Es kam mir eher vor, als müsste ich jedes Mal Jahre darauf warten, um endlich für wenige Minuten mit ihm zusammen zu sein. Darum versuchte ich auch stets, die Zeit mit ihm so intensiv wie möglich zu genießen.
Und dies wiederum war auch der Grund, warum ich mir das Somnium inzwischen öfter direkt ins Blut spritzte, anstatt es zu schlucken. Klar wusste ich, dass dies viel schädlicher war. Na und? Würde ich eben früher sterben. Als ob mir das etwas ausmachen würde! Das Erlebnis war einfach intensiver.
Während ich meine Utensilien zusammensuchte, die ich für meine Traumreise brauchte, behielt ich das Somnium-Fläschchen ständig im Auge, als könnten ihm plötzlich Beine wachsen und es würde mir davonlaufen. Kurz fiel mein Blick auch auf das Gerippe, das sich zerschlissener Regenschirm schimpfte. Er lehnte in einer weiteren dunklen Ecke und starrte mich anklagend an. Ich wagte mich ja mit den erbärmlichsten Kleiderfetzen nach draußen, aber dieser Schirm war selbst mir inzwischen zu kaputt – zumal er eigentlich gar nicht mehr vor dem Regen schützte, sondern nur noch dazu beitrug, dass man noch erbärmlicher aussah, und das hatte ich nun wirklich nicht nötig. Wie der alte Schirm da so lehnte, war es echt ein trauriger Anblick, aber ich hatte für den Moment Wichtigeres zu tun, als mich um einen Schirm zu kümmern. Da konnte er auch noch so traurig gucken.
Kaum hatte die Nadel meine Haut durchstochen, spürte ich das kribbelnde Somnium in mein Blut fließen. Konturen um mich herum verschwanden, lösten sich auf wie Rauch im Wind und nahmen auch den dummen Schirm mit, der nicht nur aus meinem Blickfeld, sondern sofort auch aus meinen Gedanken verschwand. Ich driftete weg, weg von meinem deprimierenden Alltag, hinein ins Paradies. Er erwartete mich schon. Er lächelte, als er mich sah. Sein Lächeln war immer das Erste, was von ihm sichtbar wurde, wenn sich der wirbelnde, konturenlose Nebel um mich herum auflöste. Doch dieses kleine Lächeln reichte, dass mir sofort rundum warm wurde, nicht nur im Herzen; aber von dort ging die Wärme aus. Ich spürte wieder die starke Verbindung zwischen unseren Seelen, spürte die Anziehungskraft seines Wesens.
Ich wollte nach ihm greifen, jedoch war der Nebel noch nicht vollständig verschwunden. Ein aufmerksames, liebevolles, wunderbar lebendiges Paar himmelblauer Augen wurde sichtbar, sein Körper nahm Gestalt an. Er trug nur ein leichtes Hemd und eine Jeans, und plötzlich merkte ich, wie heiß es in meinen dicken Klamotten war. Ich warf den Kopf in den Nacken und ließ auch mein Gesicht von den Sonnenstrahlen wärmen. Was hieß Sonnenstrahlen – der ganze Himmel von Utopia leuchtete! Ich lachte laut und stieß einen Freundenschrei aus, während ich die Augen gegen die Helligkeit zusammenkniff. Wieso sollte ich mich hier zurückhalten, wieso mich verstellen? Wir waren ja nur zu zweit. Nur zu zweit... Jetzt sah ich auch, wo genau wir uns befanden: auf einer saftig grünen Wiese voller Blumen, die sich leicht im Wind wiegten, nahe an einem kleinen, azurblauen See, der im Sonnenlicht glitzerte wie flüssige Saphire. Kitschig? Für mich nicht. Ich hatte einen Kitschmangel und brauchte das alles im Überfluss. Eilig streifte ich meine abgetretenen schwarzen Lederpumps ab und lief dem jungen Mann entgegen, der vor einem alten Steg stand, welcher auf den funkelnden See hinausragte. Beim Laufen spürte ich das weiche, sonnengewärmte Gras unter meinen nackten Fußsohlen, ein Gefühl, welches so vertraut und so außergewöhnlich zugleich war.
„Hey“, begrüßte er mich sanft und kam ebenfalls auf mich zu. Dieses eine Wort genügte schon, um eine Welle tiefer Zuneigung in mir auszulösen. Wie ich seine Stimme liebte, diese tiefe, samtige Stimme! Und seine Haare – dunkelblond, voll, nicht zu kurz und nicht zu lang, als warteten sie nur darauf, verwuschelt zu werden. Ich ließ mich nicht lang bitten. Beinah ungestüm zog ich Eric dicht an mich, fuhr ihm durchs Haar und spürte seinen warmen Atem in meinem Gesicht. Er ließ ebenfalls die Finger durch mein Haar gleiten, bevor er mir sanft den Mantel von den Schultern streifte. Dann drückte er zärtlich seine Lippen auf meine, ich schloss die Augen und schlang meine Arme um seinen Nacken. Ich versank in ihm und er in mir, wir pressten unsere Körper fest aneinander. Am liebsten wären wir miteinander verschmolzen. Ich tastete unter sein offenes Hemd, fuhr mit den Fingerspitzen über seine glatte, warme Haut und spürte die Muskeln darunter. Dann zog er mir mein Shirt über den Kopf... Jetzt war mir alles egal... Das hier war pures Leben, und es kümmerte mich nicht, wenn andere es als „vergiftete Träume“ bezeichneten!

Geradezu brutal wurde ich nach abgelaufener Wirkung aus meinem Somnium-Rausch gerissen, als es gerade am schönsten war. Ich erwachte so plötzlich und endgültig, als hätte ich nie geschlafen, doch noch immer mit dem Gefühl seiner Haare zwischen meinen Fingern und mit dem Duft seiner warmen Haut in der Nase. Aber ohne ihn, ohne seinen warmen Blick, ohne die Anwesenheit seines Körpers oder Geistes halfen mir diese schnell abklingenden Gefühle auch nicht viel. Die graue Stadt Namenlos hatte mich wieder und zog mich in ihre kalte Umarmung, die jeden Funken Wärme, Liebe und Hoffnung erstickte. Ich seufzte tief und hoffte nur, dass die Zeit bis zur nächsten Somnium-Dosis schnell verstreichen möge.

1.6 Norman

Es war so erniedrigend. Ein besseres Wort gab es dafür gar nicht. Ich hielt den Kopf gesenkt und starrte auf meine dreckigen Schnürsenkel. Die Stimme von Herrn Oberfies, wie ich den einschüchternd großen und kräftigen Mann auf die Schnelle mal nannte, hallte von den kalten Steinwänden der Kellerzelle wider. „Hab ich das richtig verstanden? Der Bengel konnte nur deshalb nicht zusammen mit den anderen fliehen, weil er in der Mauerspalte stecken geblieben ist?“
„Ganz genau. Leider war er der Letzte der Truppe, sonst hätten wir vielleicht noch ein paar weitere Ausreißer erwischt.“ Das war die harte, emotionslose Stimme von Frau Mahlzahn. Oder wie auch immer die strenge, kompakte kleine Frau mit den grauen Drahthaaren hieß. Ich hatte sie noch nie zuvor gesehen, ebenso wenig wie Herrn Oberfies. Was kein Wunder war, denn dieses Erziehungsinternat von der Größe einer Kleinstadt beherbergte unglaublich viele Lehrer und andere Autoritätspersonen.
Herr Oberfies hob mein Kinn an und grinste mir hämisch ins Gesicht. Forschend schaute er mir in die Augen. „Stimmt das?“
Ich kämpfte mit dem dicken Kloß in meinem Hals. Wäre ich nur ein paar winzige Zentimeter schlanker, hätte ich durch die Spalte gepasst, die wir in die Wand gesprengt hatten. Nur ein paar beschissene Zentimeter, und ich wäre jetzt schon mit Paul, Tobias, Hanna und dem Rest der Truppe über alle Berge. Stattdessen saß ich immer noch in diesem verfluchten Gefängnis fest, das sich Internat schimpfte.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, ich hab es mir einfach anders überlegt. Ich dachte, die Flucht wäre vielleicht doch zu riskant, also bin ich umgekehrt“, würgte ich hervor. Meine Stimme klang viel zu dünn und leise, und absolut nicht glaubwürdig. Herr Oberfies hob skeptisch eine buschige Augenbraue. „Ich hab Angst gekriegt, dass wir erwischt werden!“, fügte ich daher schnell hinzu und brauchte gar kein schauspielerisches Talent, damit meine Stimme fiepste und zitterte.
Das schien er mir schon eher zu glauben. Seine hohe Stirn glättete sich wieder und er lachte kurz auf. „Ja, das kann ich mir vorstellen.“
Ich senkte die Augen wieder zu Boden. Ja, natürlich konnte er sich das gut vorstellen. Norman, der dicke, kleine, feige Hasenfuß. Wenn der wüsste...
„Es stimmt nicht.“ Die scharfe Stimme von Frau Mahlzahn durchschnitt die kalte, stickige Luft. Sie verschränkte die Arme und fixierte mich mit ihren erbarmunglosen, granitharten Augen. „Als wir ihn gefunden haben, hing er immer noch in der Felsspalte fest. Und es sah so aus, als würde er da schon ziemlich lange stecken. Er hatte sich sogar eingenässt.“
Danke, danke. Schön, dass sie es erwähnte. Was konnte ich dafür, wenn ich da stundenlang feststeckte und mir die dumme Steinmauer auf Dauer ganz schön auf die Blase drückte?!
„Das war nur, weil ich ANGST hatte! So lange steckte ich da noch gar nicht!“, quiekte ich sofort. Wenn sie der Polizei erzählten, dass meine Komplizen schon seit vielen Stunden auf der Flucht waren, würde die sich wohl viel mehr ins Zeug legen, sie wieder zu schnappen, als wenn sie dachten, dass sie erst seit kurzem verschwunden waren. Und wenn ich meiner Gruppe auf irgendeine Weise helfen konnte, zu entkommen, dann wollte ich das tun. „Außerdem, als ich den Rückzug antreten wollte, steckte ich schon fest. Ich konnte gar nicht mehr zurück, obwohl ich wollte!“
Mir war selbst klar, dass meine Märchen immer unglaubwürdiger wurden. Also hielt ich nun lieber den Mund. Mein Herz klopfte laut, als Herr Oberfies und Frau Mahlzahn einen Blick austauschten und sie nur den Kopf schüttelte. Mit einem frustrierten Ächzen ließ sich Herr Oberfies auf den klapprigen Drehstuhl sinken, der mir gegenüber auf der anderen Seite des schmalen Tisches stand. Der arme Stuhl quietschte und knarrte erbärmlich unter seinem Gewicht. „Norman, Norman... Tja, was machen wir jetzt bloß mit dir...“ Stirnrunzelnd tippte er mit einem Kugelschreiber auf die Tischplatte und überflog noch einmal die Papiere, die vor ihm lagen. Er kreuzte ein paar Sätze an und kritzelte hier und da ein wenig. Ich versuchte, kopfüber irgendetwas zu entziffern und scheiterte. Schnell zog ich den Kopf ein, als Frau Mahlzahn mich mit einem warnenden Blick fixierte. Ich fragte mich, ob Herr Oberfies auf diesen Ausfüll-Zetteln nur unseren Fluchtversuch dokumentierte, oder auch schon meine Strafe festlegte. Bei der Vorstellung pumpte mein Herz plötzlich mit doppelter Geschwindigkeit.
Schließlich stand Herr Oberfies mit einem Seufzen auf und schob die Papiere zu einem Stapel zusammen. „Frau Solinsky, ich glaube, es ist das Beste, wenn Sie Norman fürs Erste in den Trakt mit erhöhter Sicherheit bringen. Norman, Sie werden im Schlafsaal zügig Ihre Sachen zusammenpacken und für ein paar Monate umziehen.“ Er hob den Blick, schaute mir forschend in die Augen und stützte seine fleischigen Arme, über denen sich die Ärmel des schwarzen Sakkos spannten, vor mir auf die Tischplatte. Ich war versucht, seinem Blick auszuweichen, tat es dann aber doch lieber nicht.
Er schüttelte nach einigen Momenten des unangenehmen Augenkontakts langsam den Kopf. „Ich werde aus Ihnen nicht schlau, Norman, aber ich glaube, es ist das Beste, wenn wir in der nächsten Zeit ein genaueres Auge auf Sie haben. Frau Solinsky...“ Er richtete sich wieder auf und nickte dem Solinsky-Mahlzahn-Drachen zu.
Sie nickte ernst zurück. „Ich nehme an, Sie werden sofort die OE über den Vorfall unterrichten?“
„Selbstverständlich.“ Herr Oberfies winkte mit den Zetteln. „Ich hoffe, die OE wird dann schnell alles Nötige in die Wege leiten, um die Ausreißer zu schnappen. Jugendliche dürfen nicht unterschätzt werden.“
„In der Tat.“ Frau Solinsky fixierte mich wieder mit ihren scharfen Augen und diesmal wich ich ihrem Blick aus. Ich zog den Kopf nach Schildkröten-Manier zwischen die Schultern, als ich mich zögerlich von meinem Stuhl erhob. Ich hatte das schlechte Gefühl, dass sie mich durchschaute, im Gegensatz zu ihrem Kollegen.
Stumm schaute ich zu, wie Herr Oberfies und Frau Solinsky sich voneinander verabschiedeten und halblaut noch ein paar Kleinigkeiten besprachen, die ich wohl nicht hören durfte.
Er würde wohl nie auf den Gedanken kommen, dass die ganze Flucht meine Idee gewesen war. Dass ich derjenige war, der nachts durch das Internat geschlichen, nach Geheimgängen gesucht und in Büros herumgeschnüffelt hatte, auch wenn ich jedes Mal fast einen Herzinfarkt vor Angst erlitten hatte. Bei einem dieser höchst riskanten nächtlichen Rundgänge hatte ich schließlich durch einen glücklichen Zufall einen Tresor voller Sprengstoff gefunden. Ich hatte mein Glück gar nicht fassen können. Den Zahlencode des Tresors zu knacken, war für mich eine Kleinigkeit gewesen, auch mit Panik-vernebeltem Gehirn. Ich hatte Anton – einem vertrauenswürdigen Mitgefangenen –  von meinem Fluchtplan erzählt, er hatte es anderen erzählt, und so hatte die Sache seinen Lauf genommen. Ich glaube, Anton war der Einzige, der überhaupt wusste, dass das alles meine Idee gewesen war. Soweit ich wusste, hatte er sich nicht die Mühe gemacht, es den anderen zu sagen, die ihn von da an als Gruppenleiter angesehen hatten.
Und diese Umstände machten es natürlich noch viel ungerechter, dass ausgerechnet ich jetzt derjenige war, der zwangsweise zurückgeblieben war. Da die Internatsheinis jetzt bestimmt ein ganz besonderes Auge auf mich haben würden, glaubte ich auch kaum, dass sich für mich allzu bald eine erneute Gelegenheit für eine Flucht ergeben würde. Unwillkürlich ballte ich die Fäuste und steckte sie schnell in die ausgeleierten Taschen meiner grauen Stoffhose. Das war einfach alles so ungerecht!
Nachdem Herr Oberfies verschwunden war, folgte ich Frau Solinsky mit hängendem Kopf, damit sie nicht den unterdrückten Zorn in meinen Augen sah. Zügigen Schrittes führte sie mich durch die labyrinthartigen, immer gleich aussehenden, spärlich beleuchteten Steintunnel, die sich wie ein unterirdisches Spinnennetz unter dem Internat durch die Erde zogen.
"Also, wenn ich hier etwas zu sagen hätte", zischte sie wie eine schlecht gelaunte Kobra und ich fragte mich für einen Moment verwirrt, ob sie wirklich mit mir sprach, "dann hätte ich dich in eine Einzelzelle gesteckt. Herr Katz ist viel zu großzügig." Abrupt blieb sie stehen und drehte sich zackig zu mir herum. Ich war gezwungen, ebenfalls einen abrupten Stopp hinzulegen, sonst wäre ich in sie hineingerannt. Unsicher schaute ich zu meiner Aufpasserin hoch, mit großen Augen, die hoffentlich die pure Naivität und Unschuld widerspiegelten.
Doch Frau Solinsky kniff nur missbilligend die Kiefer zusammen und starrte mich wieder mit ihrem messerscharfen Blick an, der sich durch mich hindurch zu bohren schien. Mir wurde plötzlich klar, warum er so stechend war: Sie blinzelte nicht. Wie eine Echse. Oder ein Drache. Ich beschloss, sie insgeheim nur noch Frau Mahlzahn zu nenne, der Name passte einfach am besten zu ihr. "Herr Katz traut dir nicht viel zu, aber glaub ja nicht, dass ich genauso gutgläubig bin. Oh nein!" Mit einem Lachen, das mir unerwartet eine Gänsehaut über den Rücken schickte, schüttelte sie den Kopf. Dann wurde sie sofort wieder ernst. "Ich glaube nicht, dass du so ein Loser bist, wie du aussiehst. Und ich werde von nun an dafür sorgen, dass du unter ständiger Beobachtung bist, Bürschchen! Darauf kannst du Gift nehmen!" Bei diesem letzten Satz stach sie mir mit jedem Wort ihren stahlharten, kleinen Zeigefinger in die Rippen.
Mit einem letzten warnenden Blick machte sie wieder auf dem Absatz kehrt und marschierte vorwärts. Ich verzog das Gesicht und rieb mir den Brustkorb, während ich ihr halb rennend folgte, bemüht, mit der drahtigen kleinen Drachenfrau Schritt zu halten. Ich hatte das Gefühl, dass meine Fluchtchancen gerade auf Null reduziert worden waren, und es drehte mir den Magen um. Ich hatte keine Angst vor Frau Solinsky, aber ich hatte auch keine Lust, in einer Einzelzelle zu landen. Wer einmal in so eine Zelle kam, wurde nie wieder gesehen. So munkelte man zumindest, und ich wollte nicht zu einem von denen werden, über die gemunkelt wurde. Denn wie es aussah, würde dieser Drache einer Frau von nun an jeden Anlass nutzen, mich in eine Einzelzelle einsperren zu lassen.
Doch für mich bedeutete das nur eins: Ich musste meine Flucht einfach geschickter anstellen als letztes Mal. Ein grimmiges kleines Lächeln schlich sich auf meine Lippen, während ich mit meinen Augen Löcher in den grauhaarigen Kopf vor mir brannte. Glaub ja nicht, dass du mich so einfach aufhalten kannst, Frau Mahlzahn!

So dachte ich zumindest, bis plötzlich die Lautsprecher quietschten und eine blecherne Durchsage in den Gängen widerhallte.




Fortsetzung folgt Wink
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BeitragThema: Re: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyDi Aug 20, 2013 1:09 pm

Also die Metaphern und Beschreibungen sind echt der Hammer. Ich liebe diese Detailverliebtheit bei dir total Smile Wobei du immer gerne sehr mysteriös schreibst, habe ich das Gefühl. Es dauert echt immer ein gutes Weilchen bis man aufgeklärt wird, was gerade eigentlich los Wink
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BeitragThema: 2. Misery   Die Stadt Namenlos EmptyDi Aug 27, 2013 3:44 pm

Danke! Ich zweifel ja ab und zu gerne mal an meinem Können (vor allem, seit ich die Aufnahmeprüfung zum Studiengang "Kreatives Schreiben" nicht geschafft habe :/ ), von daher ist jedes Lob Balsam auf meiner Schreiberseele Laughing 
Ja, gerade bei dieser Geschichte wird man wohl nicht alles sofort verstehen. Und Ash versteht ja auch noch gar nicht, wo er hier gelandet ist, von daher find ich das ganz passend, auch die Leser ein bisschen rätseln zu lassen Wink

So, es ist jetzt zwar schon Dienstag und nicht Montag, aber immerhin geht es voran - hier ist schon das nächste Kapitel:



2. Misery

Die Normalität ist eine gepflasterte Straße:
Man kann gut darauf gehen –
aber es wachsen keine Blumen auf ihr.

Vincent Willem van Gogh



2.0 Eric

„Was meinst du?“ Alarmiert sprang ich zu Hanna, die aussah, als habe sie einen Geist gesehen. Oder ein vierköpfiges Ungeheuer. Auch Paul war mit einem großen Schritt bei uns und stellte sich schützend vor seine Schwester, wobei er mich unsanft zur Seite stieß. Unwirsch drückte ich mich neben die beiden, um einen Blick in die Vorratskammer werfen zu können.
Zum Glück sprang uns jedoch kein vierköpfiges Ungeheuer entgegen. Stattdessen stand dort nur ein großer Sack mit...
„Hä? Ist das nicht Mehl?“, brummte Paul mit derselben Verwirrung und Erleichterung, die ich empfand. Ich atmete auf und schaute Hanna fragend an.
„Nicht!“, schrie diese nur, als Paul einen Finger in das Mehl stippte und ablecken wollte. Wie von der Tarantel gestochen schlug sie seine Hand weg. „Willst du dich umbringen?“
Das war genug, um auch Mauerblümchen Lisa auf unsere Aufregung aufmerksam zu machen, während Helena nur weiterhin vor sich hin summte und selbstvergessen ihre Suppe schlürfte. "Wieso umbringen? Das ist doch nur Mehl!", murrte Lisa verdrießlich.
Hanna drehte sich ungläubig zu ihr um. "Das ist KEIN Mehl!", stellte sie klar. Ihr Blick fiel auf die Suppe und ihre Augen wurden noch größer. "Habt ihr das Zeug da rein getan?!", fragte sie entsetzt und deutete mit einem Finger auf die Suppenschüsseln.
"Ja, was dagegen?", gab Lisa verschnupft zurück. "Okay, ich gebe zu, es ist nicht besonders lecker, aber versucht ihr mal, mit den wenigen Zutaten - hey!", protestierte sie, als Hanna ihr die Schüssel aus der Hand schnappte. Wie eine Frisbee-Scheibe beförderte sie die flache Schüssel aus dem Fenster, völlig ungeachtet dessen, dass das winzige Fenster nur auf Kipp stand. Es knallte und klirrte, als die Scheibe zersprang. Die Suppenreste spritzten und Glassplitter flogen nach draußen.
Mit offenem Mund starrte Lisa sie an und präsentierte dabei bestens ihre verklebte Zahnspange. "Bist du noch ganz...!"
"Halt die Klappe!", fauchte Hanna, und bevor irgendjemand von uns reagieren konnte, schnappte sie auch Helena ihre Suppe weg und warf die noch halb volle Schale der anderen Schüssel hinterher. Helena zuckte noch nicht einmal mit der Wimper, sondern schaute nur verdutzt mit ihren großen Puppenaugen dahin, wo eben noch ihre Suppe gestanden hatte.
Als Hanna sich ruckartig an Paul und mich wandte, zuckten wir zusammen. "Jungs, macht den Schrank zu! Sofort!"
Wir lösten uns aus unserer Schockstarre. Niemand von uns war es gewohnt, dass Hanna so aggressiv und impulsiv handelte. Sie war sonst immer bedacht und die Ruhe in Person. Während Paul, ohne nachzufragen, sofort dem Befehl seiner Schwester nachkam, hakte ich vorsichtig nach: "Ähm, Hanna... könntest du mal kurz erklären, was in dich gefahren ist?!"
"Na, das würde mich auch mal interessieren!", regte sich Lisa auf. Sie war aufgestanden und verschränkte die Arme vor ihrem üppigen Busen. Ihr Gesicht war noch geröteter als sonst, als sie einen anklagenden Finger auf Hanna richtete. „Nur, weil du neidisch bist, dass wir etwas zu essen haben und ihr nicht? Sag schon, ist es das? Warte nur, bis ich Anton davon erzähle!“
„Lass sie in Ruhe!“, knurrte Paul und legte einen beschützenden Arm um Hannas Schultern.
Sie schlug seinen Arm weg, was Paul mit einem verletzten Blick quittierte, doch Hanna beachtete ihn gar nicht. „Das war kein Mehl, ihr Begriffsstutzigen! Hat echt keiner von euch eine Ahnung, was das war?!“ Hilfesuchend schaute sie mich an, doch ich zuckte nur ahnungslos mit den Schultern. Helena hatte wieder begonnen, mit den Füßen zu wackeln und summte leise vor sich hin, den Blick ins Leere gerichtet, während sie unschuldig an ihrem Suppenlöffel lutschte. Manchmal benahm sie sich eher wie ein Kleinkind als wie eine Zwölfjährige.
Hanna verdrehte die Augen und schien am Rand der Verzweiflung. „Ihr müsst das Zeug irgendwie wieder aus euch rausbekommen! Sonst bekommt ihr echt ein Problem!“, sagte sie todernst zu Lisa und Helena und schlug mit Nachdruck eine Handfläche auf den Tisch.
„Hä? Gib's doch endlich zu, du bist nur neidisch, weil wir etwas zu essen hatten und du nicht!“, wiederholte Lisa ihre Anschuldigungen, doch ihre Augen hinter der dicken Brille huschten etwas verunsichert zwischen uns hin und her.
Hanna holte gerade Luft, um zu einer (bestimmt lautstarken) Erwiderung anzusetzen, als, angelockt von dem Radau, plötzlich Anton und Cecilia ihre Köpfe durch die Küchentür steckten.
„Was ist denn hier los? Bringt ihr euch wieder gegenseitig um?“, fragte Anton scharf und schaute aus Gewohnheit direkt zu mir. Empört verschränkte ich die Arme. Wieso verdächtigte er immer als Erstes mich, wenn es irgendwo Zank gab?!
Cecilia rümpfte die Nase. „Dem Gestank nach zu urteilen, ist hier wirklich jemand gestorben.“
Anton war der Einzige, der lachte.
„Leute!“, schaltete sich jetzt wieder Hanna am Rande der Verzweiflung ein, so laut, dass Anton und Cecilia sie nur verblüfft anstarrten. „Helena und Lisa haben so komisches weißes Zeug gegessen -“
„Das nennt man auch Mehl, du Klugscheißerin.“ Lisa verdrehte die Augen, doch Hanna fuhr unbeirrt fort: „...und ich bin mir ziemlich sicher, dass es Misery-Pulver ist!“
„Was für'n Zeug?“, wiederholte Anton unbeeindruckt.
Cecilia war die einzige von uns, die leichenblass wurde. „Oh scheiße...“
Langsam hatte ich echt genug. „Kann mir vielleicht mal jemand erklären, was -“
„Misery-Pulver kommt von der OE.“ Helena hatte aufgehört, zu summen, und hob den Kopf, um mich mit ihren irritierend hellen Puppenaugen direkt anzuschauen. „Von der Organisationseinheit.“ Sie legte den Kopf leicht schief, wie ein neugieriges Kätzchen. „Es wird vermutet, dass sie aus dem Misery-Pulver diesen Nebel herstellen, der Tag und Nacht über Namenlos liegt. Er sorgt dafür, dass niemand mehr den Willen oder die Kraft dazu hat, sich gegen die OE zu wehren. Und in allzu großen Mengen bewirkt er Depressionen.“ Sie zuckte die schmalen Schultern. „So stand es jedenfalls in der Verbotenen Zeitung.“ Der Kontrast zwischen ihrem Aussehen und der Art, wie sie sprach, war verwirrend. Ich realisierte in diesem Moment, dass ich noch nie so viele aneinandergereihte Sätze aus ihrem Mund gehört hatte.
„Das klingt nicht gerade gesund“, stellte Anton besorgt das Offensichtliche fest. Hilflos rieb er sich das Kinn, er sah sich als inoffizieller Anführer anscheinend gezwungen, schnellstmöglich eine Lösung für das Problem zu finden.
„Besonders in so großen Mengen!“, fügte Hanna aufgebracht hinzu.
„Ja, wenn das wirklich Misery-Pulver ist, werden wir wohl daran sterben“, sagte Helena leise, die Ruhe in Person, als würde sie gar nicht von sich selbst sprechen. „Oder besser gesagt, wir werden uns selbst umbringen.“
„Was?!“, quiekte Lisa und ihre Augen wurden hinter der Brille ganz groß. Sie sah aus wie eine erschrockene Eule. „Aber... aber... vielleicht war das ja gar kein Misery-Pulver! Vielleicht war es ja doch nur Mehl! Ich meine, wer würde denn so ein Mordszeug in seinem Küchenschrank lagern?!“ Sie verschränkte die Arme und versteckte ihre zitternden Hände. „Außerdem scheint es noch gar nicht zu wirken, denn ich zumindest habe noch nicht den Drang, mich umzubringen!“
„Das kommt bestimmt mit Verzögerung“, sagte Helena trocken und machte damit alle Hoffnungen zunichte.
Lisa machte ein langes Gesicht. „Woher willst du das eigentlich wissen?“, fauchte sie dann Helena an. „Das sind doch auch alles nur Vermutungen! Und ich...“ Sie brach ab und ihre Augen wurden noch größer. Ich hätte nicht gedacht, dass es Menschen möglich ist, die Augen so weit aufzureißen. Plötzlich trat ein ganz merkwürdiger Ausdruck auf ihr Gesicht und sie wurde aschfahl. Anton und Cecilia warfen sich beunruhigte Blicke zu und Helena murmelte: „Oh-oh, jetzt geht’s los...“
„Es sind nicht nur Vermutungen!“, erwiderte Hanna hitzig, die all das anscheinend nicht mitbekam, da sie am Fenster stand und nach draußen starrte. Wütend drehte sie sich zu uns um. „Ich hab den Artikel auch gelesen, es stand in der Verbotenen Zeitung, und da steht meistens mehr Wahrheit drin als in allen anderen Zeitungen zusammen!“ Plötzlich fiel ihr Blick auf Lisa, die wie eine Leiche regungslos dasaß und ins Leere starrte. Ihr Gesicht hatte jede restliche Farbe verloren, sogar ihre Pickel waren blass geworden. Erschrocken schlug sich Hanna die Hände vor den Mund. „Oh Gott...“
Für ein paar Momente schien die Zeit eingefroren, während wir alle mit angehaltenem Atem Lisa beobachteten. Das einzige Geräusch war das leise Schaben, welches von Helena herrührte, die mit ihren kurzen Fingernägeln die Holzmaserung der Tischplatte nachzog. Sie benahm sich seltsamerweise genauso wie immer und schien auch gar nicht zu bemerken, dass mit Lisa etwas nicht stimmte. Oder vielleicht interessierte es sie auch einfach nicht. Vielleicht schlug das Misery-Pulver nur deshalb nicht bei ihr an, weil sie einfach gar keine Emotionen hatte?! Gab es solche Menschen?
Anton räusperte sich. „Ähm, Lisa?“ Ich glaube, das war das erste Mal, seit ich ihn kannte, dass er unsicher klang. Nein, nicht nur unsicher – verängstigt. Er hatte Angst vor Lisa, als könnte sie jeden Moment aufspringen und uns alle abschlachten. Mit welcher Waffe auch immer. Nun, ihre Fingernägel wären lang genug, um als Mordwaffe herzuhalten.
Stattdessen presste Lisa jedoch nur beide Hände vors Gesicht und wimmerte leise. Sie begann, immer stärker zu zittern, und ich fragte mich, was in ihr vorging. Aber wollte ich das wirklich wissen? Ich schauderte. Ich erinnerte mich noch allzu gut an den Nebel in den Gassen von Namenlos, der jede aufkeimende Stimmung im wahrsten Sinne des Wortes niederdrückte. Wenn er wirklich aus diesem Misery-Pulver hergestellt wurde, wollte ich mir nicht vorstellen, wie es sich anfühlte, wenn man dieses Pulver wortwörtlich mit Löffeln aß.
Hanna trat einen Schritt vor, noch einen, und streckte langsam einen Arm nach Lisa aus, wie nach einem exotischen Tier, von dem man noch nicht wusste, ob es angreifen oder zurückschrecken würde. „Hanna!“, zischte Paul warnend. Doch sie hörte nicht auf ihn, und auch, als er sie zurückhalten wollte, schlug sie seine Hand weg. Vorsichtig berührte sie Lisa an der Schulter und rüttelte ein wenig daran. „Hey, Lisa...“
Abrupt wandelte sich das Wimmern in lautes Schluchzen. Lisa ließ den Kopf ziemlich unsanft auf die Tischplatte sinken und vergrub ihn in ihren Armen. Sie schluchzte irgendetwas, das sich entfernt nach „Lass mich in Ruhe!“ anhörte.
Ich schüttelte die Beklemmung ab, die uns aus irgendeinem Grund alle befallen hatte. Lisa war doch nicht gefährlich, im Gegenteil. Sie brauchte unsere Hilfe. Und so wenig ich das ständig mäkelnde, alles und jeden angiftende Mädchen auch leiden konnte, konnte ich doch auch nicht einfach nur dastehen und zuschauen. Ich trat auf der anderen Seite neben Lisas Stuhl und kniete mich auf die staubigen, knarrenden Holzdielen. Ich versuchte, ihre Arme wegzuschieben und ihr ins Gesicht zu schauen, aber sie ließ es nicht zu.
„Hey, Lisa, hörst du mich?“, fragte Hanna von der anderen Seite. Ihre Stimme zitterte leicht. Lisa weinte und schluchzte zur Antwort, als habe man ihr auf grausamste Weise das Herz gebrochen. Vermutlich fühlte sie sich auch genauso. Ich spürte eine starke Woge von Mitgefühl in mir aufwallen, so heftig, wie ich es seit Jahren nicht mehr gespürt hatte. Ich war selbst ganz überrascht von dem überwältigenden Gefühl.
„Wir sollten aufpassen, dass sie sich nichts antut“, hörte ich mich sagen. „Irgendwann lässt die Wirkung bestimmt wieder nach.“ Ich zwang mich, Lisa beruhigend über den schmalen Rücken zu streichen, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte, sie zu berühren.
„Sicherlich, aber ob es bleibende Schäden hinterlässt, werden wir erst dann sehen.“ Helena erhob sich langsam von ihrem Stuhl und ein leichter Vanilleduft wehte von ihr zu mir hinüber. Verwundert schaute ich zu ihr hoch, doch sie begegnete meinen Augen nicht, schaute nur zu Anton und Cecilia, die noch immer ziemlich unschlüssig im Türrahmen standen und den Ausgang bewachten. „Kann ich vorbei? Ich will ein wenig spazieren gehen“, sagte sie.
Automatisch öffnete Anton seinen breiten Froschmund, um zu protestieren, wagte dann aber doch nicht, Helena zu widersprechen. Er schluckte sichtlich und schloss den Mund wieder. Die Augen auf den Boden gerichtet, trat er wortlos beiseite. Ich konnte gut verstehen, dass er Helena gruselig fand, aber von uns allen hatte er wohl die meiste Angst vor ihr. Lag wahrscheinlich daran, dass er so abergläubisch war. Bestimmt hielt er sie für ein Gespenst oder ähnliches.
Cecilia war jedoch nicht so ängstlich. Sie stütze die Hände an beiden Seiten des Türrahmens ab und versperrte Helena somit den Weg. Unnachgiebig erwiderte sie ihren Blick. „Was ist mit dir los, Helena?“, fragte sie stirnrunzelnd. „Wieso geht es dir nicht genauso wie Lisa?“
Helena schwieg. Lange. Die Sekunden zogen sich hin, und hätte nicht Lisas Schluchzen den Raum erfüllt, hätte man die Stille schneiden können. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen, sah nur von hinten ihre nackten kleinen Füße, ihr langes weißes Nachthemd, das am Saum schon dreckig und zerschlissen war, und ihre langen, platinum-blonden, fast weißen Haare, die darüber fielen. Ein leichter Windstoß, warm wie ein Föhn, wehte durch das zerbrochene Fenster und ließ die Haarsträhnen tanzen, als hätten sie ein Eigenleben. Vielleicht war Helena ja wirklich ein Geist, schoss es mir durch den Kopf. Es kam mir gar nicht so abwegig vor.
„Lass mich vorbei“, sagte Helena nach einer gefühlten Ewigkeit ruhig.
Cecilia kniff kurz die Lippen zusammen, doch als Anton auffordernd an dem Ärmel ihrer schwarz-weiß-karierten Bluse zupfte, trat sie widerwillig zur Seite.
„Danke.“ Helena lächelte zu ihr hoch, und im nächsten Moment war sie in dem dunklen Flur verschwunden.
„Meint ihr wirklich, es ist eine gute Idee, sie ganz alleine herumlaufen zu lassen?“, gab ich mit einem besorgten Stirnrunzeln zu bedenken, als der Schemen des kleinen Mädchens aus meinem Blickfeld verschwunden war. „Was ist, wenn das Pulver bei ihr doch noch anschlägt?“
Anton schnaubte nur sarkastisch und fuchtelte beinah hysterisch in Richtung der Küchentür. „Tu dir keinen Zwang an! Wenn du sie unbedingt aufhalten willst, dann bitte!“
Ich biss mir auf die Lippe und rang mit mir selbst. Ja, Helena war unheimlich und auf ihre Weise unberechenbar, weil man einfach nicht einschätzen konnte, was in ihrem Kopf vorging, aber hatte sie schon jemals einem von uns etwas angetan? Nein. Warum sollte sie auch? Sie war ja kein Psychokiller, sondern nur ein etwas merkwürdiges Mädchen, das nach seiner eigenen Logik handelte. Ich stand auf. „Ich glaube, ich werde wirklich...“
Lisa unterbrach mich, indem sie urplötzlich aufsprang. Mit einem Poltern kippte ihr Stuhl nach hinten, Hanna wurde weggestoßen und fiel ziemlich unsanft auf den Boden. „Ich halt das nicht mehr aus!“, kreischte Lisa. Sie rannte haarscharf an Hannas Kopf vorbei zur Küchentür. Sofort sprangen Cecilia und Anton wieder vor und wollten sie aufhalten, doch in Lisas jetzigen Verfassung konnten selbst die beiden sie nicht festhalten. Lisa riss sich mit einem Ruck von ihnen los, wobei ihr schwarzes T-Shirt zerfetzt wurde. Dann stolperte sie lautstark heulend den Flur entlang.
„Lisa, bleib stehen!“ In meiner Eile sprang ich über den Tisch und rannte Lisa hinterher. Cecilia und Anton standen für ein paar Sekundenbruchteile total verdutzt mit den Stofffetzen in den Händen da, und erwachten erst wieder zum Leben, als ich an ihnen vorbei eilte. Ich hörte ihre schnellen Schritte hinter mir, als sie mit mir die Verfolgung aufnahmen und lauthals nach Lisa riefen.
Ich sah gerade so noch einen Fuß um die Ecke verschwinden, als Lisa aus dem Flur ins Wohnzimmer rannte. Ich hatte keine Ahnung, was sie plante, aber es konnte nichts Gutes sein. Ein hölzernes Poltern war zu hören – anscheinend nahm sie gerade die steile Treppe ins oberste Geschoss. „Sie geht auf den Dachboden!“, rief ich meinen Verfolgern zu.
Mit schlitternden Schuhen rannten wir ins Wohnzimmer und gleich um die Ecke, um ebenfalls die Treppe zu nehmen. In meiner Hast stolperte ich fast auf den schmalen Stufen. Von oben waren Stimmen zu hören.
„Wo ist die Pistole?!“, schrie Lisa, woraufhin ich hinter mir Anton erschrocken „Scheiße!“, keuchen hörte.
„Keine Ahnung!“, antwortete Tobias' Stimme verwirrt. „Hey – hey, was machst du denn da?“
Verdammt, sie würde ihm doch wohl nichts antun?! Ich nahm die letzten drei Stufen mit einem einzigen halsbrecherischen Sprung und kam leicht taumelnd oben an. Hektisch schaute ich mich um. Der gottverdammte Mann, dem dieses gottverdammte Haus gehörte, war in einigen Schritten Entfernung mit so vielen Seilen an einen Balken gefesselt, dass er sich bestimmt keinen Millimeter mehr rühren konnte. Er schien zu schlafen und sah aus wie ein Rollbraten.
„Verdammt, du...! Bleib hier! Was soll denn das?!“, hörte ich Tobias fluchen. Da entdeckte ich ihn auch: er stand vor dem einzigen geöffneten Dachfenster und hielt etwas fest, das aussah wie ein Fuß. Lisas Fuß. Er zappelte und versuchte, sich von ihm los zu reißen. „Was zur Hölle...“
„Lass sie nicht los!“, rief ich und kam Tobias schnell zur Hilfe. Jedoch einen Sekundenbruchteil zu spät: Schon hatte sich Lisa losgerissen und verstand vollständig aus meinem Blickfeld. „Verdammt, Lisa, was... ERIC!“, rief Tobias aufgebracht und griff erfolglos nach mir, als ich mich, ohne zu zögern, mit einem Klimmzug ebenfalls durch die Dachluke auf das Dach befördert. „Wir müssen Lisa aufhalten!“, erklärte ich atemlos.
„Lasst mich!“, kreischte Lisa. Sie war schon dabei, an den höchsten Punkt des stechenden Strohdachs zu klettern. Kurzerhand kraxelte ich hinterher, ohne mir die Mühe zu machen, ihr zu antworten. Mit Worten konnte man jetzt wohl nichts mehr ausrichten. Hinter mir riefen immer noch Tobias, Cecilia und Anton aufgebracht durcheinander, und das trockene Rascheln verriet mir, dass mir mindestens einer von ihnen auf den Fersen war, aber ich wagte nicht, mich umzuschauen. Meinen Blick abwechselnd auf Lisa und das Stroh unter mir gerichtet, kletterte ich ihr hinterher, versuchte, sie noch rechtzeitig einzuholen.
Es war gar nicht so einfach, sich an den rutschigen Strohhalmen hoch zu ziehen, die mir in die Finger stachen. Irgendwo in meinem Hinterkopf schlummerte die Angst, abzurutschen und in die Tiefe zu stürzen, doch ich drängte sie in den Hintergrund. Viel gegenwärtiger war die Angst, Lisa nicht rechtzeitig zu erreichen, bevor sie sich selbst vom Dach stürzte.
Lisa hatte den obersten Dachfirst erreicht und es war immer noch viel zu viel Abstand zwischen uns. Schwankend richtete sie sich auf. „Lisa!“, rief ich nun doch noch einmal nach ihr und verdoppelte meine Anstrengungen, obwohl die Muskeln in meinen Oberarmen bereits brannten. Sie ignorierte mich, fixierte mit glasigen Augen einen Punkt in der Ferne an.
„Lass es sein, Eric, es hat keinen Sinn!“, hörte ich Tobias rufen, „Du bringst dich nur selbst in Gefahr!“
Ich war nur noch einen halben Meter von dem höchsten Punkt entfernt, doch er hatte recht – es war nicht mehr zu schaffen Bevor ich Lisa erreichen konnte, lief sie schon los, nahm Anlauf für den Sprung in die Tiefe. Mir stockte der Atem und ich krallte mich in dem staubigen Stroh fest. Ich kam zu spät.
Plötzlich stolperte sie jedoch auf dem schmalen Dach, rutschte mit einem Fuß ab. Mit rudernden Armen versuchte sie, ihr Gleichgewicht wieder herzustellen, doch erfolglos – anstatt die steile Front des Daches zu erreichen und dort senkrecht hinab zu stürzen, rutschte und purzelte sie das lange, schräge Strohdach hinunter, auf derselben Seite, auf der sie auch hochgeklettert war. Es ging so schnell, dass sie noch nicht einmal die Zeit für einen erschrockenen Schrei hatte. Nur einen Herzschlag später kam sie mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden tief unter mir auf und rührte sich nicht mehr.


2.1 Ash

Nach einer gründlichen Wohnungserkundung hatte ich drei wichtige Dinge festgestellt. Erstens: Ich war definitiv kein Prinz, oder ich wäre der erste Prinz, der in so einem kleinen, kahlen Mauseloch einer Wohnung lebte.
Zweitens: Ich hatte einen ausgesprochen stilvollen, wenn auch etwas düsteren, Modegeschmack, wie ein großer Kleiderschrank mir verriet. Wobei es wiederum auch merkwürdig wäre, wenn ich meinen eigenen Modegeschmack nicht stilvoll finden würde. Okay, vielleicht war diese Information doch nicht so wichtig.
Und drittens: Ich wohnte anscheinend nicht allein, denn es gab noch ein zweites Schlafzimmer. Leider schien es nicht von einem Mädchen bewohnt zu sein, denn in dem Kleiderschrank hingen nur ein paar wenige Kleidungsstücke eines jugendlichen Jungen in meinem Alter, der wohl nach der Kleidergröße zu urteilen etwas kleiner war als ich. War er vielleicht mein kleiner Bruder? Mein kleiner Cousin? Einfach ein Freund oder Mitbewohner? Oder – mein Liebhaber? Bei dem Gedanken musste ich grinsen. Wer weiß, vielleicht war ich ja schwul? Wobei, wenn ich da so drüber nachdachte... nein, nach meinem Bauchgefühl zu schließen war das sehr unwahrscheinlich.
Doch wer auch immer hier wohnte, oder gewohnt hatte, schien sein Zimmer schon lange nicht mehr betreten zu haben, denn es lag überall eine dicke Staubschicht, sogar auf dem Bett, und das ganze Zimmer sah ziemlich leer und unbewohnt aus. Schade. Ich war etwas enttäuscht. Ein Mitbewohner hätte mich bestimmt darüber aufklären können, wer ich war, doch es sah nicht so aus, als würde dieser Mitbewohner innerhalb der nächsten Zeit zur Tür hereinspazieren.
Okay, was nun? Mir blieb wohl nichts anderes übrig, als raus zu gehen und mich mal ein wenig umzuschauen. Vielleicht kamen dann ja auch ein paar Erinnerungen wieder, wenn ich durch Straßen streifte, die mir eigentlich bekannt sein müssten. Außerdem musste ich einkaufen. Der Kühlschrank war ziemlich leer. Aber wo um alles in der Welt hatte ich mein Geld? Ich stromerte noch einmal durch alle Zimmer, doch ich fand nichts. Vielleicht war ich ja so ein komischer Kauz, der sein Geld unter dem Bett versteckte? Probeweise hob ich die Matratze mal ein wenig an. Meine Augenbrauen stiegen in die Höhe. Na, was hatten wir denn da? Ich zog das kleine, dünne Notizbuch hervor und ließ die Matratze wieder zurück auf den Lattenrost fallen. Das kleine Buch war in schwarzes Leder gebunden und mit einem erstaunlich dicken Vorhängeschloss gesichert. Auf der Vorderseite war „Tagebuch“ in das glatte Leder eingestanzt.
Ich lächelte und strich über das Leder, das sich an meine Hände schmiegte wie ein alter Freund. Ich hatte mein Tagebuch gefunden. Das machte mir Hoffnung. Was gab es Besseres als ein Tagebuch, wenn man herausfinden wollte, wer eine Person war und wie sie tickte? In diesem Fall nicht irgendeine Person, sondern ich selbst.
Die Frage war nur: Wo war der Schlüssel?
Ich durchsuchte noch einmal die ganze Wohnung – so viele Verstecke konnte es hier gar nicht geben, dachte ich – doch die Suche blieb erfolglos. Ich war noch nie gut im Suchen gewesen, aber anscheinend umso besser im Verstecken. Plötzlich zuckte mir ein Erinnerungsfetzen durch den Kopf.
„Wie kann man so schlecht im Suchen und so gut im Verstecken sein?“, maulte der kleine Junge. Die glatten aschbraunen Haare fielen ihm in die Stirn, als er sich hinter das Sofa bückte, doch auch hier fand er keine Ostereier. Ich lachte, weil ich wusste, dass er nicht ernsthaft beleidigt war. „Gib dir halt mehr Mühe! Außerdem bin ich nicht schlecht im Suchen!“ Plötzlich rief eine Frau mit strenger Stimme nach uns. „Kinder, hört auf mit dem Quatsch und kommt essen!“
Ich blinzelte überrascht. Das kam echt unerwartet. Mit dem Gefühl, immer noch den süßlich-faden Geruch der alten Schokoladen-Ostereier in der Nase zu haben, überlegte ich, ob der kleine Junge aus meiner Erinnerung vielleicht wirklich mein kleiner Bruder war. Die Frau war dann bestimmt unsere Mutter. Ich hatte also Familie, das war doch schon mal beruhigend. Oder zumindest hatte ich mal Familie gehabt. Mir kam das verlassene Schlafzimmer wieder in den Sinn und mich beschlich ein mulmiges Gefühl. Hatte meine Familie mich verstoßen? Oder war ihr etwas zugestoßen? Wo waren die Frau und der Junge aus meiner Erinnerung jetzt?
Mein Kopf schwirrte, und mein Blick fiel wieder auf das in Leder gebundene Tagebuch, das ich immer noch in der Hand hielt. Eins nach dem anderen. Erstmal war Tagebuch-Forschung angesagt. Vielleicht würde das ja schon ein paar meiner Fragen beantworten.


2.2 Peter

„Hier spricht die Ordnungseinheit Namenlos. Was kann ich für Sie tun?“
Die Stimme war glatt, geschmeidig und emotionslos, und Peter Katz erkannte sie sofort, obwohl er die Person, zu der sie gehörte, noch nie persönlich gesehen hatte. Es war einfach eine Stimme, die man nicht so schnell wieder vergaß, geradezu überirdisch in ihrem Klang. Sie gehörte zu Lux Sombris, dem jüngsten Familienmitglied der mächtigen Familie Sombris, die an der Spitze der OE stand.
Peter Katz schluckte. Er war also gleich zur obersten Behörde der OE weitergeleitet worden. Nun, wenn das „Erziehungsinternat für hoffnungslose Fälle“ unangemeldet bei der OE anrief, war diese Sonderbehandlung eigentlich auch verständlich, denn dann musste es sich ja um etwas Wichtiges handeln. Und in diesem Fall stimmte diese Annahme ja auch.
„Katz vom Erziehungsinternat Country hier. Ich habe eine unerfreuliche Nachricht zu melden.“ Er musste sich zwingen, nicht nervös mit dem Telefonkabel herumzuspielen. Er war schließlich kein kleines Kind mehr, sondern ein gestandener Mann! Reiß dich zusammen, Peter, auch Lux ist nur ein Mensch. Wobei er sich dabei gar nicht mal so sicher war. Die Leute von der OE waren alle gruselig, und Lux ganz besonders. Er wusste noch nicht einmal, ob Lux ein Mann oder eine Frau war – an der Stimme, die so melodisch und doch irgendwie roboterhaft war, hörte man es jedenfalls nicht.
„Einen Moment bitte...“ Peter Katz hörte Papier rascheln. Dann meldete sich Lux wieder. „Berichten Sie.“
Mit schwerem Herzen erläuterte Peter Katz die Umstände, die letztendlich dazu geführt hatten, dass neun hochgefährliche Jugendliche aus dem Internat entkommen waren und ein zehnter es ebenfalls fast geschafft hätte. Mit jedem Satz beteuerte er mehrmals, wie sehr es ihm leidtat und dass er sich gar nicht erklären konnte, wie das bloß passiert war. „Natürlich haben wir sofort alle Sicherheitsvorkehrungen verschärft“, sagte er. „Der zehnte Übeltäter wird just in diesem Moment in den Trakt mit erhöhter Sicherheit gebracht und von nun an genauer überwacht. Der Freigang aller Schüler ist bis auf weiteres untersagt und alle Fenster und Tore mit den Sicherheitsschließungen für Extremfälle gesichert. Auch die Elektrozäune sind überprüft und alle Überwachungskameras bleiben für die nächste Zeit Tag und Nacht eingeschaltet. Ich habe außerdem eine Durchsage getätigt, um alle Lehrer und Schüler über die verschärften Sicherheitsvorkehrungen zu unterrichten. Ich habe das Personal gebeten, von nun an ein besonderes Auge auf alle Schüler zu haben, und die Schüler ermahnt, dass jeder Fluchtversuch von nun an zwecklos ist.“ Er holte Luft und hakte in Gedanken alle Stichpunkte ab, während im Hintergrund das emsige Kritzeln von Lux zu hören war. Hatte er alles erwähnt? Hatte er auch nichts vergessen?
„M-hm.“, machte Lux, kritzelte und raschelte. „Haben Sie sich alle verschärften Sicherheitsvorkehrungen auch bescheinigen lassen?“
„Aber selbstverständlich. Die Bescheinigung über die Funktionstüchtigkeit der Elektrozäune müsste jeden Moment bei mir ankommen, dann werde ich Ihnen alle Bescheinigungen und Berichte natürlich unverzüglich per Fax zusenden.“
Wie auf Knopfdruck öffnete sich die stählerne Bürotür und der schlaksige Praktikant schlich mit großen, nervösen Augen herein. In den Armen balancierte er einen so großen Papierstapel, dass seine Stupsnase kaum darüber ragte. Unwirsch deutete Peter Katz auf seinen großen, blank polierten schwarzen Schreibtisch, und der Junge beeilte sich so sehr, den Stapel dort abzulegen, dass er ihn fast fallen ließ. Peter Katz funkelte ihn an und scheuchte das verhuschte Bürschchen mit einer ungeduldigen Handbewegung aus der Tür. „Die Bescheinigungen der Elektrozäune sind nun hier, ich werde also unverzüglich mit dem Faxen beginnen“, sagte Peter Katz mit einem unglücklichen Blick auf all die Papierstapel, die inzwischen seinen gesamten Schreibtisch bedeckten und in ihrer Silhouette an das Hochhausviertel in der Innenstadt von Namenlos erinnerten.
„Sehr gut. Fein gemacht“, sagte Lux und Peter Katz glaubte, zum ersten Mal den Hauch einer Emotion in der Stimme zu hören – Spott. Er presste die Kiefer Lux fuhr fort: „Die OE wird selbstverständlich sofort die Verfolgung der Flüchtigen einleiten. Herr Katz, ich hoffe für Sie, dass solch ein Vorfall nicht ein weiteres Mal passiert, sonst müssen wir wohl persönlich einmal in ihrem Internat vorbeischauen und überprüfen, ob wirklich alle Sicherheitsvorschriften eingehalten werden. Im Zweifelsfall muss ich Sie dann wohl an meinen Vater weiterleiten, und dann kann ich für Ihre Lizenz nicht mehr garantieren. Habe ich mich klar ausgedrückt?“
„Kristallklar“, sagte Peter Katz überdeutlich und mit klopfendem Herzen. Das fehlte ja gerade noch, dass die OE ihm einen Hausbesuch abstattete und ihm die Lizenz für die Leitung des Internats entzog! Umständlich fummelte er mit seinen dicken Fingern ein weißes Stofftaschentuch aus seiner Jacketttasche, mit dem er sich fahrig den Schweiß von der Stirn tupfte. Wenn es etwas gab, das noch niederschlagender war, als in Namenlos zu arbeiten, dann war es, in Namenlos arbeitslos zu sein. Wer keine Beschäftigung hatte, war praktisch dem Untergang geweiht.
„Gut. Dann freue ich mich auf eine positive Zusammenarbeit von Ihnen mit der OE. Auf Wiederhören.“
„Auf Wiederhören.“ Mit einem tiefen Tuten landete der Telefonhörer zurück auf seiner Ladestation. Peter Katz holte tief Luft und ließ sie dann mit aufgeblasenen Backen langsam wieder entweichen. Was für ein Tag! Ein Glück, dass er das Faxen nicht selbst erledigen musste. Das war Sklavenarbeit, im wahrsten Sinne des Wortes. „Sibylle!“, bellte er und eine schon etwas betagte, kleine Sekretärin mit blondierten Haaren, die sie in einem strengen Dutt zurückgesteckt hatte, steckte so schnell ihren Kopf durch die Tür zum Nebenzimmer, dass Herr Katz sich fragte, ob sie etwa schon länger an der Tür gestanden und ihn belauscht hatte. Doch er verdrängte diese Befürchtungen, denn Sibylle war neben Frau Solinsky die zuverlässigste Bedienstete in diesem ganzen verdammten Internat.
Er erhob sich mit einem Ächzen aus seinem Drehstuhl und machte eine ausladende Geste über die Papierstapel. „Fax das mal alles der OE. Unverzüglich.“
Sibylle nickte, ohne die Miene zu verziehen, und machte sich ohne Wiederworte ans Werk. Sie arbeitete schnell, ordentlich und effektiv. Peter Katz beobachtete sie noch eine Weile zufrieden, bevor er sein Büro verließ. So musste das laufen. Und er brauchte jetzt erstmal einen Brandy. Oder auch zwei, oder drei.


2.3 Ash

Da ich den Schlüssel beim besten Willen nicht finden konnte und langsam ungeduldig wurde, holte ich mir einfach ein großes Küchenmesser, eine ebenso große Schere und einen Schraubendreher, womit ich so lange an dem Tagebuch und dem Schloss herum fuhrwerkte, bis ich es öffnen konnte. Wiederverschließbar war es jetzt wohl nicht mehr, aber immerhin hatte ich mein Ziel erreicht. Irgendwie hatte ich ein bisschen das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, als ich das aufgebrochene Tagebuch öffnete. Aber letztendlich war es MEIN Tagebuch, also hatte ich ja wohl jedes Recht dazu, es zu lesen, oder?
Die erste Seite war blank gelassen. Ich blätterte weiter, doch auch die folgenden Seiten waren leer. Stirnrunzelnd blätterte ich das ganze Tagebuch durch, vorwärts und rückwärts, doch auf keiner Seite war auch nur der kleinste Tintenfleck. Mit einem frustrierten Seufzen schlug ich das Buch wieder zu. Na toll, die ganze Mühe umsonst. Und ich hatte mir schon Hoffnungen gemacht.
Mein Blick wanderte aus dem Fenster. Der Regen hatte aufgehört, und es war etwas heller geworden, doch ansonsten sah es immer noch genauso grau aus wie zuvor. Dennoch glaubte ich, dass mir ein kleiner Spaziergang an der frischen Luft bestimmt nicht schaden konnte. Vielleicht würde das sogar meinen Kopf ein bisschen klären und mir ein paar Erinnerungen zurückbringen. Und selbst wenn nicht – frustrierender als die Spurensuche in dieser Wohnung, die anscheinend keins ihrer Geheimnisse preisgeben wollte, würde es bestimmt nicht sein.
Ich verstaute das ramponierte Tagebuch wieder unter meiner Matratze und zog mir die wärmsten Klamotten an, die ich in meinem großen Kleiderschrank fand. Eine schmal geschnittene, schwarze Jeans, ein wollweißer Pullover mit weitem V-Ausschnitt, schwarze Springerstiefel und eine gefütterte Lederjacke mit abgerundeten Nieten an den Schultern und Kapuze. Auf dem Rücken der Jacke war ein runenartiges Emblem aufgestickt, es sah aus wie das Logo von irgendeiner düsteren Musikband. Das Outfit war ein bisschen gewagt, doch ich fühlte mich darin sofort wohl.
Als ich in den Jackentaschen wühlte, fand ich sogar ein weißes Smartphone, ein Schlüsselbund und eine dicke Armbanduhr. Die Uhr befestigte ich sofort um mein linkes Handgelenk, natürlich passte sie perfekt. Nun zu dem Handy. Mein Herz klopfte plötzlich wieder etwas schneller. Wenn mir schon das sogenannte Tagebuch nicht weiterhelfen wollte, konnte das vielleicht das Handy tun? Ich könnte ja einfach mal alle eingespeicherten Nummern durchschauen und bei jedem mal anrufen, oder...
Meine Hoffnungen zerplatzten wie eine Seifenblase, als sich das Handy nicht einschalten ließ und mir klar wurde, dass der Akku wohl leer war. Mit einem enttäuschten Seufzer brachte ich das Handy in das Wohn- und Computerzimmer, wo ich es, nach kurzer Suche nach dem richtigen Aufladekabel, an einer Steckdose anschloss. Dann musste ich mit dem Handy wohl noch etwas warten.
Heute war irgendwie echt nicht mein Tag.
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BeitragThema: 2. Misery (Teil 2)   Die Stadt Namenlos EmptyDi Aug 27, 2013 3:47 pm

Uuuund hier der zweite Teil des Kapitels Wink



2.4 Lux

Vor einer Bürotür, an der ein schlichtes Namensschild mit der Aufschrift „Jonas Black“ prangte, machte ich Halt und trat, ohne zu klopfen, ein. Wie ich erwartet hatte, saß in dem kleinen, fensterlosen, düsteren Büro dahinter mein guter Freund Jonas vor einem großen Computer, auf dessen Tastatur er emsig herumhackte. Gebannt wie ein Computerspiel-Süchtiger starrte er mit glasigen Augen auf den Bildschirm und kaute angestrengt auf seiner Unterlippe, die bereits ganz ausgefranst und blutig aussah.
„Was gibt’s, Ian?“, fragte er tonlos, ohne sein Tun zu unterbrechen, noch bevor ich überhaupt den Mund öffnen konnte.
„Ach, du erwartest also Ian?“, fragte ich leicht amüsiert zurück. Endlich schaute Jonas für eine Viertelsekunde zu mir auf, wobei seine Finger immer noch weitertippten, als hätten sie ein Eigenleben entwickelt. Vielleicht hatten sie das inzwischen ja sogar. „Ja, Ian wollte mir noch ein paar Unterlagen bringen“, sagte er, runzelte die Stirn und hackte ein paar Mal besonders brutal auf die arme Tastatur ein. Was das arme Ding ihm getan hatte, war mir bis zum heutigen Tag ein Rätsel.
Ich räusperte mich. „Du scheinst ja sehr beschäftigt zu sein. Bist du etwa enttäuscht, dass nicht Ian, sondern NUR ich dir einen Besuch abstatte?“
Mit einem bedauernden Seufzen und mit sichtlicher Schwierigkeit löste Jonas seine Finger von der gequälten Tastatur und rollte auf seinem Bürostuhl einen Meter rückwärts, um nicht wieder in Versuchung zu geraten. Meine Mundwinkel zuckten, doch ich behielt mein Pokerface bei, als er mir entschuldigend zulächelte. „Sorry, Lux. Es ist nur... Du hast schon recht, ich bin sehr beschäftigt.“ Er zuckte mit den Schultern und rieb sich die wunden Finger. „Also, was gibt’s so Wichtiges, dass du persönlich zu mir kommst?“
„Darf ich jetzt noch nicht mal bei dir vorbeischauen, um einfach Hallo zu sagen?“, fragte ich zurück.
„Doch, klar. Aber das ist doch sonst nicht deine Art.“ Mir fiel auf, dass sein Blick immer wieder wie magnetisch von dem Computerbildschirm angezogen wurde. Was hatte er denn da so Wichtiges zu tun? Irgendwie war seine Arbeit immer so extrem wichtig. Das behauptete Jonas zumindest jedes Mal.
Wäre er nicht mein bester Freund gewesen – oder besser gesagt, eine der wenigen Personen, die mir nicht vollkommen egal waren – hätte ich ihm ziemlich die Hölle heiß machen können, weil er meinen „hohen Besuch“ so offensichtlich nicht wertschätzte. Stattdessen schob ich die malträtierte Computertastatur ein Stück zurück ließ ich mich direkt vor Jonas' Nase auf seiner Schreibtischkante nieder. Kurz zuckten seine Finger und die rot geränderten Augen huschten hin und her, als er erfolglos versuchte, noch an mir vorbei zu dem Bildschirm zu linsen.
Ich kam direkt auf den Punkt für den Grund meines Besuchs. „Aus dem Erziehungsinternat Country sind ein paar Jugendliche ausgebrochen. Sagt dir das was?“
Damit erlangte ich sofort seine Aufmerksamkeit – ein seltenes Ereignis. Er sah plötzlich hellwach aus (ein noch selteneres Ereignis). Zumindest so hellwach, wie jemand aussehen konnte, der in den letzten drei Monaten geschätzt so viel geschlafen hatte wie ich in den letzten drei Tagen. „Öhm... ja, hab ich schon mal gehört...“, murmelte er, Desinteresse vortäuschend.
„Schon klar.“ Mit einem kühlen Grinsen breitete ich eine handvoll Fotos neben mir auf der Tischplatte aus. Die Hochglanz-Bilder reflektierten das funzelige Licht der weißen Neonröhre, die an der Decke hing und den Raum erhellen sollte (aber in der Realität mehr Schatten als Licht schuf). Sofort wanderte Justus' Blick zu den Bildern und ich wusste, dass er mindestens einen der abgebildeten Jugendlichen erkannte, auch wenn er keine Miene verzog.
„Sind das die Geflohenen?“, fragte er in einem bemüht sachlichen Tonfall.
„Ja.“ Ich lehnte mich ein bisschen vor und die Tischplatte knarrte leise. „Also sag schon, wie hast du es angestellt, sie da rauszuholen? Keine der Alarmanlagen und Sicherheitsvorrichtungen hat angeschlagen, als sie geflohen sind. Der arme Internatsleiter kann sich das gar nicht erklären und zittert bestimmt gerade um seinen Arbeitsplatz. Eigentlich ist es unmöglich, die Alarmanlagen zu umgehen, wie wir alle wissen.“ Ich legte den Kopf leicht schief. Justus machte einen leicht in die Ecke gedrängten Eindruck und wusste nicht, wo er hinschauen sollte. „Es sei denn, man sitzt in der Hauptzentrale der OE und hat die Kontrolle über das gesamte Stromnetz und Internet in Namenlos.“
Justus schwieg. Es war still in dem kleinen Raum, nur das Surren der Neonröhre und das Rauschen der Rechner, die sich auf dem Tisch, unter dem Tisch und an allen Wänden stapelten, war zu hören. „Würdest du mir glauben, wenn ich sage, dass ich damit absolut gar nichts zu tun habe?“, murmelte er.
„Nein“, antwortete ich schlicht.
„Hab ich mir schon gedacht.“ Er seufzte, doch dann grinste er mit leisem Stolz zu mir hoch. „Es war gar nicht mal so einfach. Ich hab mich in das Computer-Netz des Internats gehackt und alle Alarmanlagen und Elektrozäune, und was die da sonst noch alles für Kram haben, deaktiviert. Die Videokameras hab ich einfach die Aufnahmen vom selben Tag des letzten Jahres wiederholen lassen, damit niemandem etwas auffällt.“
„Nicht schlecht.“ Ich war nicht ernsthaft beeindruckt. Ich kannte mich mit Computern nicht wirklich aus, aber dass Jonas ein begnadeter Hacker war, wusste ich schon lange. „Du weißt schon, dass du mit deinem Talent die Herrschaft der ganzen Stadt an dich reißen könntest, oder?“
„Und damit ein Riesen-Chaos auslösen? Nein danke. Das ist mir zu riskant. Mir reicht es schon zu meinem Glück, ab und zu die Aufnahmen einer Überwachungskamera in einem Damenklo anzuschauen.“ Mit einem selbstzufriedenen Lächeln streckte er die müden Arme über den Kopf und streckte die Handgelenke durch, bis sie knackten. Er schien wieder etwas entspannter und beruhigt, dass ihm von mir anscheinend keine Gefahr drohte. Dann wurde er wieder ernst. „Nein, ernsthaft, ich will nur Eric etwas helfen. Er hat das nicht verdient.“
Ich konnte praktisch zuschauen, wie das schlechte Gewissen auf sein Schlafmangel-geprägtes Gesicht kroch und beschloss, wieder zum eigentlichen Thema zurück zu kehren. Dass Jonas, schon seit ich ihn kannte, in dem Zwiespalt steckte, wie sehr er Eric helfen konnte, ohne sich selbst zu sehr in Gefahr zu bringen, wusste ich schon längst. Schließlich hatte ich ihm ja sogar geholfen, seinen alten Kindheitsfreund Eric ausfindig zu machen, nachdem dieser verschwunden und in irgendein (uns damals unbekanntes) Internat gesteckt worden war.
„Aber woher wusstest du überhaupt den Zeitpunkt, an dem sie verschwinden wollten?“, hakte ich weiter nach. Ich bemerkte, dass Jonas' Blick voller Schuldbewusstsein an dem blutleeren Abbild von Eric klebte und er wieder besorgt auf seiner Unterlippe herumkaute. Er könnte auch echt mal ein bisschen Verantwortungsbewusstsein für seine eigenen Körperteile entwickeln. Um die arme Lippe zu retten und Jonas von seinen sicherlich düsteren Gedanken abzubringen, die uns beiden nicht weiterhalfen, sammelte ich die Fotos mit einer raschen Handbewegung wieder zu einem Stapel zusammen.
„Den Zeitpunkt... nun ja, das war eigentlich ziemlich einfach.“, sagte er etwas tonlos. Er räusperte sich. Endlich schaute er wieder zu mir auf und seine Augen klärten sich ein bisschen. „Ich hab Eric eine E-Mail geschickt. Die Schüler haben ja alle einen eigenen Computereingang mit Mail-Postfach an der Schule.“ Er lehnte sich zurück und schloss die Augen, während er erzählte. Er sah plötzlich sehr, sehr müde aus. „Normalerweise kontrollieren die Lehrer jede Mail, bevor sie zu dem jeweiligen Schüler durchgeleitet wird. Aber ich hab es geschafft, eine Nachricht an dieser Kontrolle vorbei zu lenken. Ich hab Eric geschrieben, um welche Uhrzeit ich jede Nacht die besten Fluchtbedingungen für ihn vorbereite, sodass er also immer nachts ein paar Stunden Zeit hat, in denen er theoretsich gut fliehen könnte. Ich wusste natürlich nicht, dass er noch andere Leute mitnehmen würde, aber hey – je mehr, desto besser.“
„Und die Lehrer haben diese Mail nie gefunden? War das nicht ziemlich riskant? Du hättest Eric ganz schön in Schwierigkeiten bringen können“, sagte ich stirnrunzelnd. Es war keine Ermahnung, sondern nur eine Feststellung. Mir war es ziemlich egal, was mit diesem Eric passierte. Und dass er und Jonas ziemlich gegensätzlich zu den Interessen der OE arbeiteten, war mir auch egal – ich hatte mich zu der OE noch nie besonders loyal gefühlt, auch wenn ich genau dies natürlich meinen Eltern vorgaukelte. Für mich war das alles einfach ein spannendes Kräftemessen, etwas Abwechslung in meinem drögen Alltag und ich hatte deshalb auch kein schlechtes Gewissen, wenn ich Jonas bei seinen Plänen half – aber auch keins, wenn ich ihm nicht half.
„Nein, ich hab die Mail so eingestellt, dass sie sich nach einer bestimmten Zeitspanne selbst löscht. Sicher ist sicher.“ Jonas tippte sich gegen die Schläfe. „Bin ja nicht so blöd, wie ich aussehe.“
„Na, zum Glück“, erwiderte ich trocken, wofür mir Jonas ziemlich kraftlos gegen ein Knie boxte. „Und was hast du jetzt geplant?“, wollte ich wissen. Ich rutschte ein paar Zentimeter von dem Computerbildschirm weg, dessen abgestrahlte Hitze sich langsam, aber stetig durch meine Kleider und in meinen Rücken fraß, was auf die Dauer nicht besonders angenehm war.
Jonas zuckte nur die Schultern und wich meinem Blick aus.
Ich verdrehte die Augen. Eins musste man ihm lassen, Jonas war loyal – aber an Mut fehlte es ihm oft gewaltig. Doch da ich heute meinen gnädigen Tag hatte, beschloss ich, ihm mal ein bisschen in den Hintern zu treten. Ich lehnte mich wieder vor, um ihm eindringlich in die Augen sehen zu können. „Die ganze OE ist schon über den Vorfall informiert und sucht nach ihnen. Also, an deiner Stelle würde ich lieber schnellstmöglich etwas unternehmen und versuchen, deinen Freund zu finden, bevor wir ihn finden!“, zischte ich.
Mit einem Klack und einem leisen Quieken öffnete sich die Bürotür. Ich setzte mich wieder aufrecht hin, als Jonas und ich beide zu Ian aufschauten, der einen überaus dicken, schwarzen Aktenordner durch die Tür schleppte. Er hob eine Augenbraue, als er sah, wie ich mich von Jonas zurückzog. „Stör ich?“, fragte er und schob die Bürotür mit dem Ellenbogen zu. Mit einem Schnaufen knallte er den Ordner neben mir auf den Tisch und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn.
„Du hast ein Talent, uns immer dann zu stören, wenn es gerade am schönsten ist“, erwiderte ich so todernst, dass es sarkastisch klang. Ich richtete mich so elegant auf, wie man sich eben von einem vollgerümpelten Computer-Tisch zwischen zwei Computer-Nerds aufrichten konnte. Ian schaute höchst verwirrt zwischen uns beiden hin und her und fragte sich vermutlich, ob ich meine Worte ernst meinte. Es amüsierte mich, wie einfach es war, ihn durcheinander zu bringen. Vor allem schaffte ich das jedes Mal, wenn wir einander sahen.
Äußerlich ließ ich mir jedoch nichts anmerken. „Also, denk an meine Worte“, sagte ich kryptisch zu Jonas und streifte im Vorbeigehen seine Schulter mit meiner Hand. Ich spürte Ians Blick förmlich im Nacken, und als ich das Büro verließ, erlaubte ich mir für einen Moment, vergnügt in mich hinein zu grinsen.
Ah, es war doch angenehm, wie Jonas immer wieder dazu beitrug, dass mein graues, todlangweiliges Leben wieder etwas spannender wurde. Ich hoffte nur, dass er sich meinen Rat zu Herzen nahm und Eric fand, bevor es zu spät war. Sonst wäre diese nette kleine Abenteuergeschichte zu schnell wieder zu Ende.
Als ich mit hallenden Schritten durch den langen, runden Gang ging, der vollkommen mit Edelstahl ausgekleidet war und somit einem außerirdischen Tunnel glich, fiel mein Blick plötzlich auf einen Mitarbeiter, der sich mir näherte und mit jedem Schritt langsamer wurde. Es war eins dieser kleinen, rundlichen Milchgesichter, deren Namen ich mir nie merken konnte, und an seinem komplett dunkelgrauen Anzug erkannte ich sofort, dass er aus einer niedrigeren Abteilung kam. Er starrte mich an, als wäre ich gerade einem Ufo entstiegen.
Wahrscheinlich hatte er noch nie zuvor mein Lächeln gesehen, das in der Regel ziemlich teuflisch aussehen musste, da neunzig Prozent aller Menschen mich so anglotzten wie dieses armselige Exemplar, sobald sie mich zum ersten Mal lächeln sahen. Vermutlich ähnelte ich in den Augen der meisten Leute einem düsteren, mysteriösen Sensemann, und wenn ich mal lächelte, waren sie total schockiert, weil das ja bestimmt nichts Gutes bedeuten konnte. Ts.
Aber da mein täglicher Lächel-Konsum mit vier Sekunden sowieso schon mehr als überschritten war, setzte ich wieder meine glatte, emotionslose Maske auf und fragte kühl: „Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?“
Der arme Kerl schluckte nervös, nahm sich dann aber ein Herz und war mit drei großen Schritten bei mir. „Ich soll Ihnen von Ihrem Vater ausrichten, sich unverzüglich in seinem Büro einzufinden.“ Er trug es vor wie ein Gedicht und schaute mich an, als ob er dafür nun Lob oder Tadel erwartete.
„Gibt es einen bestimmten Grund?“, wollte ich wissen.
„Nein, er hat mir keinen genannt.“ Er machte eine merkwürdige Bewegung, als wollte er mit den Schultern zucken, war aber noch nicht einmal dafür in meiner Gegenwart locker genug.
„Na gut, dann werde ich es wohl selbst herausfinden müssen“, seufzte ich und der Kerl marschierte mit einem Nicken sichtlich erleichtert von dannen. Ich steuerte den nächsten Fahrstuhl an und fragte mich, was mein Vater bloß mit mir besprechen wollte. Und dann auch noch so dringend, dass er mich spontan zu sich rufen ließ, anstatt einen Besprechungstermin festzulegen! Das sah ihm gar nicht ähnlich. Hoffentlich war es nichts Unangenehmes.


2.5 Eric

Tobias war sauer. Nein, nicht nur sauer – er war so wütend, wie ich ihn noch nie erlebt hatte. Nachdem ich, total vom Stroh zerstochen, wieder vom Dach herunter geklettert war, hatte er mir erstmal einen Vortrag darüber gehalten, was mir eigentlich einfiele, mich so in Gefahr zu begeben. Dabei hatten wir nun wirklich andere Probleme – allen voran natürlich Lisa, die unten auf dem Boden lag und sich nicht mehr rührte. Und das hatte ich auch nicht gerade freundlich versucht, Tobias klar zu machen, während die anderen nach unten eilten, um nach Lisa zu sehen.
Im Nachhinein stellte sich heraus, dass sich die Ärmste zwar einige Knochen gebrochen hatte, ansonsten aber in Ordnung war. Na ja, abgesehen von ihrer psychischen Verfassung natürlich. Bis die Wirkung des Misery-Pulvers abklang, hatten wir sie vorerst auf die Couch ins Wohnzimmer verfrachtet, wo immer abwechselnd einer von uns sitzen und auf sie aufpassen musste. Wobei ich nicht glaubte, dass sie sich innerhalb der nächsten Tage von allein irgendwohin bewegen würde.
Tobias war nach unserem Streit die Treppe zum Dachboden hochgestampft – ob er nun auf unseren Gefangenen aufpassen oder seine Wut an ihm auslassen wollte, war mir nicht ganz klar, aber es war mir auch egal – und ich verabschiedete mich für einen kleinen Spaziergang. In meinem Kopf rumorte ein Gefühlschaos, dass ich nicht wirklich verstand, und ich hoffte, dass ein wenig frische Luft meine Gedanken ein wenig klären und mich beruhigen würde. Irgendwie waren wir alle seit unserer Flucht ziemlich emotional geworden, und es wurde immer schlimmer. Wobei ich mir noch nicht sicher war, ob es wirklich etwas „Schlimmes“ war. Zumindest war es beängstigend. Ich hatte in den letzten Stunden mehr Wut, Zuneigung, Angst und Mitgefühl empfunden als in den vergangenen Jahren. Es war mir unerklärlich, und ich wusste noch nicht, wie ich damit umgehen sollte.
Ich trat nach draußen in die noch aufgeheizte Abendluft und atmete ein paarmal tief durch. Ah, das tat gut. Die Luft hier auf dem Land war... irgendwie frischer als in der Stadt, oder im Internat. Ich ließ den Blick über die karge Landschaft schweifen: verdorrte, sanft geschwungene Hügel, die im späten Abendlicht noch schwach golden glühten. Hier und dort standen vereinzelte knorrige, ziemlich tot aussehende Bäume, deren schwarze Silhouetten wie Geisterhände aus dem Boden in Richtung Himmel griffen.
Ich durchquerte den kleinen Gemüsegarten vor dem Haus, durch den ein schmaler Kiesweg bis zu einem kleinen, offen stehenden Tor führte. Wie es der Bewohner dieses Hauses schaffte, aus dieser toten Erde Gemüse hervor zu bringen, war mir ein Rätsel. Vielleicht hatte er ja einen bestimmten Dünger. Wer Misery-Pulver lagerte, hatte doch bestimmt auch noch andere merkwürdige Mittelchen.
Hinter dem Tor begann direkt die Einöde, Straßen schien es nicht zu geben. Als ob man aus der Tür einer kleinen Oase heraus die Wüste betrat. Jedoch eine Wüste mit Sitzgelegenheit, fiel mir auf, als ich unter einem nahen, ziemlich verkrüppelten Baum eine kleine Bank entdeckte. Ich steuerte sie an und ließ mich auf das knarrende, vertrocknete Holz sinken, das noch ein bisschen warm von der Sonne war, aber rasch abkühlte.
Von der Bank aus hatte man einen weitreichenden Blick über die Landschaft und konnte aus dem rechten Augenwinkel auch noch das Haus sehen. Von hier aus sah es wirkte es wieder ziemlich klein, ganz anders als in dem Moment, als ich auf dem Dach gesessen hatte. Da hatte es plötzlich ziemlich hoch ausgesehen, und auch Lisas Knochenbrüche zeigten, dass es höher war, als man im ersten Moment glaubte.
Ich wandte den Blick ab, als verschiedenste Gefühle wie eine erdrückende Welle wieder in mir hochschwappten. Schließlich war ich nicht hierher gekommen, um mir noch länger Gedanken um Lisa oder Tobias oder irgendwen anders zu machen. Zum Beispiel Stefan, der nun kalt und leblos irgendwo in der sandigen Erde lag und nie wieder aufwachen würde...
Ich schluckte gegen den dicken Kloß an, der sich plötzlich in meinem Hals gebildet hatte. Meine Augen brannten. Verdammt, was war denn heute mit mir los?! Ich kniff die Augen zusammen und blinzelte gegen die Tränen und das Sonnenlicht hinauf in den Himmel, versuchte, mich auf die letzten Sonnenstrahlen zu konzentrieren, die über den Horizont blitzten. Die Sonne war hier irgendwie auch heller als an allen anderen Orten, die ich bisher kannte. Und die gelblich-grauen Wolken waren nicht so dicht, gaben sogar vereinzelt kleine Fetzen des langsam dunkler werdenden Himmels frei. Insgesamt wirkte die Luft klarer, weniger vernebelt. Sehr seltsam...
Da traf mich plötzlich die Erkenntnis. Aber natürlich! Wieso war mir das die ganze Zeit nicht aufgefallen?!
„Na, worüber denkst du nach?“
Aus meinen Gedanken gerissen, zuckte ich leicht zusammen. Der Schatten einer Person verschattete mein Blickfeld und als ich den Kopf hob, sah ich mich direkt Hannas lächelndem Gesicht gegenüber – und einem Sandwich, das sie mir vor die Nase hielt. „Ich dachte, ich bring dir was zu essen mit. Du hast doch sicher Hunger, oder?“
Und wie! Mein Magen rumorte laut, als mir der verlockende Duft von Schinken und Käse in die Nase stieg. Dennoch streckte ich nur zögerlich eine Hand danach aus. „Und du bist sicher, dass da nicht dieses Pulver drin ist?“
„Nein, keine Sorge. Das Pulver sieht anders aus, und ich wüsste auch nicht, was es für einen Sinn machen würde, es in Brot zu verbacken.“ Sie setzte sich neben mich auf die schmale Bank und ich rutschte ein Stück zur Seite, um ihr Platz zu machen. Dennoch berührten sich unsere Schultern und Beine leicht, als sie saß. „Wir haben noch eine größere Vorratskammer im Keller gefunden, wo das ganze Essen lagert. Und wir haben alles durchsucht, da ist weit und breit kein Misery-Pulver. Also alles ok.“ Wie um das zu unterstreichen, biss sie in ihr Sandwich, und ich tat es ihr nach kurzem Zögern gleich. Was blieb mir auch anderes übrig, als ihr zu vertrauen?
Eine Weile aßen wir schweigend und schauten gemeinsam in den Himmel, der von Minute zu Minute dunkler wurde. Es war zum Glück nicht unangenehm, mit Hanna zu schweigen. Ganz im Gegenteil. Von mir aus hätten wir hier auch noch stundenlang sitzen können. Aber spätestens nach zehn Minuten würde bestimmt ihr Bruder nach ihr suchen. Wo steckte der überhaupt? Ich schaute mich um, erwartete schon fast, ihn irgendwo in der Nähe lauern und uns beobachten zu sehen.
„Suchst du irgendwas?“, brach Hanna das Schweigen und wischte sich mit dem Handrücken ein paar Krümel von den Lippen.
„Nicht wirklich... ich bin nur ein bisschen verwundert, dass Paul dich ganz allein hier nach draußen gehen lässt.“ Ich grinste, obwohl ich meine Worte nur halb im Scherz gemeint hatte.
Hanna verdrehte die Augen. „Glaub mir, wenn er wüsste, dass ich alleine hier draußen in der gefährlichen Wildnis bin, würde er im Quadrat springen. Nein, er wurde nur gerade dafür eingeteilt, für den Rest des Abends auf Lisa aufzupassen, und ich hab ihm gesagt, dass ich schon mal ins Schlafzimmer gehe und ein bisschen schlafe.“ Sie zuckte die Schultern. „In Wahrheit bin ich dann im Schlafzimmer aus dem Fenster geklettert.“
Ich schnaubte amüsiert. „Das wird ihm aber gar nicht gefallen, wenn er das erfährt.“
„Er muss es ja nicht erfahren.“ Hanna lehnte sich zurück und lehnte somit auch etwas stärker an mir. „Außerdem bin ich ja hier nicht allein.“
„Ja, stimmt.“ In meinem Bauch kribbelte es plötzlich. Hilfe, dieses Gefühlschaos machte mich noch fertig! „Weißt du, mir ist übrigens etwas aufgefallen“, lenkte ich von dem Thema ab. „Vielleicht hast du es auch schon gemerkt... Wir sind irgendwie alle viel emotionaler als bisher, oder? Ich meine, abgesehen von Helena, aber die zählt nicht. Was ich meine, ist...“ Ich atmete einmal tief durch und versuchte, meine Gedanken zu ordnen und nicht wirres Zeug zu reden. Irgendwie brachten Hannas Augen, die mich so aufmerksam anschauten, mich gerade aus dem Konzept. „In der Stadt ist es irgendwie viel nebliger als hier auf dem Land. Sogar im Internat war es irgendwie immer... neblig. Dunstig. Und in diesem kleinen Haus hier auch, aber nur ein bisschen. Also müsste es doch stimmen, dass die OE aus diesem Misery-Pulver den Nebel herstellt, und der stumpft alle Emotionen ab. Nur hier auf dem Land lebt ja fast niemand, da machen sie sich gar nicht erst die Mühe, den auch hier zu verteilen.“
„Hm.“ Nachdenklich tippte sie sich gegen das Kinn und schlug die Beine übereinander. „So ähnlich hab ich mir das auch immer gedacht, aber es gab ja keine wirklichen Beweise. Die OE behauptet ja immer, dass der Nebel ganz natürlichen Ursprungs ist und sie gar nichts damit zu tun haben.“
„Aber wir können jetzt das Gegenteil beweisen!“
„Prinzipiell schon, aber wie willst du Gefühle beweisen?“
Ich öffnete den Mund, um zu widersprechen, schloss ihn dann aber wieder und gab mich geschlagen. „Also gut, du hast recht. Aber immerhin wissen wir jetzt, dass es stimmt. Die OE stellt diesen Nebel her, um uns zu unterdrücken.“ Ich knirschte wütend mit den Zähnen. „Eigentlich schreit das doch nach einer Rebellion.“
„Also, wenn du einen Plan hast, wie man die OE stürzen kann, dann bin ich dabei“, sagte sie und grinste, doch ich war mir ziemlich sicher, dass sie es sogar ernst meinte. „Viel zu verlieren haben wir ja nicht mehr.“


2.6 Nebula


Es war nun schon das dritte Mal, dass ich Engel sah. Engel mit leuchtender Haut, wallendem Haar in den kräftigsten Farbtönen und Augen, die bunten Edelsteinen ähnelten.  Wäre es mir heute zum ersten Mal passiert, hätte ich wohl gedacht, dass es noch Nachwirkungen vom Somnium waren. Doch ich war nicht im Drogenrausch – ich war in der Kirche und meditierte.
Doch von der Kirche sah ich nichts mehr. Ich sah einen azurblauen Himmel über einer dunklen Stadt. Die Engel stiegen auf langen Strickleitern hinab, teils flogen sie auch, und verbreiteten überall Licht und Leben. Ein Engel schaute mich direkt an und lächelte mir zu. Er hatte so intensiv grüne Augen, dass es mir den Atem verschlug.
Langsam und mit flatterden Lidern öffnete ich meine Augen wieder, als Stellas Stimme meine Meditationsübung beendete und mich in die Wirklichkeit zurückholte. „Und beschütze uns, Fatum, bis in alle Ewigkeit. Auf dich werden wir warten, hoffen und vertrauen...“, betete Stella, die neben mir auf dem harten Steinboden kniete, ihr schwarzes Nonnengewand wie eine dunkle Pfütze um ihren zusammengekauerten Körper ausgebreitet. Sie hatte die Augen geschlossen und lehnte die Stirn an ihre gefalteten Hände.
Ich tat es ihr gleich und wir sprachen gemeinsam die letzten Zeilen des Gebets, das ich schon seit meiner Kindheit auswendig kannte. Stella hatte es mir beigebracht. Sie war wie eine Mutter für mich, seit ich als Baby vor der Kirchentür ausgesetzt worden war und sie sich von da an um mich gekümmert hatte. Heutzutage sahen wir uns jedoch nur noch selten, was aber meine eigene Schuld war. Ich wusste, dass ich sie öfter besuchen kommen sollte, doch auf der anderen Seite war ich mir nie sicher, ob sie sich über meine Besuche wirklich freute. Sie wirkte immer so bedrückt, wenn sie mich sah und ich seit meinem letzten Besuch noch blasser und dürrer geworden war. Stella hatte jahrelang versucht, mich vom Somnium abzubringen, doch erfolglos. Normalerweise hörte ich auf sie, aber wenn es um Somnium ging, prallten ihre Worte an mir ab.
Mir wurden meine schmerzenden Knochen immer stärker bewusst, je länger wir auf dem kalten Steinboden der Kirche hockten, und ich war erleichtert, als unser Gebet an Fatum endlich beendet war. Umständlich und mit steifen Gelenken rappelte ich mich auf und half auch Stella auf die Beine. Sie war ein paar Zentimeter kleiner als ich und man konnte nicht mehr ignorieren, dass sie langsam alt wurde.
Dankbar drückte sie meine Hand mit ihren kühlen, trockenen Händen und schenkte mir den Geist eines Lächelns, ihre Augen voller Güte, aber auch Trauer. Wie immer wirkten sie nach unserer Meditation größer und dunkler als sonst, fast als wäre sie auch auf Drogen. Wahrscheinlich waren Meditation und Gebete ihre Droge. Denn wenn sie nicht süchtig war, wie sollte sie es dann aushalten, praktisch jeden Tag von morgens bis abends in der Kirche zu verbringen?
„Es ist schön, dich mal wieder zu sehen, Nebula“, sagte sie, während wir gemächlichen Schrittes das Kirchentor ansteuerten. Die Kirche war von innen sehr schlicht gehalten, es gab keine Sitzreihen oder Bänke, sondern nur ein Muster von grauen, weißen und schwarzen Mosaiksteinchen auf dem Boden. Sie bildeten einen breiten Weg, der vom Altar zum Tor führte und von dem schmalere Streifen zu den Seiten führten und somit die Sitzreihen ersetzten. Auf diesen markierten Reihen knieten hier und da andere Leute, die ebenfalls meditierten oder beteten, ihre Gesichter in Schatten gehüllt, teils mit hastig flüsterten Lippen, was fast schon manisch wirkte. Die Kirchenfenster waren schmucklos, hoch und schmal, und warf blasse Lichtspeere in die Kirche.
„Du solltest öfter mal vorbeikommen und mit mir beten“, sagte Stella, als wir das Tor erreichten und nach draußen gingen. Ein ungemütlicher Wind peitschte uns entgegen. Es war heute deutlich kühler als gestern und man merkte, dass der Herbst bald kam. „Oder bete zumindest zuhause ein bisschen öfter.“
Ich hätte am liebsten die Augen verdreht, verkniff es mir dann aber. Unsere nie enden wollende Diskussion hatte wieder begonnen. „Ja, ich versuche, daran zu denken“, behauptete ich und Stella nickte, obwohl sie wusste, dass ich das nur so sagte. Ich hielt nicht viel vom Beten – um ehrlich zu sein, glaubte ich noch nicht mal an Fatum, aber das sagte ich Stella lieber nicht. Meditieren dagegen war ab und zu ganz angenehm, um den Kopf frei zu bekommen und einfach in eine andere Welt abzudriften. Es war ein bisschen wie Somnium, nur längst nicht so gut und intensiv.
„Weißt du, wenn wir nur fest genug an Fatum glauben und immer zu ihm beten, wird er uns auch eines Tages erhören. Er wird vom Himmel herabsteigen, Licht herab bringen und uns endlich alle erlösen.“
Oje, Stella hatte wieder eine ihrer Fatum-ist-der-Beste-Phasen. Ein richtiger Fangirl-Moment. Falls man eine fromme, nicht mehr gerade junge Priesterin überhaupt als Fangirl bezeichnen durfte.
„M-hm“, machte ich nur zustimmend. Kurz überlegte ich, ob ich ihr von meinen Engels-Visionen erzählen sollte, doch wie immer verwarf ich den Gedanken sofort wieder. Stella glaubte nicht an Engel, sondern einzig und allein an Fatum. Es war ja schlimm genug, dass ich so selten betete und Somnium nahm – wenn ich ihr jetzt auch noch erzählte, dass ich beim Meditieren Engel sah, würde sie bestimmt nichts mehr mit mir zu tun haben wollen. „Ich muss dann mal los, arbeiten“, sagte ich daher nur, bevor sie mir noch mehr über Fatum erzählte.
„Also gut, dann will ich dich nicht aufhalten.“ Sie drückte kurz meinen Arm und ihr Lächeln verblasste, als sie spürte, wie knochig er war. Sie seufzte und ich zog meinen Arm schnell aus ihrem Griff. „Du solltest wirklich damit aufhören, Nebula“, sagte sie wie jedes Mal leise, genau wissend, dass ich nicht auf sie hörte.
„Mach's gut, Stella“, sagte ich nur und wandte ihr den Rücken zu. Ich zog meinen schwarzen, knielangen Mantel enger um mich. Es war wirklich kälter geworden. Aber es half ja alles nichts – egal, wie kalt es war, und egal, wie elend ich mich von den Nachwirkungen des Somnium fühlte, ich musste trotzdem zur Arbeit: Straßen fegen. Na, wenn das nicht aufheiternd war.






Ich muss ja zugeben, dass ich Lux schon irgendwie liebe xD
Fortsetzung folgt Smile
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BeitragThema: 3. Kalt   Die Stadt Namenlos EmptyMi Sep 04, 2013 1:21 am

3. Kalt


„Grew up in a small town
And when the rain would fall down
I'd just stare out my window
Dreaming of what could be
And if I'd end up happy
I would pray
I could break away“

Kelly Clarkson: Breakaway



3.0 Ash


Als ich schließlich in die große, unbekannte Welt nach draußen trat, schlug mir kühle Luft entgegen. Sie war jedoch nicht so kalt, wie ich befürchtet hatte. Entweder hatte es sich seit heute morgen schon etwas aufgewärmt – auch wenn die Sonne kaum durch die graue Wolkendecke durchbrach – oder meine Wohnung war wirklich ein Kühlschrank. Kurz überlegte ich, ob ich die Jacke wirklich brauchte, entschied mich dann aber dagegen, sie hier zu lassen. So warm war es ja nun auch nicht. Außerdem fühlte sich jeder Luftzug, der über meine Haut strich, irgendwie unangenehm an – fast wie tastende Geisterfinger.
Ich schauderte. Was für eine Metapher! Aber es stimmte: es hing ein feiner Nebel in der Luft, der sich dick, fremdartig, feucht, beinah klebrig anfühlte. Seine Kälte war das einzig Erfrischende an ihm, denn von frischer Luft konnte man hier wirklich nicht sprechen. Im Gegenteil, ich spürte jetzt schon die Anfänge eines kleinen Kopfschmerzes, der sich mit jedem Atemzug minimal steigerte. Ich seufzte. Hoffentlich war hier nicht immer so ein Smog.
Ich versuchte, mir mein Wohnhaus und die Umgebung möglichst genau einzuprägen – ein langweiliges Backsteinhaus umgeben von anderen langweiligen Backsteinhäusern, von denen keins hundertprozentig gerade stand, sodass sie alle ein wenig aneinander zu lehnen schienen – bevor ich auf gut Glück losmarschierte.
Ich musste es zugeben: Mit jedem Schritt auf dem unbekannten Terrain, mit dem ich mich weiter von der relativen Sicherheit meiner kleinen Wohnung entfernte, kroch immer mehr die Angst in mir hoch. Sicher, als ich da drinnen im Trockenen gesessen und nach draußen geschaut hatte, hatte es nicht wirklich gruselig gewirkt, einfach mal nach draußen zu gehen. Aber es war gruselig, durch Straßen zu gehen, die ich nicht kannte, obwohl ich sie eigentlich kennen musste. Sich bei jeder Straßenecke zu fragen, was sich dahinter versteckte. Oh Gott, hoffentlich verlief ich mich nicht! Immer wieder schaute ich mich um, versuchte, mir markante Wegmarkierungen einzuprägen und generell möglichst geradeaus zu laufen.
Leider gab es kaum markante Wegmarkierungen. Alles war irgendwie Grau in Grau, ein fader Cocktail aus Asphalt, Stein, Beton und dem Metall der Autos, das es in allen Grauschattierungen, aber in keinen richtigen Farben zu geben schien. Ich nahm mir vor, nach meiner Rückkehr unbedingt nachzuschauen, ob ich auch ein Auto hatte, und wenn ja, es mir sofort in Rot umlackieren zu lassen. Mir wären sogar Pink oder Lila recht. Diese Farblosigkeit überall war ja nicht zum aushalten. Mir war, dass das einzige wirklich Farbkräftige weit und breit meine eigenen Augen waren, die sich manchmal in Schaufensterscheiben oder Autospiegeln spiegelten.
Die Häuser wurden immer höher und edelstahliger, je weiter ich ging, und die Straßen lebendiger. Ich schien langsam, aber sicher in ein etwas nobleres Business-Viertel vorzudringen. Wobei „lebhaft“ auch eine beschönigende Übertreibung für den Verkehr auf den Straßen war. Sicher, Bewegung war überall, aber irgendwie wirkten alle Menschen nicht wirklich glücklich, sondern erschöpft, ausgebrannt, resigniert. Na ja, in einem Business-Viertel sollte es mich wohl nicht wundern, einige Workaholics mit Burn-Out zu sehen. Aber selbst hier konnten sie doch nicht 100% der Bevölkerung vertreten!
Mich etwas unwohl fühlend, schaute ich mich weiterhin möglichst unauffällig um. Es war laut, der übliche Straßenlärm, aber kein Mensch sagte ein Wort. Soweit die Augen (und die Ohren) reichten, war es ein Einheitsbrei aus tausenden trampelnden Schritten, brummenden Automotoren, dem Rauschen der Busse und Straßenbahnen, dem Rascheln der Kleidung, ab und zu dem Schlagen einer Autotür. Ab und zu sah man – oh Wunder! - sogar jemanden mit einem Handy am Ohr, doch soweit ich es beobachten konnte, hielten all diese Leute ihre Gespräche so kurz wie möglich und redeten mechanischer als Anrufsbeantworter.
Verdammt, diese Menschen könnten alle genauso gut Roboter sein! Oder Zombies! Wo zur Hölle war ich hier gelandet?!
Ich bekam nach und nach das Gefühl, von allen möglichen Leuten angestarrt zu werden. Die meisten Leute hielten ihren Kopf zwar gesenkt, aber viele schauten auf, wenn ich sie passierte, und gafften mich schamlos an. War das nur Einbildung? Wurde ich jetzt schon paranoid? Ständig folgten mir Augenpaare, erstaunte, überraschte, verblüffte, ungläubige. Was gab es denn an mir zu gucken? Vielleicht war mein Outfit wirklich ein bisschen gewagt... Aber nein, es war ja Schwarz-Weiß, und damit entsprach ich hier doch voll und ganz dem Dresscode. Also warum guckten die mir alle so komisch nach, als wäre mir gerade eine Antenne aus dem Kopf gewachsen?!
Ich versuchte, den Blicken auszuweichen, doch wo ich auch hinschaute, begegneten mir Augenpaare. Sie waren alle ziemlich farblos. Und da wurde es mir endlich klar: Ich war weit und breit der Einzige mit einer wirklich intensiven Augenfarbe. Aber hey, deswegen mussten die mich noch lange nicht so angucken wie einen exotischen Affen im Zoo! Ein bisschen Höflichkeit bitte!
Ich beschleunigte meine Schritte, nur um sie kurz darauf wieder zu verlangsamen. Jetzt mach dich mal nicht verrückt, ermahnte ich mich. Mein Herz klopfte trotzdem nervös gegen meine Rippen. Ich flüchtete fürs Erste in einen nahen Supermarkt, um mir ein bisschen was zu Essen zu kaufen. Ich hatte nämlich ziemlichen Hunger.
Leider sah von den Lebensmitteln nichts wirklich appetitlich aus, alles war irgendwie so... lasch. Halb eingetrocknet. Grau. Ha, was für eine Überraschung! Hätte mich nicht mein Spiegelbild schon vom Gegenteil überzeugt, hätte ich spätestens jetzt befürchtet, farbenblind zu sein. Was war das hier, der Fluch der Gräulichkeit?!
Nachdem ich ein bisschen Fertigfutter gekauft hatte – das war wenigstens mit Konservierungsstoffen vollgepumpt, sodass ich mir sicher sein konnte, dass es noch nicht schlecht war – und in der Kassenschlange als scheinbar äußerst interessantes Anschauungsobjekt herhalten musste, verließ ich beinah fluchtartig den Supermarkt. So fluchtartig, dass ich fast mit einem schwarzhaarigen, kränklich blassen Mädchen zusammengestoßen wäre, das hier die Straße fegte. Sie war so dürr, dass sie ihrem Besen Konkurrenz machte. Kurz trafen sich unsere Blicke, und natürlich starrte sie mich auch an wie das achte Weltwunder.
Das reichte. Ich machte auf dem Absatz kehrt und eilte im Laufschritt davon, den Blick zum Boden gesenkt und die Faust um den Henkel der Einkaufstüte so fest, dass meine Knöchel weiß hervortraten. Ich musste weg hier!


2.1 Lux

So wie die Ordnungseinheit – kurz OE – die Stadt Namenlos beherrschte, so beherrschte ihr Zentralgebäude die Skyline der Innenstadt. Es war ein großer Gebäudekomplex mit einem Spinnennetz kilometerlanger Gänge und Wege, welche die zahlreichen Wolkenkratzer und futuristischen Nebengebäude miteinander verbanden. Diese Hauptzentrale der OE bildete das Herzstück der Stadt, sowohl optisch als auch organisatorisch. Die grauen Wolken, die über den Himmel zogen, spiegelten sich in den gläsernen und stählernen Fassaden, welche es sogar bei der niedrigen Sonneneinstrahlung schafften, zu blitzen und zu glänzen. Die Gebäude stachen besonders hervor, da alle umliegenden Häuser im Vergleich viel grauer, kleiner und schäbiger aussahen. Von nirgendwo hatte man einen so weiten Ausblick über die Stadt wie von dem höchsten Gebäude der OE, und anders herum konnte man auch von fast jedem Standpunkt in der Stadt die höchste Spitze dieses Wolkenkratzers sehen.
Hier oben, in luftigen Höhen knapp unter der Wolkendecke, stieg ich aus dem silbernen Aufzug und warf nur einen kurzen Blick auf die Stadt tief unter mir, als ich meinen Weg durch den gläsernen Gang begann. Ich rieb mir die Ohren und schluckte ein paarmal, um den Druck in den Ohren und im Kopf loszuwerden, der sich bei der Fahrstuhlfahrt darin eingenistet hatte. Das passierte mir jedes Mal, wenn ich von einer der unterirdischen Etagen hierher, in die 70. Etage, fahren musste, nur weil mein Vater mit mir sprechen wollte. Sowieso musste ich immer viel mit dem Aufzug hoch und runter fahren, weil sich die wichtigsten Abteilungen der OE entweder in dem weit verzweigten Untergrund oder hier, in den allerhöchsten Etagen, befanden. Aber immerhin musste ich nur selten dieses Gebäude verlassen, um Dinge in den Nebengebäuden zu erledigen.
Ich ging zügigen Schrittes voran. Mein Vater mochte es nicht, warten zu müssen. Auf meinem Weg begegnete ich nur wenigen Menschen, die meisten nickten mir nur kurz zu, bevor sie meinem Blick auswichen. Wie höflich. Einige fummelten sogar mit Gebäudeplänen herum, was ich ihnen nicht übelnehmen konnte – unsere Gebäude bildeten ein wahres Labyrinth aus Wegen, Gängen, Tunnels und Aufzügen und viele Mitarbeiter fanden sich auch nach Jahren noch nicht ohne einen Lageplan zurecht. Besonders in den unterirdischen Gänge, die alle identisch aussahen, konnte man sich schnell mal verlaufen. Ich würde mich hier jedoch überall blind zurechtfinden, schließlich war ich in den Räumlichkeiten der OE praktisch aufgewachsen und verbrachte auch jetzt noch einen Großteil meiner Zeit hier. So war das eben, wenn die Eltern die Anführer der OE und dazu auch noch Workaholics waren.
Ich kam an einer Sicherheitstür an, hinter der sich die Büros meiner Eltern und ein paar anderer wichtiger Leute befanden. Nachdem ich einen Handflächen-Scanner, einen Netzhaut-Scanner und einen Gesichtserkennungs-Scanner hinter mich gebracht hatte, öffneten sich endlich vollautomatisch die Stahltüren mit einem leisen Surren. Ich betrat einen kleinen, fensterlosen Zwischenraum und die Türen hinter mir schlossen sich wieder. Direkt vor meiner Nase befand sich eine identische Doppeltür, die jedoch fürs Erste geschlossen blieb. Früher hatte ich mich in diesem winzigen Raum oft eingesperrt und wie erdrückt gefühlt, und auch jetzt noch konnte ich ein leichtes Gefühl der Klaustrophobie nicht abschütteln.
Ich war jedoch inzwischen daran gewöhnt und schaute mit unbewegtem Gesicht zu der Kamera auf, die über meinem Kopf angebracht war. Sie starrte genauso ausdruckslos zurück. „Lux Sombris. Mein Vater hat mich rufen lassen“, meldete ich mich an.
Ein mechanisches Quietschen war zu hören, dann glitten die Metalltüren vor mir ebenfalls zu den Seiten und ich atmete leise auf, als ich den Gang dahinter betrat. Hier sah alles wieder relativ normal aus, wie in einem normalen Büro eben. Zwar waren Wände, Boden und Decke in einem sterilen Weiß gehalten, aber immerhin gab es an den beiden Enden des Flurs Fenster, sodass man sich wenigstens nicht mehr so fühlte wie in einer futuristischen Stahlfestung. Ehrlich gesagt verstand ich diese ganzen Sicherheitsvorkehrungen sowieso nicht. Ich hatte mich durch die Bevölkerung der Stadt noch nie bedroht gefühlt. Von denen hatte doch sowieso niemand die mentale Kraft oder die Motivation, uns, die unantastbare OE, anzugreifen. Dafür wurde schon gesorgt. Aber meine Eltern waren ein wenig paranoid, was die Sicherheit der OE und vor allem unsere persönliche Sicherheit anging. Ich war nicht so ängstlich, aber vielleicht war ich auch einfach nur naiv.
In dem schmalen, kurzen Flur gab es nur wenige Türen. Die Tür in der Mitte, vor der ich nun direkt stand, gehörte zum Büro meines Vaters, dessen Name in ein prunkvolles silbernes Namensschild eingraviert war. Über der Tür hing ein Bildschirm, der zuerst schwarz war, jedoch nach wenigen Sekunden anflackerte. Er zeigte die Sekretärin dieses Spezialbereichs, eine kleine runde Kugel mit aschblondem Haar, das zu einem simplen, kurzen Pferdeschwanz gebunden war. Wie es sich für eine so hohe Stellung gehörte, trug sie eine Bluse mit engem Ausschnitt, dazu einen schlichten hellgrauen Blazer und eine Perlenkette. Sie sah viel älter aus, als sie wahrscheinlich war. Ich hatte kein gutes Gedächtnis für Namen und Gesichter, aber auch mir war vor kurzem aufgefallen, dass wir bis vor einigen Wochen noch eine andere Sekretärin gehabt hatten. Sie war älter gewesen, aber nicht so alt, dass sie schon in Rente hätte gehen können. Ich fragte mich nicht zum ersten Mal, was aus ihr geworden war. Aber dann wiederum, warum sollte mich das interessieren?
„Herr Sombris ist im Augenblick noch beschäftigt, er wurde jedoch... äh... über ihr Kommen benachrichtigt. Bitte setzen Sie... äh... nehmen Sie einen Moment Platz.“ Sie lächelte nervös, aber auch ein wenig stolz, bevor der Bildschirm wieder mit einem Flackern erlosch. Ich schüttelte leicht den Kopf. Jedes Mal der gleiche Spruch, und bisher hatte sich das junge Ding jedes Mal dabei verhaspelt. Es konnte mir ja egal sein, warum mein Vater sie anstelle der alten Sekretärin eingestellt hatte, aber verstehen konnte ich es nicht.
An der Wand des Flurs, zu der mein Rücken gekehrt war, gab es keine Türen, aber dafür ein paar weiße Plastikstühle mit Edelstahlbeinen, die so sorgsam in einer Reihe aufgestellt waren, dass man sich gar nicht traute, einen von ihnen zu verrücken. Die Stühle sahen aus wie in einer Arztpraxis und waren auch genauso bequem, also kam ich der Bitte der Sekretärin nicht nach, sondern trat gemütlichen Schrittes zum linken Ende des Flurs, wo ich vor dem kleinen Fenster stehen blieb. Ich rückte meine Kapuze zurecht, bevor ich die Hände in die Taschen meines langen, schwarzen Mantels schob und aus dem Fenster schaute.
Mehrere hundert Meter unter mir wuselten Menschen, Autos, Straßenbahnen und Busse durcheinander. Sie waren kleiner als Streichholzköpfe und die einzelnen Fußgänger waren nur als grau melierte Masse erkennbar. Obwohl ich wusste, dass sich dort unten alles bewegte, die Menschen- und Verkehrsmassen um die Häuser herumschwappten, sah es von hier oben alles sehr langsam aus, wie in Zeitlupe. Rasender Stillstand. Ich ließ meinen Blick schweifen, über die Skyline der anderen Wolkenkratzer und das Mosaik der kleineren Gebäude, die zum Horizont hin immer kleiner, flacher und schlechter zu erkennen wurden. Ich wusste, dass irgendwo da hinten im Dunst die letzten Ausläufer der Stadt einer fruchtlosen, verdorrten Landschaft wichen, wo nur noch alle paar Kilometer ein vereinzeltes Häuschen stand. Es war mir ein Rätsel, wer dort freiwillig wohnen würde. Aber soweit ich wusste, waren die meisten Häuser außerhalb der Stadtgrenzen heutzutage nur noch Stützpunkte der OE, Speicher für das Misery-Pulver, oder die berühmt-berüchtigten Erziehungsinternate.
Ich fragte mich, aus welcher Entfernung man noch das hohe Gebäude sehen konnte, in dessen obersten Stockwerk ich gerade stand. Fakt war, dass zumindest jeder, der die Stadt betrat, früher oder später den großen Gebäudekomplex der OE entdeckte, in dem es immer summte wie in einem Bienenstock. Obwohl, streng genommen „betrat“ niemand Namenlos – die Stadt war von der Außenwelt abgeschnitten, und das fand ich auch ganz gut so. Es war überschaubar, kontrollierbar. Ich stellte mir vor, wie einer dieser winzigen Menschen dort unten zu mir hochschaute, zu dem Palast der Macht, und durch diesen Gedanken fühlte ich mich plötzlich selbst ganz groß und mächtig. Ich konnte mir einfach beim besten Willen nicht vorstellen, dass einer dieser kleinen, unbedeutenden Menschen dort unten mir etwas anhaben könnte, oder generell, dass irgendjemand auf die Idee kommen könnte, die OE anzugreifen. Dafür war unsere Präsens einfach zu einschüchternd.
Ich seufzte. Es war nichts, worauf ich stolz sein konnte. Man wurde in die OE hineingeboren, es war nichts, worauf man Einfluss hatte. Es lag einfach in den Genen, wir waren eben anders als die gemeine Bevölkerung. Natürlich war ich froh, nicht einer der einflusslosen Bürger zu sein, aber oft war mir mein Leben einfach unglaublich langweilig. Manchmal fühlte ich mich hinter diesen Mauern, die meiner eigenen Sicherheit dienten, eingesperrt. Manchmal störte mich diese Kluft zwischen uns, den Herrschenden, die wir uns praktisch wie Halbgötter fühlen und aufspielen konnten, und den Menschen, über die wir regierten.
Jetzt war einer dieser Momente.
Es war mehr eine Eingebung als eine Sinneswahrnehmung, als ich realisierte, dass die Bürotür meines Vaters sich öffnete. Ich drehte mich um.
„Lux Sombris?“ Die junge neue Sekretärin lugte um die Tür herum, die sie für mich auf hielt. „Ihr Vater ist nun zu sprechen.“
Wie gnädig von ihm. Mit wenigen Schritten war ich bei der Tür und nickte der kleinen blonden Kugel knapp zu, bevor ich das Büro betrat. Es war so groß und geräumig wie fünf normale Büros zusammen. In der Mitte stand ein gigantisches Schreibpult, das mein Vater anscheinend noch nicht mal auszunutzen schien, da nur wenige einzelne Zettel und Stifte darauf lagen, alle akkurat angeordnet. Vor dem Pult standen, in einem Halbkreis angeordnet, zehn weiße Besucherstühle im selben Stil der Wartestühle im Flur. Sie waren nicht vergleichbar mit dem bestimmt viel bequemeren und etwas protzigen schwarzen Ledersessel, in dem mein Vater thronte.
Er erhob sich, als er mich erblickte, und schenkte mir ein kleines Lächeln, das seine schmalen schwarzen Augen nicht erreichte. Ich hatte seine vollen, glatten schwarzen Haare geerbt, doch im Gegensatz zu ihm hatte ich sie nicht kurzgeschnitten und mit Gel an den Kopf geklebt, sondern versteckte meine langen Haarmassen unter der Kapuze, die ich praktisch immer trug.
„Lux“, sagte er und flatterte mit seinem Fledermaus-artigen schwarzen Mantel um den Tisch herum, um mir zur Begrüßung förmlich die Hand zu schütteln. „Schön, dass du so schnell kommen konntest.“
„Die Freude ist ganz meinerseits, Vater“, antwortete ich steif. Ein Außenstehender hätte in seinem rundlichen Gesicht keine Regung gesehen, doch ich nahm sehr wohl wahr, wie seine pechschwarzen Augenbrauen sich kurz kräuselten und die schmalen Lippen leicht zuckten, als er missmutig mit den Zähnen knirschte. Ich verspürte jedoch kein schlechtes Gewissen. Wie du mir, so ich dir.
Mit einem professionellen Lächeln ließ ich mich auf dem Besucherstuhl nieder, der mittig vor dem Schreibpult stand. Mein Vater winkte die junge Sekretärin unwirsch zurück in ihr Büro, woraufhin sie eilig durch eine Seitentür verschwand. Mein Vater flatterte wieder um sein Pult herum und ließ sich, umständlich mit seinem weiten Mantel fummelnd, wieder in seinem Sessel nieder. Ich musste mir ein Grinsen verkneifen. Während mein Mantel knöchellang und figurumschmeichelnd war, schleifte seiner auf dem Boden und hatte die Ausmaße eines Zelts. Eines Familienzelts, wohlgemerkt. Und in der überdimensionierten Kapuze hätte sein gesamter Kopf verschwinden können. Aus irgendeinem Grund hatte es sich in der OE so eingebürgert, dass die obersten Angestellten und die Herrscherfamilie solche weiten, schwarzen Dracula-Mäntel trugen, und je höher die eigene soziale Stellung war, umso riesiger auch der Mantel. Es war ein alberner Brauch, aber immerhin fühlte ich mich in meinem Mantel einigermaßen wohl und kam damit klar – im Gegensatz zu meinem Vater, der sich gerade in den Stoffbahnen verknotet hatte, letztendlich aber den Versuch aufgab, sich zu befreien, und stattdessen mit einem gestressten Seufzer in dem Sessel zurücksank.
„Möchtest du nicht die Kapuze absetzen, Lux?“, fragte er mit einem missbilligenden Stirnrunzeln. „Man sieht dich ja nie richtig. Ich weiß bald selbst nicht mehr, ob ich einen Sohn oder eine Tochter hab!“
Ich lächelte nur unverbindlich, obwohl es mich schon etwas erstaunte, dass er plötzlich wieder etwas annähernd Persönliches zu mir sagte. Wobei es mich nicht gewundert hätte, wenn er wirklich inzwischen vergessen hatte, ob ich sein Sohn oder seine Tochter war. Genau genommen wusste das sowieso niemand, abgesehen von mir selbst, meinen Eltern und meinem früheren Kindermädchen, das aber inzwischen schon das Zeitliche gesegnet hatte. Ich war mittelgroß, mittelschlank, hatte die feinen Gesichtszüge meiner Mutter geerbt und da ich mich stets in meinem weiten Mantel versteckte, war es leicht, die Leute zu verwirren. Ich wollte unpersönlich auftreten, neutral. Immer. Auch vor meinen Eltern.
„Darf ich fragen, warum ich so spontan zu einer Besprechung gerufen wurde?“, fragte ich, ohne auf seine Bitte (oder war es ein Befehl?) einzugehen. Ich warf überdeutlich einen Blick zu der großen, schlichten Wanduhr, die praktisch direkt über dem Kopf meines Vaters hing. Gerade sprang der kurze Stundenzeiger von der 11 zu der 12. „Ich würde nämlich gerne bald Mittagspause machen.“
In dem Moment schwang die Tür der kleinen Sekretärin wieder auf. Sie steckte ihren Kopf heraus und schaute meinen Vater an. „Herr Sombris, gerade sind die Herren Serafin und Novac eingetroffen.“
„Lassen Sie sie herein“, bat mein Vater sie mit einem Winken und die Kleine eilte mit eifrigem Nicken zu der Bürotür, um die beiden hohen Herrschaften herein zu lassen. Ich fragte mich, wie oft sie heute noch hin- und herlaufen musste, um andere Leuten die Bürotür zu öffnen. Und dann fragte ich mich, wie man so... vollschlank sein konnte, wenn man so viel Bewegung hatte.
Die beiden Männer, die den Raum betraten und uns begrüßten, arbeiteten beide direkt unter meinen Eltern und beaufsichtigten ganze Heerscharen von Mitarbeitern. Auch sie trugen natürlich schwarze Mäntel, die jedoch etwas kürzer waren als meiner und nicht ganz so weite Ärmel hatten. Ich nickte ihnen zur Begrüßung nur kurz zu, bevor ich mich wieder umdrehte. Die beiden kamen mir vage bekannt vor, ich hatte sie schon oft gesehen, aber da ich sowieso ein schlechtes Gedächtnis für Namen und Gesichter hatte, machte ich mir auch diesmal nicht die Mühe, sie mir zu merken.
Die Minuten tickten langsam vorwärts, während nach und nach immer mehr Mitarbeiter den Raum füllten, unter ihnen auch meine Mutter, die sich jedoch von der armen Sekretärin ihren eigenen Sessel aus ihrem Büro schieben und neben meinen Vater hinter das Pult platzieren ließ. Je mehr Leute das Büro füllten, umso merkwürdiger wurde die unangenehme Stille, die auf der Versammlung lastete. Ich hörte überdeutlich das Ticken der Uhr, das Atmen der Kollegen neben mir, ab und zu das Rascheln von Papier oder Stoff und das leise Knarren der Stühle, wenn jemand seine Sitzposition leicht änderte.
Endlich hatten sich alle versammelt und mein Vater erhob sich, die Nervosität auf seinem Gesicht wahrscheinlich nur für mich und meine Mutter sichtbar, da er sich wie immer größte Mühe gab, sie durch Autorität zu maskieren. „Sehr geehrte Versammelte!“, bellte er und es klang fast wie ein Schlachtruf, „Ich möchte Ihnen allen dafür danken, so spontan hier erscheinen zu können.“ Er ließ den Blick über uns schweifen und schaute jedem von uns mit 200% voller Ernsthaftigkeit in die Augen. Ich hielt seinem Blick stand und lehnte mich gelassen in dem Stuhl zurück, während die meisten Mitarbeiter steif wie Bretter auf ihren Stuhlkanten hockten und sichtliche Mühe hatten, nicht dem stechenden Blick ihres Vorgesetzten auszuweichen. War doch alles nur Show. Mein Vater war eigentlich ein ganz miserabler und ungeeigneter Anführer, was er jedoch immer nach besten Kräften zu verstecken versuchte. Meine Mutter hatte deutlich bessere Führungsqualitäten als er, doch leider war er gesetzmäßig in diese Position hineingeboren worden, nicht sie.
„Ihnen ist mit Sicherheit schon aufgefallen, dass wir in unserer Abteilung eine neue Sekretärin haben“, sagte mein Vater schließlich nach dem üblichen Willkommens-Palaber und ich horchte auf. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf die Nebentür zum Büro der kleinen Kugel, in dem sie verschwunden war. „Fräulein Blum ist noch nicht vollständig eingearbeitet, aber ich hoffe, Sie nehmen ihr das nicht übel. Wir sind sehr froh, so schnell und spontan einen Ersatz für Frau Meyer gefunden haben.“ Er verschränkte die Finger unter dem Kinn und schaute sehr ernsthaft in die Runde. „Um direkt auf den Punkt zu kommen – wir haben Frau Meyer nicht entlassen. Sie hat auch nicht gekündigt. Sie wurde ermordet.“


2.2 Eric

Mit der Nacht brach eine unangenehme Kälte herein, sodass wir uns gezwungen sahen, den großen, schwarz verkohlten Backstein-Kamin im Wohnzimmer in Betrieb zu nehmen, wenn wir nicht alle erfrieren wollten. Fröstelnd kuschelten wir uns alle dicht aneinander auf dem platt getretenen Fell vor der Feuerstelle und wickelten uns in alle Decken, die wir finden konnten. Auch unseren „Gefangenen“ holten wir notgedrungen in das Zimmer und fesselten ihn an einen der hölzernen Deckenstützbalken. Ob er im Stehen schlafen konnte oder nicht, darüber zerbrach sich keiner von uns den Kopf. War sein eigenes Problem.
Das knisternde Feuer verbreitete eine merkwürdig gemütliche Atmosphäre – trotz des gefesselten, grimmigen Mannes, trotz Lisa, die noch immer scheinbar ohnmächtig auf dem Sofa lag, und trotz der Tatsache, dass so viel körperliche Nähe eigentlich nicht besonders angenehm war, wenn man sich nicht leiden konnte. Ich lag Rücken an Rücken mit Tobias, der immer noch sauer auf mich war und mich daher eiskalt ignorierte, und vor mir, praktisch in meinen Armen, schlief seelenruhig die kleine Helena, deren blasses Gesicht durch das Licht des Feuers in ein warmes, goldenes Licht getaucht wurde. Hanna war leider nicht in meiner Nähe. Eigentlich hatte ich mich neben sie legen wollen, aber Paul hatte mir daraufhin einen so tödlichen Todesblick zugeworfen, dass ich es lieber nicht gewagt hatte.
Die Wärme und das beruhigende Knistern des Feuers sowie die gleichmäßigen Atemgeräusche der anderen Jugendlichen lullten mich langsam, aber sicher in den Schlaf. Meine Augenlider wurden schon ganz schwer, doch bevor ich endgültig in den Schlaf absackte, hörte ich plötzlich Geräusche, die mich abrupt wieder in die Gegenwart zurückzerrten. Geräusche, die ich ganz bestimmt nicht hören wollte – schon gar nicht aus der Richtung, wo ich Cecilia und Anton vermutete. Ich lag ganz still, tat so, als würde ich schon schlafen, während ich mit offenen Augen in die Glut starrte. Es klang, als würden sie... knutschen! Nein, nein, das konnte doch gar nicht sein. Warum taten sie das? Waren sie etwa verliebt?! Die beiden?
Ich war wieder hellwach, und während ich mich von meinem Schock erholte, kam langsam mein Gehirn wieder in die Gänge. Aber natürlich: Hier auf dem Land gab es ja, wie wir bereits festgestellt hatten, deutlich weniger Nebel als in der Stadt – zumindest, was den künstlich hergestellten Nebel betraf – und deshalb waren wir auch alle plötzlich so emotional. Dann waren die beiden also wirklich verliebt.
Zugegeben, es war nicht meine brillanteste Erleuchtung aller Zeiten, aber für mich war es trotzdem eine überwältigende Erkenntnis. Ich hatte bisher nur sehr selten knutschende Pärchen gesehen, und wenn, dann war es nie ein Zeichen von Zuneigung gewesen. Es war immer nur eine Bestätigung gewesen, um anderen zu zeigen, dass man ein Paar war. Und Paare wurden offiziell von der OE gebildet. Jeder wurde an einem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben verkuppelt – Männer im Alter zwischen 25 und 32, Frauen im Alter zwischen 23 und 30. Und mit diesem Partner musste man dann so lange zusammen bleiben, bis man mindestens zwei Kinder zur Welt gebracht hatte.
Aber Cecilia und Anton... das war etwas ganz Anderes. Niemand zwang sie, sich nachts, im Dunkeln, heimlich gegenseitig abzuknutschen. Es hatte keinen Nutzen. Ich hielt mir die Ohren zu, als ich es schließlich nicht mehr aushielt, und schloss somit die vielsagenden Geräusche aus. In meinem Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Wenn die beiden sich verlieben konnten, dann bedeutete das, dass wir das alle konnten. Na ja, natürlich abgesehen von Lisa und Helena, aber die beiden waren ja auch Sonderfälle. Aber der Rest von uns... In meinem Bauch kribbelte es. Ich glaubte schon lange nicht mehr daran, dass Liebe wirklich existieren konnte, und wusste auch nicht, wie sie sich anfühlte, aber aus irgendeinem Grund klopfte mein Herz plötzlich schneller. Oh Gott, was für ein Chaos.
An Schlaf war in dieser Nacht nicht mehr zu denken, und so beschloss ich, Paul einen Gefallen zu tun und ihn auf seinem Wachtposten an Lisas Seite abzulösen, damit er auch ein bisschen Schlaf bekam. Außerdem konnte es nie schaden, sich bei Paul ein bisschen einzuschleimen. Besonders, wenn man, so wie ich, relativ viel Zeit in der Gegenwart seiner Schwester verbrachte.
Vorsichtig, um die Schlafenden um mich herum nicht aufzuwecken, löste ich mich aus dem Knäuel aus Armen, Beinen und Decken und rappelte mich auf. Ein Blick zu Paul zeigte mir, dass er eingeschlafen war, und ich stieß einen leisen Seufzer aus. Obwohl ich nicht glaubte, dass uns in dieser Einöde irgendeine Gefahr drohte, sollte man den Job als Wachtposten schon ein bisschen ernster nehmen. Immerhin war unser Verschwinden bestimmt schon bemerkt worden und ich würde mich nicht wundern, wenn bereits eifrig nach uns gesucht wurde.
So leise wie möglich tappte ich zu dem Sofa, auf dem Lisa (und nun auch Paul) schliefen. Es war nicht so einfach, da ich ab und zu über verschiedenste Gliedmaßen stolperte, was unwilliges Grummeln und ein paar schläfrige Flüche auslöste. Zuletzt musste ich einen großen Schritt über Cecilia und Anton machen, die so eng aneinandergeschmiegt schliefen, dass man nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte, welche Arme und Beine zu wem gehörten. Ich hatte mir die Knutschgeräusche also nicht nur eingebildet. Ein kleines Lächeln schlich sich auf mein Gesicht. Obwohl ich die beiden nicht leiden konnte, kam ich doch nicht umhin, mich für sie zu freuen.
Langsam und vorsichtig ließ ich mich auf dem Sofa neben dem schnarchenden Paul nieder. Er war an der Rückenlehne zusammengesackt und sein Kopf war zur Seite gekippt. So schlafend sah er täuschend friedlich aus. Ich setzte mich dicht neben ihn, zog die Beine an den Körper und zerrte Paul die Decke, in die er gewickelt war, ein bisschen weg, damit auch ich darunter passte. Alles in mir sträubte sich dagegen, mir mit Paul eine Decke zu teilen, aber mir blieb wohl nichts anderes übrig. Paul knurrte im Schlaf und versuchte, den gestohlenen Teil der Decke zurück zu ziehen, jedoch erfolglos. Sein Kopf rollte auf die andere Seite und blieb auf meiner Schulter liegen, wo er seelenruhig wieder anfing, zu schnarchen. Ich atmete erleichtert auf und stützte mein Kinn auf meine Knie. Zum Glück war er nicht aufgewacht.
Eine Weile starrte ich durch einen Gardinenspalt in die pechschwarze Dunkelheit vor den Fenstern. Es herrschte draußen eine so vollkommene Dunkelheit, wie ich sie nur selten erlebt hatte. Als wäre das kleine Haus in einem See schwarzer Tinte versunken. Ich schauderte bei der Vorstellung leicht.
Die Feuerstelle, die inzwischen eigentlich mehr glühte als brannte, spiegelte sich in den schwarzen Fensterscheiben wider, und aufgrund des Flackerns und des leichten Funkenflugs fiel mir erst spät auf, dass dort draußen ein Licht war, das langsam, aber stetig näher kam. Ich kniff die Augen zusammen und merkte bald, dass es nicht nur ein Licht war, sondern mehrere. Sie sahen aus, wie... Scheinwerfer. Autoscheinwerfer.
Mein Herz machte einen Satz und ich begann sofort, Paul heftig an der Schulter zu rütteln. „Paul! Wach auf!“
Er wachte auf – und zwar so abrupt, dass ich selbst zusammenzuckte, als er sich schlagartig aufrichtete und mich mit großen Augen anstarrte. „Was ist?“, keifte er mich an, bevor er mich missbilligend beäugte. „Was machst du unter meiner Decke?“
Ich deutete nach draußen. „Da sind Lichter! Siehst du sie nicht? Ich glaube, es sind Autos!“, zischte ich und fügte, als Paul „Scheiße!“ fluchte, hastig hinzu: „Und sei BITTE etwas leiser, okay? Die dürfen uns nicht hören!“
„Ich glaub nicht, dass sie uns hören, dafür sind sie noch zu weit weg“, murmelte er nun mit gesenkter Stimme, während er mit einem besorgten Stirnrunzeln nach draußen starrte. Immerhin sah er die Lichter auch, ich bildete sie mir also nicht nur ein.
„Ja, aber sie kommen näher!“ Diesmal schaffte ich es nicht, die Panik aus meiner Stimme heraus zu halten, während ich mich hektisch aus der Decke löste, die sich wie ein Kokon um uns gewickelt hatte.
„Wer kommt näher? Was ist los?“ Das besorgte Flüstern kam aus Hannas Richtung, deren Augen uns noch etwas schläfrig aus der Dunkelheit anglänzten. Sie schaute etwas verdutzt drein, als sie sah, dass Paul und ich uns zusammen unter eine Decke gekuschelt hatten, stellte aber dazu zum Glück keine weiteren Fragen.
„Autos“, sagte ich nur und rappelte mich auf die Beine. „Kommt, schnell, wir müssen die Anderen wecken!“
Ich konnte das Gesicht unseres Gefangenen im Dunkeln nicht erkennen, aber als ich an ihm vorbei eilte, hatte ich das unangenehme Gefühl, dass er grinste.
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BeitragThema: 3. Kalt (zweiter Teil)   Die Stadt Namenlos EmptyMi Sep 04, 2013 4:08 am

2.3 Ash

Ich war auf dem Weg nach Hause, als es passierte. Ich ging gerade zügigen Schrittes über eine große, breite Brücke, deren Brückenpfeiler sich über mir wie Pfeile in den Himmel bohrten, als ich ihn sah – einen jungen Mann ungefähr in meinem Alter, der über die Brüstung der Brücke geklettert war und mit entschlossenem Blick nach unten in das tiefe, dunkle Wasser des Flusses starrte, das sich an der Oberfläche kräuselte wie Silberfolie. Im ersten Moment dachte ich, er würde nur ein wenig übermütig an dem Geländer herumklettern – vor allem, da kein einziger Passant ihm besondere Beachtung schenkte – doch je näher ich kam, umso mehr wuchs der unangenehme Knoten in meinem Bauch.
Spätestens, als der junge Mann sein Gewicht nach vorn verlagerte, verstand ich, was da gerade passierte. Ich rannte los. „Hey, Sie da! Warten Sie, nicht springen!“, rief ich. Der Junge schien mich gar nicht zu hören. Langsam rutschten seine Hände von dem Geländer ab, während er die Augen schloss.
Behindert durch meine schweren Einkaufstüten, ließ ich sie fallen. Warum hielt den niemand diesen Lebensmüden auf?! „Warten Sie!“, rief ich erneut und griff nach dem Arm des Jungen, als er sich nach vorn fallen ließ. Meine Finger streiften noch den großen Stoff seiner Jeansjacke, doch ich griff ins Leere. Fast wäre ich ihm hinterher gepurzelt, doch ich krallte mich gerade noch rechtzeitig an dem Geländer fest, wo ich abrupt zum Stehen kam. Mein Atem stockte, als ich wie in Zeitlupe dem hinabstürzenden jungen Mann hinterher starrte, der sich in der Luft noch einmal halb drehte, bevor er die Wasseroberfläche durchhbrach und von den eisigen Fluten verschluckt wurde.
Es war alles so schnell gegangen. Wie versteinert stand ich an der Brüstung (die übrigens nur hüfthoch war, als ob sie Selbstmörder geradezu dazu einladen wollte, über sie hinüber zu klettern) und krallte meine Hände um das kalte Metall, unfähig, zu begreifen, was gerade passiert war. Ungläubig starrte ich weiterhin auf das Wasser tief unter mir, das sich, nachdem es aufgewirbelt worden war, nun langsam wieder beruhigte, als wäre nie etwas passiert. Der Junge war verschwunden. Wahrscheinlich hatte er sich irgendein schweres Gewicht am Fuß befestigt oder die Jackentaschen mit Steinen gefüllt, die ihn nach unten zogen. Mein Körper fühlte sich taub an und mir wurde etwas schwindelig, als wollte das Wasser mich auch zu sich hinab ziehen und verschlingen. Ich riss mich von dem Anblick der friedlich vor sich hin schwappenden Wasseroberfläche los und drehte mich langsam um, nahm ein paar zittrige Atemzüge.
Tot. Der junge Mann war tot, und das nur, weil ich nicht schnell genug gewesen war, ihn aufzuhalten. Aber warum eigentlich ich?! Ich wusste, dass auch jegliche logische Erklärung nicht meine plötzlichen Schuldgefühle ausschalten konnte, aber trotzdem: Warum war ich der Einzige gewesen, der versucht hatte, zu helfen? Warum zuckte keiner der Passanten auch nur mit der Wimper, wenn ein anderer sich in den Tod stürzte? Fassungslos schaute ich mich um. Alle Leute auf der Brücke starrten stumpf vor sich hin, schienen die Umwelt gar nicht wahrzunehmen, jeder versunken in seiner eigenen Welt. Das konnte doch wohl nicht wahr sein!
Viel zu spät fielen mir die drei dunkel gekleideten Gestalten auf, die ihren Weg durch den regen Menschenverkehr auf der Brücke bahnten und mich ansteuerten. Ich bemerkte sie auch nur, weil die Menschenmenge sich ganz allein vor ihnen teilte, wie Wellen an einem scharfen Fels. Die Menschen schienen ihnen auszuweichen, und tatsächlich ging von den drei Personen, die in lange, schwarze Mäntel gekleidet waren, eine gewisse bedrohliche Aura aus.
„Entschuldigen Sie...“ Der Größte von ihnen und der Einzige, der eine Kapuze trug, unter der jedoch ein paar intensiv rote Locken hervor lugten, lächelte mich an. Doch es war ein Lächeln, das mir eine Gänsehaut über den Rücken schickte – eine Gänsehaut der unangenehmen Art. Alles in mir schrie plötzlich danach, wegzulaufen, doch meine Beine wollten mir nicht gehorchen. Dumpf spürte ich mein Herz pochen, während langsam die blanke Panik in mir hochkroch. Was wollten diese Leute?
„Ich hab damit nichts zu tun“, hörte ich mich sagen, mit einer Stimme, die gar nicht nach meiner eigenen klang. „Ich konnte nichts machen... Er ist einfach...“ Ich verstummte und schluckte nervös, als der Rothaarige und seine Begleiter mich umzingelten. Kurz schaute ich mich hilfesuchend um, doch das hätte ich mir auch sparen können – kein einziger Vorbeigehender gönnte mir auch nur einen Blick, die meisten wichen den schwarz gekleideten Gestalten einfach aus, viele wechselten sogar extra die Straßenseite.
Nun lächelten auch die anderen beiden, und es sah beinahe amüsiert aus. Sie wechselten einen kurzen Blick mit meinem Gegenüber, doch ich konnte in diesen nonverbalen Austausch nicht wirklich viel hineininterpretieren, was daran lag, dass alle drei Sonnenbrillen trugen. Und daran, dass mein Hirn sich sowieso noch ein bisschen zu schockgefrostet anfühlte, um überhaupt irgendwelche intelligenten Gedanken zustande zu bringen.
Der Kapuzenträger nahm mit einer lässigen Bewegung seine Sonnenbrille ab. Er sagte auch irgendetwas, aber ich nahm es nicht wahr, als mich die hellsten Augen, die ich je gesehen hatten, anstarrten. Sie waren beinah weiß, und als sie mich mit einem starren Blick fixierten, schnürte es mir plötzlich die Brust zusammen und jagte mir einen scharfen Stich durch den Körper, wie einen Stromschlag. Ich war wie gelähmt, vergaß, zu atmen, während es sich so anfühlte, als würde irgendetwas aus mir herausgesogen werden. Als würden mein Herz und mein Kopf mit jeder Sekunde leerer und schwerer werden. Ich wollte wegschauen, doch die Augen hielten mich gefangen, ließen mich nicht los.
Panik machte sich breit und ich riss mich mit geballter Kraft los. Ich kniff die Augen zusammen und rang nach Luft. Eine seltsame Kälte hatte sich in mir ausgebreitet, die mir irgendwie bekannt vorkam. Wie aus einem anderen Leben, oder einem Albtraum. Mutlosigkeit ließ sich schwer auf meinen Schultern nieder und zog meinen ganzen Körper wie ein Bleigewicht nach unten. Ich senkte den Kopf.
„Schau mich an, wenn ich mit dir rede!“ Eine kalte, raue Hand packte mein Kinn und hob grob meinen Kopf wieder an. Kaum erblickte ich wieder die eisigen, blau-weißen Augen, handelte ich instinktiv – ich schlug zu. Meine Faust traf gegen etwas Hartes und die gruseligen Augen verschwanden schlagartig wieder aus meinem Blickfeld, begleitet von einem überraschten Aufschrei. Ich schien mein Ziel getroffen zu haben.
Ohne mich umzuschauen, um zu sehen, wo und wie heftig ich meinen Gegner erwischt hatte, rannte ich los. Ich stieß die anderen beiden Schwarzmantelträger zur Seite, die so verdutzt waren, dass sie gar nicht reagierten, und rannte, so schnell ich konnte, die Straße hinab. „Verdammt, schnappt ihn euch!“, hörte ich die Stimme des Rothaarigen hinter mir wütend rufen, „Ich hab KEINE Gehirnerschütterung, es ist nur ne Platzwunde!“
Im nächsten Moment ertönten hinter mir schon rennende Schritte, die stetig näher kamen. Ich schaute mich nicht um, meine Gedanken waren wie gelähmt vor Angst, Schock und Verwirrung. Mein Fluchtinstinkt gewann die Oberhand, als ich mir unsanft einen Weg durch die Menschenmassen bahnte und blindlings in das verwinkelte Netz von Straßen abtauchte, die in meinen Augen einem Labyrinth glichen. Dass ich mich verlaufen könnte, war in diesem Moment meine kleinste Sorge.


2.4 Lux

War die Stille in dem Raum zuvor schon unangenehm gewesen, so konnte man sie jetzt schneiden. Ein paar Mitarbeiter tauschten verunsicherte Blicke aus, aber niemand wagte es, ein Wort über die Lippen zu bringen. „Sie wurde ermordet von Bürgern unserer Stadt“, fügte mein Vater nach einer dramatischen Pause hinzu, wobei er jedes Wort betonte. „Lassen Sie sich das einmal durch den Kopf gehen. Unsere Bürger erheben sich gegen uns! Wir sollten hier für Recht und Ordnung sorgen, nicht Opfer von Gewalttaten werden!“
In meinem Kopf rotierte es. „Aber wie kann das sein?“, warf ich zweifelnd ein. „Niemand hätte den Mut dazu. Oder die Motivation. Oder überhaupt die Möglichkeiten!“
„Nun, das habe ich auch gedacht. Ich konnte es auch zuerst gar nicht glauben.“ Mein Vater warf mir einen warnenden Blick zu, der mir einschärfen sollte, nicht seinen Mono-Vortrag zu unterbrechen, den er bestimmt Wort für Wort einstudiert hatte und nicht unterbrochen werden wollte. An die versammelte Runde gewandt fuhr er mit grimmigem Gesicht fort: „Und es gefällt mir nicht, dies sagen zu müssen, aber es scheint, dass wir Namenlos nicht mehr hundertprozentig unter unserer Kontrolle haben. Nur, um Ihnen mal ein paar Beispiele zu geben...“ Er räusperte sich und fischte einen der losen Zettel von seinem Tisch. Es schien der falsche zu sein, also suchte er noch ein Weilchen, bevor er das richtige Blatt gefunden hatte. „Ah, hier ist es ja“, murmelte er und ich sah aus dem Augenwinkel, wie meine Mutter die Augen verdrehte.
Mein Vater drehte das Blatt um und zeigte es uns. Es war ein Balkendiagramm darauf abgedruckt, das einen steilen Aufwärts-Trend zeigte. „Wie Sie sehen, ist der illegale Somnium-Konsum in den letzten Jahren sehr stark angestiegen. Es werden immer mehr Drogendealer und -Konsumenten festgenommen, und darüber, wie hoch die Dunkelziffer ist, will ich erst gar nicht nachdenken.“
Wieder meldete ich mich zu Wort (weil sich das außer mir ja anscheinend niemand traute). „Könnte es nicht sein, dass wir einfach mehr Leute schnappen als früher? Das wäre dann doch eine positive Entwicklung, oder?“
„Ja, Lux, das ist natürlich nicht auszuschließen, aber wir sollten erst einmal vom Schlimmsten ausgehen und darauf einstellen, anstatt uns zurückzulehnen in der Annahme, dass alles glatt läuft“, sagte mein Vater streng und fixierte mich mit einem scharfen Blick, der mich warnte, ihn auch nur einmal noch zu unterbrechen. Nun war es an mir, die Augen zu rollen. Meine Eltern gingen IMMER zuerst vom Worst-Case-Szenario aus. Okay, auch ich war nicht gerade ein Bilderbuch-Optimist, aber so pessimistisch wie meine Eltern war ich nun auch nicht.
„Nun, wo war ich...?“ Mein Vater seufzte theatralisch und hob ein anderes Blatt hoch, um es uns zu zeigen. „Hier sehen Sie eine Tabelle mit den Zahlen flüchtiger Häftlinge aus den Gefängnissen, beziehungsweise der Schüler, die aus den Erziehungsinternaten geflohen sind. Wie Sie sehen, gibt es auch hier in den letzten Jahren einen starken Anstieg. Gerade letzte Nacht sind aus dem Internat Country neun Jugendliche ausgebrochen, einem vierten ist die Flucht zum Glück nicht gelungen. Es wird zurzeit noch nach ihnen gesucht.“
Er warf mir einen warnenden Blick zu, und so hielt ich den Mund. Auch wenn ich insgeheim vermutete, dass die Internate früher einfach nicht so streng von der OE überwacht wurden und jeden Pups bürokratisch dokumentieren mussten, weshalb damals einfach nicht so viele Ausbrüche registriert wurden wie heute. Ich fragte mich, ob Jonas schon aufgebrochen war, um nach Eric zu suchen. Darüber Neuigkeiten zu erfahren, fände ich deutlich spannender als diese langweilige Spontan-Sitzung, die mein Vater anscheinend nur dazu benutzen wollte, uns weis zu machen, dass sich unser ganzes Volk über Nacht gegen uns verschworen hatte.
Nach einer erneuten dramatischen Pause legte mein Vater das Papier vorsichtig wieder auf den Tisch und verschränkte die Hände ineinander. Er hatte große Hände, die eher dazu geeignet waren, tatkräftig zu arbeiten, als in Papier zu blättern oder sich ständig wichtigtuerisch zu verschränken. „Es gab zudem in letzter Zeit immer öfter Übergriffe auf OE-Mitarbeiter, und mit Frau Meyer ist dabei auch erstmalig eine hochrangige Kollegin ums Leben gekommen. Wie Sie alle aus eigener Erfahrung wissen, genießen wir aus den hohen Etagen einen ganz besonderen Schutz, sodass hinter dem Anschlag auf unsere ehemalige Sekretärin eine gewaltige Menge an krimineller Energie und Brutalität stecken muss.“ Er erhob einen Zeigefinger und dann auch sich selbst, um vor sein Pult zu treten und langsam auf und ab zu wandern. Es sah jedoch nicht halb so würdevoll aus, wie er wahrscheinlich beabsichtigt hatte, da er erstmal ein paar Sekunden lang mit seinem überdimensionierten Mantel kämpfen musste. Die Art, wie alle anderen Kollegen ihn trotzdem weiterhin gebannt, respektvoll und todernst anschauten, machte die ganze Szene noch amüsanter. Dennoch behielt auch ich natürlich routinemäßig mein Pokerface bei, während die leichte Gesichtsrötung meiner Mutter verriet, dass sie sich gerade fremdschämte.
Endlich hatte mein Vater sich befreit und stolzierte wie ein balzender schwarzer Vogel vor uns hin und her, eine Hand in der Hüfte, während er mit der anderen mit dem Zeigefinger wackelte. „Ein großer Teil dieser Entwicklungen lässt sich auf ein Problem zurückführen: Die Substanz M!“
Mit einer dramatischen Drehung, bei der sich fast seine Beine in dem bodenlangen Mantel verhedderten, wirbelte er zu uns herum. Die meisten hatten zum Glück den Anstand, ein wahlweise schockiertes oder erleuchtetes Gesicht zu machen. Von M, dem sogenannten Misery-Pulver, -Nebel oder -Substanz, hatte jeder in der OE schon einmal gehört. In der Regel mehr als einmal. Um ehrlich zu sein, hatte ich mich schon so oft mit dem Thema befasst, dass ich ernsthaft überlegte, die Sitzung für eine lange, lange Toilettenpause zu verlassen, entschied mich dann aber doch dagegen.
„Wie die meisten von Ihnen wissen sollten“, fuhr mein Vater fort und fixierte jeden der Anwesenden einmal persönlich mit seinem schwarzen Blick, als wäre er der Lehrer und wir die unartigen Schüler, „haben wir keine unendlichen Vorkommen von M. Es wird im Bergbau gewonnen, indem...“
Hier schaltete ich erstmal ab, da ich das Thema unzählige Male im Privatunterricht durchgekaut und sogar eine zwanzig Seiten lange Hausarbeit über die Gewinnung von M geschrieben hatte. In Kurzform konnte man sagen, dass es so eine Art Edelmetall war. Natürlich war die ganze Sache noch etwas komplizierter, aber das interessierte doch niemanden! Zu dumm, dass mein Vater anscheinend um jeden Preis mit seinem Wissen prahlen wollte.
„Auf jeden Fall“, kam er endlich zur Sache, „nähern sich unsere M-Vorräte dem Ende. Natürlich wird M recycelt, so gut es geht – wir stellen den Nebel her und abends werden die dichtesten Nebelfelder abgeerntet und der Rohstoff wiederverwertet – aber auch dabei gibt es Verluste. Ein Teil löst sich einfach in der Luft auf, ein Teil bindet sich im Wasser und in der Erde, ein Teil löst sich beim Vernebelungs- und Recyclingprozess auf, ein Teil geht verloren, weil er besonders widerspenstigen Leuten direkt und nicht über die Luft verabreicht wird, und nicht zuletzt machen wir auch Verluste, weil einige Mitarbeiter der OE anscheinend von den Vorräten stehlen, um sich zu eigenem Zweck Schwarze Löcher herzustellen.“ Er warf einen strengen Blick in die Runde, während er sich betont langsam wieder in seinem Sessel niederließ. Schwarze Löcher, die nach den riesigen Schwarzen Löchern im All benannt waren, bestanden aus einer komprimierten Mischung aus purem M-Pulver und M-Nebel. Sie flogen selbstgesteuert durch die Stadt und saugten jegliches Glück und andere Emotionen der Menschen in sich auf. Also eigentlich genauso wie der Nebel, nur deutlich stärker und schneller.
Mein Vater nahm einen Kugelschreiber und tippte damit auf die Tischplatte. „Ihnen allen ist hoffentlich bewusst, dass die Herstellung und er Gebrauch Schwarzer Löcher schon vor einiger Zeit untersagt wurde. Sie sind eine unglaubliche Resourcen-Verschwendung, und davon abgesehen und sehr riskant. Ein Mensch, der einem Schwarzen Loch zu nahe kommt, kann innerhalb von Sekunden so depressiv werden, dass er sich selbst auf der Stelle das Leben nimmt. Wir haben jedoch schon genug Suizidfälle in der Stadt, mehr können wir uns nicht leisten, wenn wir nicht wollen, dass die Bevölkerung schwindet.“
Jetzt schaltete ich mich wieder ein. Vielleicht schaffte ich es ja, diese öde Sitzung etwas zu verkürzen, wenn ich die nächsten zwei Stunden seines Referats in ein paar Worten zusammenfasste. „Du meinst also, dass uns M langsam zur Neige geht und wir es deshalb sparsamer verwenden als früher, was aber dazu führt, dass bei den robustesten Menschen die Wirkung nicht mehr hundertprozentig ausreicht und deshalb die Bevölkerung rebellisch und ungemütlich wird. Hab ich das richtig verstanden?“, fragte ich, die Hände locker auf dem Knie meines überschlagenen Beins abgelegt. Mein Vater klopfte einmal ärgerlich etwas stärker mit dem Stift auf den Tisch, doch leider ging er nicht kaputt. Ich fragte mich, was ihn am meisten wurmte – dass ich sein hochkomplexes Gelaber so einfach zusammenfasste oder dass ich ihn vor versammelter Mannschaft duzte. Aber meinen eigenen Vater zu siezen, war mir echt zu albern.
„Ganz genau“, gab er mir widerstrebend recht.
„Aber könnte es nicht auch sein“, fuhr ich unbeirrt fort, „dass die Menschen einfach allmählich immun gegen M werden? Schließlich wird es schon seit vielen Generationen verwendet.“
Zehn interessierte Augenpaare lagen nun auf meinem Vater. Er schaute drein, als hätte er in eine saure Zitrone gebissen. „Man kann gegen M nicht immun werden“, sagte er schlicht. „Die einzige Möglichkeit, dagegen immun zu sein, wäre, einer von uns zu werden. Aber das geht natürlich nicht, weil man entweder als normaler Bürger oder als Mitglied der OE geboren wird. Oder man müsste ein Mensch ganz ohne Emotionen sein, aber von so einem Fall habe ich noch nie gehört.“
Ein junger Mann mit Vollbart meldete sich artig, bevor er beinah kleinlaut fragte: „Was schlagen Sie vor, wie wir nun weiter verfahren?“
Zufrieden deutete mein Vater mit dem misshandelten Kugelschreiber auf ihn. „Genau dafür habe ich einen Zehn-Punkte-Plan vorbereitet! - Fräulein Blum? Den Projektor, bitte!“, rief er nach der Sekretärin, die nur wenige Sekunden später in den Raum eilte und den Tageslicht-Projektor aufstellte. Ich stöhnte innerlich auf, als das Bild der ersten Folie aufflackerte, auf dem eine dicht geschriebene Liste auftauchte. Und das war nur Punkt 1.
Ergeben sackte ich in dem Stuhl zusammen, der sich auf die Dauer nur halb so schön anfühlte, wie er aussah (und er sah noch nicht mal schön aus). Das dürfte noch ein paar Stunden dauern, bis ich endlich wieder diesen Raum verlassen konnte.


2.5 Eric

Als wir endlich alle geweckt hatten, blieb uns nicht mehr viel Zeit, uns einen Plan zu überlegen. Die Autos – ich war mir inzwischen ziemlich sicher, dass es Autos waren – kamen mit bedrohlicher Geschwindigkeit immer näher und unser Gefangener schien schon regelrecht zu frohlocken, was ihm ein paar Ohrfeigen von Paul einbrachte, bevor Hanna ihren Bruder aufhielt.
„Paul, nicht!“, zischte sie und zerrte an seinem athletischen Arm. „Wer auch immer da kommt, will bestimmt mit ihm reden, und wenn er sichtbare Verletzungen hat, werden sie Verdacht schöpfen!“
„Ich kann ihm auch nicht sichtbare Verletzungen zufügen!“, knurrte Paul und der Mann erblasste.
„Schluss jetzt!“, schaltete sich Anton ein. „Schnell, denkt nach, hat jemand eine Idee, was wir jetzt machen?“ Auch bei der schlechten Beleuchtung sah ich seinen ungewohnt weit aufgerissenen Augen an, dass er Angst hatte.
„Ich würde sagen, wir werfen dem hohen Besuch unseren Gefangenen zum Fraß vor und lassen ihn einfach die Situation managen“, schlug Tobias mit gesenkter Stimme vor. Er klang erstaunlich gefasst. „Und wir verstecken uns in der Zwischenzeit irgendwo, zum Beispiel auf dem Dachboden.“ Während er sprach, begann er schon, hastig die Fesseln des untersetzten Mannes zu lösen. Ich zögerte nur kurz, bevor ich ihm widerstrebend zur Hilfe kam, auch wenn sich alles in mir dagegen wehrte, den Mörder von Stefan auch nur zu berühren. Die anderen schienen alle noch etwas unschlüssig und das erneut aufflackernde Grinsen auf dem Gesicht des kleinen Mannes gefiel mir gar nicht. Ich hatte plötzlich auch das Bedürfnis, ihm ein paar mal gründlich das grienende Gesicht einzuschlagen, und erschrak mich selbst ein wenig damit, dass ich schon wie Paul dachte.
„Und was, wenn er uns verrät?“, zischte Cecilia zweifelnd, während sie und Anton mit vereinten Kräften die schlafende (oder ohnmächtige?) Lisa vom Sofa hoben.
„Dann knallen wir ihn ab“, sagte Tobias nüchtern und grinste dem dicken Lockenkopf ins Gesicht, dessen Grinsen sich erneut wieder schlagartig verflüchtigte. „Haste gehört, Dickerchen? Ein falsches Wort und du erlebst dasselbe, was du Stefan angetan hast. Payback-Time!“
Der ekelhaft saure Geruch von Angstschweiß stieg mir wieder in die Nase. Ein unangenehmes Déjà-Vu. Aber immerhin bezeugte es, dass der Mann die Drohung ernst nahm. „A-aber was habt ihr denn davon, wenn ihr mich erschießt?“, stotterte er ängstlich. „Damit verratet ihr euch doch auch!“
Tobias zuckte mit den Schultern. „Schon, aber andererseits, warum sollten wir dich verschonen, wenn du dafür sorgst, dass wir geschnappt werden?“
Darauf wusste er keine Antwort.

Viel zu schnell war vor dem Haus das Geräusch von Motoren zu hören und die Autoscheinwerfer warfen grelle Lichtkegel durch die Gardinen, als ob sie nach etwas Bestimmtem suchten. Mein Pulsschlag hüpfte nervös in meiner Kehle. Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass unser Gefangener ein guter Schauspieler war.
Die meisten von uns hatten sich auf dem Dachboden versteckt, nur Tobias, Anton, Cecilia und ich waren noch im Wohnzimmer. „Okay, hört zu“, wiederholte Anton noch einmal unseren Plan, „Tobias versteckt sich hier im Schrank und wenn der Bastard uns verrät, jagt er ihm ne Kugel in den Kopf und rennt durch das ganze Haus, um die Besucher abzulenken. Wir schlitzen in der Zeit die Reifen der Autos auf und die anderen rutschen vom Dach und landen auf dem weichen Kompost. Sobald die Leute Tobias in eine Ecke getrieben haben, springt er aus dem Fenster und wir fliehen alle zusammen.“ Er hatte so schnell gesprochen, dass er alles in einem Atemzug gesagt hatte. Er holte schnappend Luft. „Richtig?“
„Genau. Und falls der Bastard und sein Besuch in ein anderes Zimmer gehen, schleiche ich irgendwie hinterher“, fügte Tobias hinzu. „Ich kann nicht garantieren, dass ich ihn dann auch erschießen kann, aber ich gebe auf jeden Fall einen Warnschuss als Zeichen für euch, falls etwas schief läuft.“
„Okay.“ Anton nickte eifrig. Seine Hände zitterten, als draußen das Geräusch schlagender Autotüren zu hören war. „Dann mal los.“
Wir warfen dem Mann, der versuchte, möglichst authentisch entspannt auf dem Sofa zu sitzen, noch einen vielsagenden Blick zu, bevor sich Tobias im Schrank versteckte und Cecilia, Anton und ich ins Schlafzimmer verschwanden, wo wir aus dem Fenster kletterten. Das Schlafzimmer lag auf der anderen Seite des Hauses, sodass uns die gerade angekommenen Gäste hier nicht sehen konnten. Beinah synchron zückten wir unsere Messer – ein Klappmesser, ein großes und ein kleineres Küchenmesser – mit denen wir im Notfall die Autoreifen demolieren sollten. „Bereit?“, hauchte ich. Die beiden nickten stumm.
Auf Zehenspitzen schlichen wir hintereinander an der Hauswand entlang. Unser Atem klang verräterisch laut in meinen Ohren. Es wurde an der Haustür geklopft und sie schwang kurz danach auf. Es gab einen kurzen Wortwechsel, als der Hausherr die Besucher in Empfang nahm. Nach dem Wortlaut zu urteilen, ging es um etwas Geschäftliches – die Leute waren hier, um „etwas abzuholen“.
Ich schob mich etwas weiter an der Hauswand voran. Anscheinend hatten sie die Scheinwerfer ihrer Autos angelassen, denn ich sah, wo sie den verdorrten Boden beleuchteten. Wir befanden uns jedoch noch im Schatten des Hauses. Ich duckte mich unter einem Fenster und bewegte mich weiter vorwärts. Wir mussten so dicht wie möglich an die Autos herankommen, ohne gesehen zu werden, damit wir schnell handeln konnten, falls das Schlimmste passierte. Kurz vor der Stelle, wo der beleuchtete Boden an den im Schatten liegenden Boden grenzte, machte ich Halt. Ich überlegte, vorsichtig um das letzte Stück Hausmauer herum zu lugen, wagte es dann aber doch nicht. Vielleicht waren ja noch Leute bei oder in den Autos, die mich dann sehen könnten. So verharrte ich also einfach in meiner Stellung, und Anton und Cecilia, die hinter mir an der Mauer lehnten, taten es mir gleich.
Dumpf hörten wir Stimmen in dem Haus, konnten aber kein Wort verstehen. Das Warten zerrte an meinen Nerven. Endlich, nach Minuten, die eine Ewigkeit zu dauern schienen, öffnete sich die Eingangstür wieder mit einem leichten, hölzernen Knarren. „Nächste Woche wollen wir aber mehr abholen!“, ermahnte eine fremde Frauenstimme, die ich noch nie zuvor gehört hatte.
„Ich kann doch auch nichts dafür, wenn mir so wenig angeliefert wird!“, verteidigte sich der Mann, dessen Stimme sich in mein Gedächtnis eingebrannt hatte, vielleicht ein bisschen zu aufgebracht. „In letzter Zeit wird immer weniger M abgebaut, hab ich das Gefühl. Jede Woche ist es weniger. Darüber müsstet ihr doch am besten Bescheid wissen, oder redet ihr bei der OE nicht über solche Probleme?“
OE? Ich horchte auf. Der Besuch war also von der OE?! Und was war M? Worum ging es gerade? Ich hatte das Gefühl, dass es etwas Wichtiges war, und es wurmte mich, dass ich es nicht verstand. Aber dann wiederum war ich auch zu aufgeregt, um noch einen klaren Gedanken fassen zu können. Sollten sie doch über ihr mysteriöses M reden, so viel sie wollten – Hauptsache, sie kamen nicht auf uns zu sprechen. Wenn die OE höchstpersönlich uns hier fand, konnte das übel enden.
„Woah, woah, Bernie, du bist ja heute ganz schön temperamentvoll!“, bemerkte die Frauenstimme milde amüsiert. Trotz ihrer leisen Belustigung klang sie noch immer schneidend wie ein kalter Dezemberwind. „Vielleicht war ich letzte Woche mit deiner Dosis ein bisschen zu großzügig. Komm, schau mir in die Augen, Kleiner.“
Ein Japsen war zu hören, gefolgt von einem leisen Wimmern, und ich fragte mich, ob das wirklich „unser Gefangener“ war, der da herumwimmerte. Und was zur Hölle diese Frau gerade mit ihm anstellte! Ich war wieder versucht, nachzuschauen, aber so lebensmüde war ich natürlich nicht.
„Okay, genug für heute“, sagte die Frau und wir hörten ein erleichtertes Keuchen, bevor irgendetwas – oder irgendjemand mit einem dumpfen Geräusch zu Boden fiel.
„Meinst du nicht, du hast diesmal ein bisschen übertrieben?“, fragte eine weitere fremde Männerstimme.
„Ja, vielleicht ein bisschen“, gab die Frau zu, jedoch ohne Reue in der Stimme. „Mach's gut, Bernie.“
Die Schritte entfernten sich und ein paar Autotüren schlugen zu. Ich wollte schon erleichtert aufatmen, als die Frau doch noch einmal sprach: „Ach ja, Bernie? Wir waren gerade beim Country-Internat und haben gehört, dass da ein paar Schüler ausgebrochen sind. Angeblich sind sie nicht in die Richtung von deinem Haus gelaufen, aber wer weiß, ob das stimmt... Also, sie haben sich nicht zufällig in deinem Haus eingenistet, oder?“
„N-nein, natürlich nicht!“, stammelte Bernie mit leicht zittriger Stimme. „Du weißt, dass ich Kinder hasse. Wieso sollte ich also freiwillig welche bei mir wohnen lassen?“ Er lachte kurz auf. Ein Fehler, denn es klang so künstlich, dass ich die Lüge sogar entlarvt hätte, wenn ich nicht die Wahrheit gewusst hätte.
Einen Moment herrschte Stille und ich verkrampfte meine Hand um das Messer. „Du klingst nicht besonders glaubwürdig“, sagte die Frau und fuhr fort, bevor Bernie widersprechen konnte: „Aber ich tu einfach mal so, als würde ich dir glauben. Ich hab echt keine Lust, wegen ein paar Rotzbengeln dein ganzes Haus zu durchsuchen.“
Meine Knie wurden weich. Was für eine wundervolle Frau! Ich glaube, ich hatte mich verliebt. Endlich ertönte wieder das ersehnte Geräusch zuschlagender Autotüren und ich wartete nur noch darauf, dass die Motoren endlich ansprangen. Warum dauerte das denn so lange? Stimmte irgendetwas nicht? Der Klumpen in meinem Magen, der gerade verschwinden wollte, vergrößerte sich wieder bei der Befürchtung, dass die OE-Leute noch länger hier bleiben würden.
Tatsächlich öffneten sich kurz darauf wieder die Autotüren und das missmutige Gebrummel der Insassen war zu hören, als sie ausstiegen. „Sorry, Bernie“, seufzte die Frau, „Aber wir haben gerade einen Anruf vom Internat bekommen. Sie sagen, dass nicht bestätigt ist, in welche Richtung die Geflohenen wirklich unterwegs sind.“ Sie seufzte. „Wir wurden also angeordnet, alles zu durchsuchen. Müssen wir wohl doch in deinen Unterhosen wühlen und glaub ja nicht, dass wir das aus Spaß machen.“
„Was?!“ Bernie quiekte vor Schreck wie ein Schwein. „A-aber... wieso denn... ich meine... da-das könnt ihr euch ruhig sparen, ich hab gerade vor einer Stunde mein gesamtes Haus geputzt und kann euch mit Sicherheit sagen, dass da niemand war!“
„Sorry Bernie“, sagte die Frau, „Befehl ist Befehl. Aber danke, dass du extra für uns geputzt hast. Und keine Sorge, wir stehlen dir auch keine Unterhosen.“
„A-a-aber...“, wollte Bernie erneut widersprechen, doch anscheinend gelang es ihm nicht, die Leute von der OE davon abzuhalten, sein Haus zu betreten. Oder missinterpretierte ich da die Situation? Wo blieb Tobias' Warnschuss? Verdammt, wenn ich doch nur sehen könnte, was gerade passierte!
Kaum hatte ich den Gedanken zuende gedacht, da zerfetzte auch schon ein ohrenbetäubender Knall die Nacht. Der Warnschuss.


2.6 Ash


Meine Beine schienen sich verselbstständigt zu haben, als ich im halsbrecherischen Tempo durch die Innenstadt jagte. Meine Lungen brannten, ebenso wie die Muskeln in meinen Beinen, die sich inzwischen schon taub anfühlten, doch ich wagte nicht, langsamer zu werden. Ebenso wenig traut ich mich, mich umzuschauen. Ich hörte die Schritte meiner Verfolger nicht mehr, aber das musste nichts zu bedeuten haben, da mein Puls laut wie eine Sturmflut in meinen Ohren dröhnte. Nur vorwärts, vorwärts, schneller! Ich rannte durch belebte Passagen, bog in dunkle Gassen ein, rannte über Brücken und unter Überführungen hindurch, durch Häuserschluchten und ruinenartige Viertel. Die Orientierung hatte ich schon längst verloren, doch ich hoffte nur, dass ich auch meine Verfolger bald verlor. Zurückfinden würde ich schon irgendwie, wenn ich mich an den gläsernen Hochhäusern des Stadtzentrums orientierte, die alle anderen Häuser überragten und praktisch überall zu sehen waren.
Irgendwann machte mein Körper jedoch einfach nicht mehr mit. Der Schweiß lief mir in Strömen über den Körpern, während ich gezwungenermaßen meine Schritte verlangsamte. Mein Herz pumpte so heftig, dass ich den Puls bis unter meine Schädeldecke schlagen spürte, und während ich mich immer wieder ängstlich umschaute, schnappte ich nach Luft wie ein Goldfisch nach Mehlwürmern, in dem verzweifelten Versuch, wieder ausreichend Sauerstoff in meine Lungen zu saugen.
Meine Beine zitterten so heftig, dass ich nicht glaubte, dass sie mich noch lange halten würden. Zum Glück schienen meine Verfolger verschwunden zu sein. Ich wollte gerade erschöpft gegen eine Hauswand sinken, als sich plötzlich nur wenige Meter entfernt abrupt eine Haustür öffnete. Ich zuckte zusammen und ballte die Fäuste, machte mich bereit für eine körperliche Auseinandersetzung, da ich nicht glaubte, noch so eine Flucht zu schaffen.
Zum Glück schaute kein schwarz gekleideter Gruseltyp aus der Tür, sondern nur eine junge Frau mit relativ farblosen, krausen Haaren mit einem leichten Kupferschimmer, die sie in einem buschigen Pferdeschwanz trug. Angespannt schaute sie sich um, bevor sie mir zuzischte: „Komm hier rein! Schnell!“
Ich zögerte. War das eine Falle? Die Gegend hier sah nicht gerade vertrauenerweckend aus, mit den überquellenden Mülleimern und den maroden Häuserfassaden. Doch als ich von weitem eine heulende Sirene hörte, bei der sich sofort all meine Nackenhaare aufstellten, wartete ich nicht länger. Mit wenigen Schritten taumelte ich zu der Tür und schlüpfte in die fremde Wohnung, bevor die blecherne Eingangstür mit einem Krachen wieder hinter mir zufiel.
Es war ein Geräusch von solcher Endgültigkeit, dass ich mich für einen Moment panisch fragte, ob ich wirklich entkommen war oder mich gerade freiwillig in die Höhle des Löwen begeben hatte.
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Die Stadt Namenlos Empty
BeitragThema: 4. Vampire   Die Stadt Namenlos EmptyDi Sep 10, 2013 2:37 am

Yo. Cool  Ich bin selbst noch nicht sicher, ob ich mit dem Kapitel diesmal zufrieden bin. Hab immer seitenweise geschrieben, nur um es dann doch zu löschen und nochmal zu schreiben bzw. umzuschreiben xD Vielleicht ändere ich irgendwann noch Kleinigkeiten in diesem Kapitel, wenn ich für manches bessere Ideen habe... Na ja, wie auch immer. Here you go.
(Und kleine Warnung, diesmal wird's leicht blutig ^^)




4. Vampire

„Ist nicht irgendwo da draußen ein bisschen Glück für mich?
Irgendwo ein Tunnelende, das Licht verspricht.
Er will so viel, doch eigentlich nicht.
Nur ein kleines bisschen Glück.

Wann reißt der Himmel auf?
Auch für mich, auch für mich.“

Silbermond: Himmel auf


4.0 Lux


Man hätte den tollen Zehn-Punkte-Plan meines Vaters auch in wenigen Worten zusammenfassen können: Überall mehr Sicherheitspersonal, mehr Überwachungskameras und anderen Sicherheits-Schnickschnack, härteres Vorgehen gegen Somnium-Dealer und Konsumenten sowie gegen OE-Mitarbeiter, die verbotenerweise Schwarze Löcher herstellten. Davon abgesehen natürlich mehr finanzielle Unterstützung für Studien, die sich mit dem Versuch beschäftigten, M künstlich im Labor herzustellen. Das war eigentlich schon alles, aber er hatte eine Stunde dafür gebraucht, uns das alles einzutrichtern.
Abgesehen davon galt natürlich nach wie vor, dass jeder von der OE sich draußen nur mit Begleitschutz umhertreiben durfte. Besonders, wenn man auf Streife war. Ich war jedoch nie zur Streife eingeteilt, was der Grund dafür war, dass ich in den letzten Jahren keinen Fuß auf die öffentlichen Straßen gesetzt hatte – ich hielt mich meistens in den Räumlichkeiten der OE auf und morgens und abends fuhr ich in der Regel mit dem Auto nach Hause, stieg also in dem unterirdischen Parkhaus der OE ein und in unserer privaten Garage wieder aus. Ich hatte selten das Bedürfnis, die Straßen von Namenlos zu betreten. Aber heute war so ein Tag.
Als die Besprechung endlich zuende war, quälte mich ein leichter Kopfschmerz und mein Magen rumorte. Meine Mittagspause war inzwischen echt überfällig. Ich holte mir aus der Kantine zwei pappige Sandwiches mit irgendeinem Belag, der sowieso immer ziemlich geschmacksneutral war, und ein Farbstoff-Zuckerwasser to go. Abwechselnd an dem Strohhalm saugend und meine Sandwiches kauend fuhr ich dann mit dem Lift hinunter ins Erdgeschoss und machte mich auf den Weg nach draußen.
Normalerweise aß ich mein Mittagessen immer irgendwo im Zentralgebäude, entweder in meinem Büro, an irgendeinem PC oder direkt in den Räumlichkeiten der Kantine, aber heute fühlten sich die Mauern, Stahl- und Glasmassen um mich herum, über und unter mir irgendwie erdrückend an. Ich wollte zur Abwechslung mal wieder freien Himmel über meinem Kopf haben.
Der Hauptein- und -Ausgang bestand aus fünf großen gläsernen Drehtüren aus Panzerglas, die sich erst in Bewegung setzten, wenn man seine persönliche Chipkarte in ein spezielles Lesegerät steckte. Ich setzte schon einmal meine spezielle Sonnenbrille auf, auch wenn es draußen bewölkt war. Dann nahm ich mein Getränk in die linke Hand und steckte beide Sandwiches übereinander in den Mund, um mit der rechten Hand meine Karte aus dem Portemonnaie in meiner Manteltasche wühlen und in das Lesegerät stecken zu können. Links von mir, an der Rezeption, bemerkte mich eine Mitarbeiterin und grüßte mich, was ich aber wegen meinem sehr vollgestopften Mund nur mit einem Nicken erwidern konnte. Am Lesegerät blinkte ein grünes Lämpchen auf und ich zog meine Karte wieder heraus, bevor sich die Drehtür in Bewegung setzte.
Ich war so lange nicht mehr draußen gewesen. Jedes Mal, wenn ich alle paar Jahre einen kleinen Stadtrundgang unternahm, um mich zu erinnern, wie das Leben hier draußen wirklich aussah, wenn man es nicht nur aus der Vogelperspektive beobachtete, war ich enttäuscht. Ich wusste selbst nicht genau, warum. Ich meine, was erwartete ich schon? Wie konnte man enttäuscht sein, wenn man keine Erwartungen hatte? Wahrscheinlich schlummerte in mir einfach immer noch die leise Hoffnung, dass sich seit dem letzten Mal, als ich draußen gewesen war, irgendetwas geändert hatte.
Es hatte sich aber nie irgendetwas verändert. Auch diesmal nicht.
Zugegeben, die Silhouette der Stadt hatte sich ein bisschen verändert, es gab hier und da ein neues Gebäude, eine neue Straßenbahn- oder Buslinie – aber insgesamt hatte sich das Stadtbild nicht geändert. Die Menschen liefen immer noch mit gesenkten Blicken und niedergeschlagenen, langen Gesichtern herum und wichen mir weiträumig aus, als ob ich die Beulenpest hätte. Dabei trug ich doch schon extra diese dumme Sonnenbrille, die meine dunkelvioletten Augen von ihnen abschirmte. Aber ich konnte es ihnen nicht wirklich übelnehmen, dass sie mir aus dem Weg gingen. Es gab sicherlich viele OE-Mitarbeiter, die auf Streife ziemlich oft und manchmal auch ungerechtfertigt ihre Brille abnahmen. Natürlich war die Versuchung groß, aber ich gab ihr nicht nach.
Ich fand mich in der Innenstadt problemlos zurecht, obwohl ich hier so selten herumlief. Schließlich schaute ich jeden Tag aus dem Fenster genau auf dieses Stadtviertel herunter und hatte mir daher automatisch die verschiedenen großen Straßen, Nebenstraßen, Kreuzungen und Straßenbiegungen eingeprägt. Als ich mein erstes Sandwich schon aufgegessen hatte, erreichte ich meinen Lieblingsplatz – einen kleinen Park. Eigentlich war es nichts weiter als eine ziemlich verdorrte, halb abgestorbene Fläche, die wohl mal eine runde Grasfläche gewesen war, umgeben von einem kleinen Weg, an dem alle paar Meter eine Bank stand. In der Mitte der „Wiese“ sprudelte träge ein steinerner Springbrunnen. Ich knüllte die nun leere Verpackung des Sandwiches zusammen und warf sie in einen nahe stehenden Mülleimer, bevor ich mich auf einer leeren Bank niederließ, um die zweite Hälfte meines Mittagessens zu verspeisen.
Ich fand, dies war so ziemlich der erträglichste Ort in Namenlos. Wenn man den bleigrauen Himmel und die Gesichter der Menschen ignorierte, was nicht immer ganz einfach war. Ich seufzte lautlos. Insgeheim wusste ich, warum es mich manchmal aus den Räumlichkeiten der OE nach draußen zog. Ich fühlte mich dort nicht wirklich wohl, nicht zugehörig. Eigentlich sollte die OE für mich wie eine große Familie sein, oder zumindest wie ein Zuhause. Aber das war es nicht.
Das Problem war, hier draußen fühlte ich mich auch nicht wirklich daheim, obwohl es doch meine Heimatstadt war, die ich wie meine Manteltaschen kannte. Doch ich fühlte mich wie ein Fremdkörper zwischen den Menschen, die auf mich so oft wie Lebewesen einer ganz anderen Gattung wirkten. Nun, genau genommen waren sie das ja auch, genetisch gesehen. Der größte Unterschied zwischen uns und den „normalen“ Bürgern war, dass sie die Veranlagung hatten, Glück zu produzieren. Wir konnten das nicht, weshalb wir den Menschen stetig Glück abzapfen mussten, um es uns selbst einzuverleiben, wenn wir nicht zugrunde gehen wollten. Dies geschah einerseits durch den Nebel, der über den Tag mit Emotionen gesättigt und nachts abgeerntet wurde, und alle zwei Wochen bekam jeder von der OE eine Ration komprimiertes Glück, das dann für die nächsten zwei Wochen reichen musste. Meistens tat es das aber nicht, beziehungsweise, die meisten von uns waren immer schon so gierig und ausgehungert, dass sie einen Großteil ihrer Ration in wenigen Tagen aufbrauchten. Eine weitere Methode, sich Emotionen und Glück zu beschaffen, war, einem Menschen in die Augen zu schauen und somit praktisch „auszusaugen“ - diese Eigenschaft war auch dafür verantwortlich, dass manche Menschen uns „Vampire“ nannten. Jedoch war diese Methode der Glücksbeschaffung nicht nur riskant, weil man es schnell mal übertreiben konnte, sondern auch egoistisch und durfte deshalb eigentlich nur in Notfällen eingesetzt werden. Dass sich viele nicht daran hielten, war natürlich eine andere Sache.
Obwohl ich mich den Menschen so fremd fühlte und es mir schwer fiel, in sie hineinzuversetzen, da ihre Gehirne einfach ganz anders arbeiteten als unsere, kam ich nicht umhin, einen gewissen Respekt vor ihnen zu haben. Wir zapften ihnen ständig jegliche Glücksempfindungen ab, sie waren wie Nutztiere für uns, deren Leben für uns nur wichtig war, damit sie uns weiterhin mit dem komplexen Rohstoff „Glück“ versorgen konnten, und trotz alledem schien in ihnen immer noch ein unbegreiflicher Funke Lebenswille zu stecken, der sie dazu antrieb, immer weiter zu machen. Weiter zu arbeiten, weiter ihren Pflichten nachzugehen, weiterhin jeden Morgen aufzustehen und ihre tägliche Routine einzuhalten, Verantwortung zu übernehmen, Familien zu gründen und Kinder zu bekommen. Als wäre in jeden Menschen ein gut funktionierendes Uhrwerk eingebaut, das trotzig immer weiterlief. Es war mir ein Rätsel, wie sie das anstellten – vielleicht war es der Herdentrieb, vielleicht die Gewohnheit, vielleicht Gehorsam und Pflichtgefühlt – , aber ich bewunderte sie auf jeden Fall dafür.
Leider schienen viele von der OE das anders zu sehen. Sie nutzten die Menschen aus, ohne sich klar zu machen, wie abhängig wir von ihnen waren. Dass wir nichts ohne sie wären. Nun, ich hatte nicht vor, eine große Revolution zur Befreiung der Menschen anzuzetteln, da ich keine Möglichkeit sah, wie man die Situation verändern konnte, ohne dass wir uns selbst dafür aufopfern mussten – aber ein bisschen mehr Sensibilität und ein deutlicheres Bewusstsein der Verhältnisse würde doch niemandem wehtun.
Ich stopfte mir den letzten Bissen des Sandwiches in den Mund – keine Ahnung, was für einen Belag es hatte – und leerte den Rest meines Getränks in einem Schluck, bevor ich aufstand, die Papierverpackung und den leeren Becher in den Mülleimer warf. Ich schüttelte meinen weiten Ärmel am linken Arm hoch und ein Blick auf die Armbanduhr sagte mir, dass meine Mittagspause bald vorüber war. Ich sollte mich langsam auf den Rückweg machen. Aber andererseits – wem würde es schon sofort auffallen, wenn ich meine Pause ein wenig überzog? Meinen Eltern würde es natürlich gar nicht gefallen, dass ich meine Arbeit nicht ernst genug nahm (und noch weniger würde es ihnen gefallen, wenn sie wüssten, dass ich ganz allein hier in der Innenstadt herumspazierte), aber sie mussten ja nichts davon erfahren. Und falls mir wirklich etwas passieren sollte – was ich bezweifelte, wenn ich so die mutlosen Gesichter der Menschen um mich herum betrachtete – konnte ich mich bestens selbst verteidigen. Schließlich lernte ich nicht umsonst verschiedenste Nahkampfarten und hatte im schlimmsten Fall auch noch eine Handfeuerwaffe bei mir, und natürlich meine Geheimwaffe: meine Augen.
Ich kramte mein Handy hervor, um Jonas anzurufen. Falls meine Eltern doch nach mir suchten und ihn nach mir fragten, konnte er sich doch sicherlich ein gutes Alibi für mich überlegen. Denn ich hatte nicht vor, meine gemütliche Bank in der nächsten halben Stunde zu verlassen. Der Springbrunnen plätscherte so schön und es quälten sich sogar ein paar erste Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke, die langsam, aber sicher begannen, die Luft aufzuwärmen.
Während das Telefon am anderen Ende klingelte und ich darauf wartete, dass Jonas den Hörer abhob, fragte ich mich, ob er vielleicht auch schon Neuigkeiten über Eric hatte. Oder einen Plan, seinem Freund zur Hilfe zu eilen. Ich hoffte es sehr, denn das konnte spannend werden – und würde mich wenigstens für kurze Zeit von meinen eigenen Gedanken ablenken, die sich immer nur im Kreis drehten und zu keinem Ergebnis führten.


4.1 Eric

Sofort brach in der Hütte das Chaos los. Stimmen riefen aufgebracht durcheinander, trappelnde Schritte waren zu hören und polternde Geräusche, als würden sie da drinnen die gesamte Einrichtung auseinander nehmen. Mit wild klopfendem Herzen lugte ich aus dem Schatten heraus, so weit, dass ich die Eingangstür sehen konnte. Gerade verschwand eine letzte Gestalt darin. Gut, dann waren die Autos jetzt bestimmt unbewacht. „Kommt!“, zischte ich Anton und Cecilia zu, bevor ich wie von der Tarantel gestochen losrannte. Das musste ich den beiden nicht zweimal sagen. Wir mussten schnell sein – wer wusste schon, wie lange Tobias die Leute von der OE ablenken konnte?
Die Scheinwerfer der Autos blendeten mich, als wir uns ihnen näherten. Es waren fünf Autos, sodass wir uns aufteilten. Schlitternd kam ich zum Stehen und wirbelte eine Staubwolke auf, die im grellen Scheinwerferlicht flimmerte. Dann warf ich mich hastig neben einem Autoreifen auf den sandigen Boden und rammte das Messer in das dicke Gummi-Profil. Es schien noch nicht einmal ganz einzudringen, so dick und hart war das Gummi.
Plötzlich schwang die Tür des Autos auf und hätte mich am Kopf getroffen, wenn ich nicht instinktiv zurückgezuckt wäre. Sofort zog ich das lange Messer wieder aus dem Reifen und sprang auf. Ich schaute direkt in den Lauf einer Pistole, der in dem grellen Licht kalt glänzte. Die Person, die die Waffe auf mich richtete, war groß, schlank und schwarz gekleidet und hatte anscheinend doch noch im Auto gesessen.
Bevor die Person jedoch abdrücken konnte, machte ich einen Schritt vorwärts und stieß zu. Die Messerklinge traf auf einen Widerstand, den sie jedoch überwand und tief in etwas Weiches eindrang, so weit, dass ich ein wenig die Balance verlor und gegen den Angreifer stolperte. Eine Schrecksekunde lang realisierte ich, dass das harte Metall der Pistole nun gegen meine Rippen drückte.
Doch es passierte – nichts. Die Person erstarrte, stolperte rückwärts und schaute ungläubig auf den schwarzen Kunststoffgriff, der aus ihrer Körpermitte ragte. Vor Entsetzen geweitete Augen schauten zu mir auf, und ich konnte nicht sagen, wer von uns beiden in diesem Moment schockierter aussah. Dann brach die Gestalt zusammen wie eine Marionette, bei der man alle Fäden losließ, und landete mit einem dumpfen Geräusch auf der Erde, das mir den Magen umdrehte. Der weite, dunkle Mantel wehte noch ein letztes Mal, dann lag die Gestalt reglos vor meinen Füßen.
Ich war unfähig, mich zu rühren. Mein Körper fühlte sich taub an, während die schreckliche Tatsache langsam in mein Gehirn sickerte. Ich hatte jemanden umgebracht.
„Eric!“ Ein Schrei und mehrere Schüsse, von denen ich nicht sagen konnte, aus welcher Richtung sie kamen, holten mich unsanft in die Gegenwart zurück. Mechanisch griff ich nach dem Messergriff und zog das lange Messer aus dem reglosen Körper, um den sich langsam eine glänzende Lache ausbreitete. Ein Déjà-Vu. Bevor mich jedoch die Erinnerungen überkommen konnten, drängte ich sie in die hinterste Ecke meines Gehirns zurück und schloss alle Gefühle weg. Nicht fühlen, nur denken, handeln.
Erfüllt von einer unerwartet kühlen Ruhe, die meine Gedanken klärte, schaute ich mich um. Irgendwo in mir lungerte noch die Angst herum, doch ich nahm sie in diesem Moment nicht wahr, als wäre ich ein Außenstehender, als hätte ich meinen Körper verlassen. Ich kniff meine Augen gegen das grelle Licht zusammen und sah bei einem anderen Auto einen dunklen Schemen, der mit einer Pistole auf zwei weitere Schatten feuerte, die zu einem anderen Auto rannten, um dahinter Schutz zu suchen. Der Angreifer folgte ihnen jedoch mit großen Schritten.
Mir wurde klar, dass ich sie nicht mehr rechtzeitig erreichen würde, um das Unvermeidliche zu verhindern. Es sei denn... Ein weiteres Mal bückte ich mich über den Toten, der merkwürdig verdreht vor mir lag, und zog ihm die Handfeuerwaffe aus den verkrampften Fingern. Ich hatte mit so einem Ding noch nie geschossen, aber was blieb mir Anderes übrig? Ohne noch weiter nachzudenken, zielte ich auf die dunkel gekleidete Person, was gar nicht so einfach war, so schnell, wie sie sich hin- und herbewegte.
Dann schoss ich. Einmal, zweimal, dreimal. Doch jedes Mal war nur ein unbefriedigendes blechernes Geräusch zu hören, wenn ich das Auto traf, welches Cecilia und Anton vor dem Angreifer versteckte. Jedoch bewirkte ich damit zumindest, die Aufmerksamkeit der dunklen Gestalt auf mich zu lenken.
„Pass auf, Eric!“, rief Cecilia, als der Angreifer nun stattdessen auf mich zielte. Schnell duckte ich mich hinter das Auto. Gerade noch rechtzeitig, denn schon im nächsten Moment zersplitterten die Autofenster über mir mit ohrenbetäubendem Knall. Glassplitter regneten auf mich herab. Für einen kurzen Moment war wieder der Autoreifen in meinem Blickfeld, bei dessen Zerstörung ich ziemlich erfolglos gewesen war. Vermutlich konnte man mit dem Auto sogar noch fahren.
Das brachte mich auf eine Idee.
Durch die noch offen stehende Tür kletterte ich ins Innere des Autos und stellte zufrieden fest, dass der Zündschlüssel noch steckte. Klar, sonst würden ja die Scheinwerfer nicht mehr leuchten. Dass das Innere des Autos ziemlich nobel aussah und mit edlen Ledersitzen ausgestattet war, nahm ich nur am Rande wahr.
Schnell duckte ich mich, als ein weiterer Schuss über meinen Kopf zischte. Er war diesmal so dicht, dass ich den Luftzug im Nacken spürte. Verdammt, ich musste echt vorsichtiger sein. Aber immerhin konnten Cecilia und Anton sich jetzt erstmal in Sicherheit bringen.
Ich warf den Motor an und versuchte, mir möglichst schnell wieder alles in Erinnerung zu rufen, was ich in den wenigen Stunden in der Fahrschule gelernt hatte, bevor ich in das Erziehungsinternat verschleppt wurde. Noch immer halb geduckt, irgendwie über das Lenkrad schielend, gab ich Gas. Das Auto machte einen Ruck und raste los, schnurstracks auf mein Ziel zu.
Die Gestalt hatte kaum Zeit, erschrocken zu gucken, als sie von den Scheinwerfern geblendet wurde. Einen Herzschlag später kam schon der Aufprall. Die Motorhaube knirschte laut und knautschte sich zusammen, als sie die Person erfasste und sie zwischen meinem gekaperten Auto und dem Auto, hinter dem sich Cecilia und Anton versteckten, zerquetschte. Da ich nicht angeschnallt war, wurde ich nach vorne geschleudert und knallte gegen die Windschutzscheibe. Benommen schob ich mich zurück in den Sitz und rieb mir den Kopf. Eine warme Flüssigkeit sickerte durch meine Finger und durchnässte meine Haare, doch ich schien nicht stark zu bluten.
Ich schaute mich um. Der Angreifer war tot, keine Frage. Hinter dem zerbeulten Auto, in das ich hineingerast war, schauten die schockierten Gesichter von Cecilia und Anton hervor, die anscheinend ihren Augen nicht glauben konnten. Sie sahen blass aus wie Gespenster, aber vielleicht lag das auch nur an dem Licht.
Ich sprang aus dem Auto. „Sitzen in den anderen Autos noch Leute?“
Anton schüttelte schnell den Kopf, während Cecilia nur mit glasigem Blick auf den zerbrochenen Körper starren konnte, der zwischen den beiden Autos feststeckte. Anton räusperte sich und riss selbst den Blick von dem unschönen Anblick los. „Nein, ich glaube nicht. Die wären doch ihren Kollegen zur Hilfe gekommen.“
„Gut.“ Ich atmete auf. Im selben Moment waren aus dem Haus wieder ein Krachen und mehrere Schüsse zu hören. Cecilia zuckte zusammen wie von einem Stromschlag. Sie schien leicht traumatisiert zu sein. Aber das war im Moment unser kleinstes Problem – Tobias war noch da drin, und das war viel schlimmer. Ich traf eine Entscheidung „Los, schnappt euch beide ein Auto und schaut nach, ob schon alle vom Dachboden nach draußen gekommen sind. Wenn ja, sammelt sie ein und flieht! Ich hole Tobias da raus!“, rief ich ihnen zu.
Ohne ihre Antwort abzuwarten – eigentlich war es ja Anton, der hier die Befehle gab, nicht ich, aber das war mir im Moment egal – lief ich los. Mein Blick fiel im Vorbeirennen zufällig auf den Mann, den ich ausgeschaltet hatte und der wie eine tote Fledermaus auf dem Boden lag, und der schwarze Mantel brachte mich auf eine Idee. Hastig kniete ich mich neben die Leiche und zog ihr den Mantel aus. Er war blutdurchtränkt, was man aber mehr fühlte als sah. Ich schlüpfte hinein und versuchte, die klebrige Nässe und den Blutgeruch z zu ignorieren. Wenn ich hier wieder umkippte, wäre ich Tobias auch keine Hilfe.
Ich zog die Kapuze über den Kopf und huschte in meiner Verkleidung so leise wie möglich zum Haus, das Messer in der einen, die Pistole in der anderen Hand. Durch das zerbrochene Küchenfenster erhaschte ich einen kurzen Blick auf Tobias' unverwechselbare, große Statur, bevor er wieder aus meinem Blickfeld verschwand. Wieder fielen Schüsse und ein Schmerzensschrei erklang. Die Scherben der Porzellanschüsseln, die Hanna gestern aus dem Fenster geworfen hatte, knirschten unter meinen Füßen, als ich an das zerbrochene Fenster trat und vorsichtig hineinschaute, in der Hoffnung, dass der dunkle Mantel mich in der Dunkelheit gut tarnte.
Die kleine Küche, die aussah, als wäre darin eine Bombe explodiert, war gefüllt von Männern (und einer Frau) in langen, weiten schwarzen Mänteln. Die Leute von der OE. Es waren jedoch nicht so viele, wie ich vermutet hatte, und ich befürchtete, dass ein Teil von ihnen noch das Haus nach uns durchsuchte. Hoffentlich gelang den anderen die Flucht, dachte ich kurz, doch darum konnte ich mir im Moment echt keine Gedanken machen. Die schwarz gekleideten Gestalten, die alle mit dem Rücken zu mir standen, bildeten einen Halbkreis um Tobias, der an der rechten Wand lehnte. Er atmete schwer und schien aus mehreren Wunden zu bluten, vor allem aus der Schulter und der rechten Hand. Seine Pistole lag ein paar Meter entfernt, anscheinend wurde sie ihm aus der Hand geschossen.
Die OE-Leute hatten alle ihre Pistolen auf ihn gerichtet und ich stellte mit einer gewissen Befriedigung fest, dass auch einige von ihnen nicht unverletzt davongekommen waren. Ein, zwei von ihnen mussten sich sogar an der Wand und diversen Möbelstücken abstützen. „So, was machen wir jetzt mit dir...?“, äußerte die einzige Frau der Gruppe ihre Gedanken laut, als klar wurde, dass Tobias nicht mehr in der Lage war, zurückzukämpfen. „Ich hätte ja nichts dagegen, dich zu erschießen, aber vielleicht würde das meinen Vorgesetzten nicht gefallen. Hm...“
Bevor sie eine Entscheidung treffen konnte, platzten plötzlich zwei weitere Schwarzroben durch die Tür und quetschten sich in den überfüllten Raum. Sie schleiften eine ohnmächtige Lisa und, zu meinem Entsetzen, eine weniger ohnmächtige Hanna mit sich. Wo war verdammt nochmal Paul, wenn man ihn mal brauchte?!
„Die haben wir auf dem Dachboden gefunden“, erklärte einer der Männer, der Hannas Oberarm ziemlich unsanft gepackt hatte. „Da waren auch noch andere, aber die konnten leider fliehen.“
„Ja um Himmels Willen, dann verfolgt sie! Muss man euch Holzköpfen eigentlich alles sagen?!“, explodierte die Frau, die anscheinend die Anführerin war, und die Männer zuckten erschrocken zusammen. „Los, packt die zwei in irgendein Auto und verfolgt die anderen! Und ihr...“ Sie gestikulierte zu den übrigen Anwesenden im Raum und nickte dann kurz zu Tobias hinüber, „...schnappt euch den hier und macht dasselbe. Kapiert?!“
Die Angesprochenen nickten eilig und kamen dem Befehl ohne Wiederworte nach. Das war mein Startsignal. Ich würde sie einfach an der Eingangstür abfangen. Gesagt, getan. Schnell lief ich zu dem einzigen noch intakten Auto und kletterte hinein. Wenn wir von Anfang an gewusst hätten, dass es so einfach sein würde, die Autos an uns zu reißen, und dass die Leute von der OE fahrlässig genug waren, die Zündschlüssel stecken zu lassen, hätten wir uns von Anfang an einen besseren Plan überlegen können. Aber das konnten wir jetzt nicht mehr rückgängig machen, also mussten wir einfach das Beste aus der Situation herausholen.
Ich startete den Motor und fuhr zur Eingangstür, als diese gerade aufschwang. Flankiert von mehreren schwarz gekleideten Leuten wurden Lisa, Tobias und Hanna herausgeführt – wobei Lisa eher getragen als geführt wurde und auch Tobias mehr tot als lebendig aussah. Hanna war die einzige, die versuchte, sich loszureißen, jedoch ohne Erfolg. Meine Hände zitterten vor Nervosität, und ich hoffte, dass niemand es bemerkte, als ich den Wagen zum Stehen brachte. Ich hielt den Kopf gesenkt, damit niemand mein Gesicht sah.
„Ah, prima Service“, hörte ich einen der Männer seufzen, anscheinend erleichtert, dass sie ihre lebendige Last nicht mehr so weit tragen beziehungsweise zerren mussten. Die hinteren Autotüren wurden geöffnet.
„Schmeißt die kleine Blonde und den Jungen rein, dann haben wir die schon mal verstaut“, befahl die Anführerin. Erst dumpfe und dann surrende Geräusche hinter mir verrieten, dass die beiden in die Sitze geworfen und wahrscheinlich gefesselt wurden. Gleichzeitig war das Geräusch von Schritten zu hören, die an dem Auto vorbei gingen – wahrscheinlich wollten die meisten von ihnen sich nun auf die anderen Autos aufteilen. Zu dumm, dass diese Autos teils bis zur Unbrauchbarkeit zerstört und teils verschwunden waren – und dann lagen da auch noch die zwei Leichen...
Mein Herz pochte laut und schmerzhaft in meiner Brust und ich starrte angespannt auf meine weißen Knöchel, während die Beifahrertür geöffnet und die hinteren Türen zugeknallt wurden. Drei, zwei, eins...
Die Schritte verstummten. „Äh, Ma'am? Wir haben ein Problem.“, die Stimme klang bemüht, Ruhe zu bewahren – so, wie man sich eine Stimme vorstellt, die schlechte Nachrichten überbringt. Ein kurzer Blick verriet mir, dass auch der Mann, der gerade in den Beifahrersitz steigen wollte, besorgt in die Richtung schaute, aus der die Stimme kam. Jetzt oder nie.
Ich schoss dem Mann in die Körpermitte, sodass er die Autotür losließ und zurückstolperte, und trat voll aufs Gas. Der Wagen schoss mit einem Jaulen vorwärts. Hektisch fummelte ich mit der Gangschaltung, während hinter mir wild durcheinanderrufende Stimmen und Schüsse zu hören waren. Jetzt bloß nicht den Motor abwürgen! „Köpfe runter!“, schrie ich den hinteren Insassen zu und duckte mich ebenfalls. Keinen Moment zu früh, denn schon im nächsten Moment wurden das hintere Fenster und die Windschutzscheibe von den Schüssen perforiert und uns flogen die Splitter um die Ohren. Oh Gott, hoffentlich trafen sie keinen Reifen!
Hanna kreischte entsetzt auf, als im Scheinwerferlicht plötzlich die Silhouette eines knorrigen Baums auftauchte. Ich riss das Lenkrad herum und hätte schwören können, dass die Reifen auf der rechten Seite des Wagens kurz vom Boden abhoben. Ich steuerte um das kleine Haus herum und war erleichtert, als das grelle Scheinwerferlicht Reifenspuren erhellte. Wenn wir denen jetzt nur folgten, würden wir hoffentlich bald auf unsere Freunde treffen. Hauptsache, sie griffen uns dann nicht an, wenn sie mich in diesem schwarzen Mantel sahen. Ich setzte die Kapuze ab und wagte für ein paar Sekunden, das Lenkrad loszulassen, um das nasse, stinkende Teil auszuziehen.
Hinter mir atmete jemand geräuschvoll aus. „Eric? Bist du das?“, fragte Hanna, ungläubige Hoffnung in der zögerlichen Stimme.
„Ja.“ Ich warf einen Blick in den Innenspiegel und begegnete ihrem gespenstisch bleichen Gesicht. Erleichtert lächelte sie mir zu. „Wie geht’s Tobi?“, fragte ich, nicht sicher, ob ich die Antwort hören wollte.
„Du kannst mich ruhig in der ersten Person Singular ansprechen, weißt du“, murmelte eine schmerzverzerrte Stimme und vor Erleichterung schienen alle Muskeln in meinem Körper zu erschlaffen. Ich atmete einmal tief ein und aus. „Okay, wie geht es dir?“
„Hab mich schon mal besser gefühlt.“ Er ächzte und hustete, gefolgt von einem weiteren Ächzen. Aber solange er noch Geräusche von sich gab, lebte er immerhin noch.
„Seid ihr gefesselt? Ich hab ein Messer dabei“, sagte ich und reichte es nach hinten. Dankbar nahm Hanna es an und für ein paar Minuten senkte sich wieder Stille über das Auto. Keine von uns wollte ansprechen, was gerade alles passiert war. Warum auch? Was vorbei war, war vorbei.
Schweigend fuhren wir durch die Nacht und ich schaute alle paar Minuten in den Innen- oder die Außenspiegel, immer mit der Befürchtung, dass wir doch noch verfolgt wurden. Abgesehen von dem lauten Motorengeräusch verstrich die Zeit in Stille. Minute um Minute. Zeit war für mich immer so eine nicht fassbare Konstante gewesen, aber in diesen langen Momenten spürte ich sie wie eine vierte Präsenz in dem kleinen Wagen. Je mehr Zeit verstrich, umso wahrscheinlicher wurde es, dass jemand schon unsere Spur aufgenommen hatte. Je mehr Zeit verstrich, umso mehr Lebenskraft sickerte aus Tobias' verletzten Körper. Und je mehr Zeit verstrich, umso mehr musste ich gegen die bröckelnde Fassade in mir ankämpfen, dagegen, dass das Erlebte mich einholte und alle möglichen Emotionen wie eine Lawine in mir lostrat.
Ich musste durchhalten, nur noch ein bisschen länger durchhalten...
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BeitragThema: 4. Vampire (zweiter Teil)   Die Stadt Namenlos EmptyDi Sep 10, 2013 2:38 am

4.2 Ash


Ich hatte die dunkle Ahnung, dieses Gefühl schon sehr gut zu kennen. Dieses Gefühl, zu fallen – direkt in die tiefsten Abgründe meiner Seele. Ein angsteinflößendes Gefühl von Leere und Hilflosigkeit, das mich lähmte, sowohl physisch, als auch psychisch. Ich saß an einem groß gezimmerten Tisch und starrte auf eine warme Tasse Tee in meinen Händen, deren Wärme irgendwie nicht in meinen Körper vordringen wollte. Obwohl meine Haut und meine Muskeln von dem anstrengenden Lauf glühten, herrschte in mir eine eisige Kälte, die allmählich jede Zelle von mir einnahm.
Je länger ich dasaß und in die trübe Flüssigkeit starrte, die langsam abkühlte, umso mehr kühlte auch mein Körper ab. Meine Kleidung war schweißdurchnässt und klebte an mir, und da es in dieser chaotischen kleinen Wohnung, die eher nach Baustelle aussah, nicht gerade warm war, begann ich schon bald, zu zittern. Ich nahm einen Schluck von dem nun lauwarmen Tee und stellte die schlichte Tasse vorsichtig wieder auf dem Tisch ab, als könnte sie jeden Moment in meinen Händen zerbrechen.
Tatsächlich hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass irgendetwas gerade auseinandergebrochen war. Und die Scherben schwirrten in meinem Kopf umher, verwirrten mich. Ich versuchte, mir einen Reim darauf zu machen, was gerade passiert war, doch mir schossen immer nur einzelne Gedanken durch den Kopf, die sich zu keinem rechten Gedankenstrang zusammenfügen wollten. Ich runzelte frustriert die Stirn. Was war mit mir los? Hatte ich jemanden getötet? Wieso war ich weggelaufen? Wer waren diese Leute? War es meine Schuld? Wer war ich überhaupt? War ich irre?
Nun, in meinem derzeitigen Zustand konnte ich zumindest die letzte Antwort mit „Ja“ beantworten. Tröstlich war das auch nicht.
Ich zuckte leicht zusammen, als sich eine kühle, schlanke Hand auf meinen Unterarm legte, schreckte aus dem Chaos auf, das in mir brodelte. Ich hatte ganz vergessen, dass ich ja nicht allein war. Wie lange hatte ich schon hier gesessen und vor mich hingestarrt? Ich hob den Kopf und schaute die junge Frau entschuldigend an. „Tut mir leid, ich war... gerade ganz weit weg“, murmelte ich.
Ihre Mundwinkel hoben sich leicht, was wohl nach einem mitfühlenden Lächeln aussehen sollte, doch es wirkte verkrampft. Es hob ein paar kleine Fältchen an ihren Mundwinkeln hervor und mir wurde bei genauerer Betrachtung klar, dass sie gar nicht mehr so jung war. Vielleicht Mitte, Ende dreißig?
„Ist schon in Ordnung“, sagte sie und tätschelte meinen Arm, ohne jemals den Augenkontakt zu unterbrechen. Sie starrte mich so intensiv an, dass es schon unangenehm war, und ich senkte den Blick wieder. „Willst du mir erzählen, was passiert ist?“
Ich seufzte. „Ich... ich verstehe es selbst nicht genau“, sagte ich der Teetasse. In der dunklen Flüssigkeit spiegelte sich mein eigenes ratloses, verloren dreinschauendes Gesicht wieder, leicht verschwommen. „Aber vielleicht hilft es ja, wenn ich versuche, es zu erzählen“, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu der Frau.
Und so begann ich, zuerst noch zögerlich, der Reihe nach zu erzählen, was mir heute alles passiert war. Tatsächlich half es mir, eine gewisse Reihenfolge in die Geschehnisse zu bekommen. Ich erzählte ihr, wie ich aufgewacht war und mich an nichts mehr erinnern konnte; wie ich dann rausgegangen war und den Selbstmord miterlebt hatte, ohne ihn verhindern zu können; und wie ich schließlich von den schwarz gekleideten Personen in die Enge getrieben wurde. Ich behielt kein Detail für mich, auch wenn ich die junge Frau ja gar nicht kannte. Irgendetwas sagte mir trotzdem, dass ich ihr vertrauen konnte. Schließlich schien sie mir wirklich helfen zu wollen. Und außerdem hatte ich ja nichts Falsches oder Kriminelles getan, oder?
Während ich erzählte, hörte ich das leise Kratzen eines Kugelschreibers auf Papier. Sie machte sich also Notizen, aber ich ließ mich davon nicht stören, schaute noch nicht einmal auf ihre Schrift, um mich nicht aus dem Konzept bringen zu lassen. Als ich am Ende meiner Erzählung angelangt war, verstummte das Kratzen für einen Moment und sie fragte: „Hat dir einer der schwarz gekleideten Personen seine Augen gezeigt?“
Ich nickte und schauderte beim Gedanken an diesen eisigen, durchdringenden Blick, und was er mit mir angestellt hatte. „Ja.“ Ich schluckte. „Und dann hab ich mich plötzlich ganz komisch gefühlt... Als ob...“
„...als ob dir all deine Gefühle, besonders die positiven, ausgesaugt werden würden?“
Überrascht schaute ich auf. Ich nickte langsam, dann bestimmter. „Ja, so könnte man es beschreiben...“ Ich runzelte verwirrt die Stirn, als ich sah, dass das Notizbuch, in dem die junge Frau die ganze Zeit emsig geschrieben hatte, nur blanke, weiße Blätter enthielt, die alle vollkommen leer waren.
„Hab ich mir gedacht“, murmelte sie und schrieb noch ein paar Worte. Aus dem Stift kam blass grüne Tinte, die nach wenigen Sekunden unsichtbar wurde. „Und du hast es von allein geschafft, dich von dem Blick loszureißen?“, wiederholte sie noch einmal, als ob sie es gar nicht glauben konnte, ohne auf meine Verwirrung einzugehen. Sie schaute mir wieder in die Augen und ihr Blick war fast genauso eindringlich wie der von dem Kapuzenheini. Unwillkürlich senkte ich meinen Blick wieder auf die Teetasse. „Ja, ich hab's zwar nicht sofort geschafft, aber irgendwann schon“, murmelte ich. Warum interessierte sie das? Ein mulmiges Gefühl machte sich in meinem Bauch breit. War es falsch, dieser fremden Frau zu vertrauen?
Das ungute Gefühl verstärkte sich, als sie sanft, aber bestimmt mein Kinn anhob und mich zwang, ihr in die Augen zu schauen. Sie studierte mich mit zusammengekniffenen Augenbrauen, wie ein ungewöhnliches Ausstellungsexemplar. „Das ist wirklich bemerkenswert...“, murmelte sie mehr zu sich selbst als zu mir, und ihr blasses Gesicht war meinem so nah, dass ich ihren warmen Atem auf der Haut spürte.
Da reichte es mir. Ich wollte endlich aufgeklärt werden, was hier los war. Etwas unsanft schob ich sie von mir und fragte mit etwas festerer Stimme als zuvor: „Wer sind Sie überhaupt? Warum interessiert Sie das alles so? Woher weiß ich überhaupt, dass ich Ihnen vertrauen kann? Und was meinen Sie mit bemerkenswert?“, sprudelten die Fragen aus mir heraus, die mir nun schon eine Weile auf der Seele lagen.
„Ach je.“ Sie lehnte sich zurück und fuhr sich mit einer Hand durch das schulterlange, krause Haar, das trotz seiner Farblosigkeit einen leichten Kupferstich aufwies, wie verstaubter, verkrusteter Rost. Als würde darin eine Flamme schlummern, die jedoch nicht herausbrechen konnte. „Tut mir leid, ich vergesse manchmal meine guten Manieren, wenn ich etwas aufgeregt bin. Na ja, nicht nur dann.“ Entschuldigend zuckte sie mit den schmalen Schultern und reichte mir eine Hand. „Ich bin Satinca, und bitte hör auf, mich zu siezen, sonst fühl ich mich alt.“
„Okay...“ Zögerlich ergriff ich die Hand und drückte sie kurz, bevor ich meine Hand schnell wieder zurückzog und noch einen Schluck Tee nahm. Er schmeckte extrem bitter. „Ich würde mich ja auch gerne vorstellen, aber wie gesagt...“ Ich zuckte mit den Schultern.
„Du kannst dich also an wirklich gar nichts mehr erinnern? Noch nicht einmal an deinen eigenen Namen?“
Ich schüttelte den Kopf.
„Hm... Nun ja, ich kann es mir nicht wirklich erklären, wie das passiert ist, aber es scheint ja gute Auswirkungen zu haben.“
Ich runzelte die Stirn. „Was meinen Sie... Was meinst du damit?“ Ich für meinen Teil sah es nicht gerade als „gute Auswirkungen“, dass ich keine Ahnung mehr hatte, wer und wo ich war und dass ich mich generell gar nicht mehr in diesem Leben zurechtfand, das eigentlich mein eigenes sein sollte.
„Na, schau doch mal.“ Sie lehnte die Ellenbogen auf den Tisch und verschränkte die langen, schlanken Finger ineinander. „Du hast doch gesehen, wie deprimiert alle Leute durch die Stadt schleichen. Du warst sicherlich mal genauso. Aber jetzt ist deine ganze Vergangenheit verschwunden, und anscheinend nicht nur alle Erinnerungen, sondern auch die damit verknüpften Emotionen. Du bist frei – jedenfalls für den Moment.“ Nachdenklich kaute sie auf dem Ende des weißen Kugelschreibers.
„Frei? In wiefern denn frei? Ich verstehe nicht...“
„Also gut“, seufzte sie, nahm den Stift aus dem Mund und schaute das angekaute Ende an, als fragte sie sich, wie es in ihren Mund geraten war. „Dann muss ich wohl ganz von vorne anfangen, bei Adam und Eva. Aber ich versuche, mich kurz zu halten.“ Ungeduldig tippte sie mit dem Stift auf die Tischplatte und ich kam nicht umhin, zu bemerken, dass sie genervt schien, mir nun die Welt erklären zu müssen. Aber das hatte sie davon. Bisher hatte ich ja die ganze Zeit erzählt.
„Okay, also: Diese schwarz gekleideten Gestalten waren Vampire. Nicht die Art von Vampiren, an die du jetzt wahrscheinlich denkst“, fügte sie augenrollend hinzu, als sie meinen entsetzten Blick sah. „Sie werden nur so genannt, weil sie – wie du schon gemerkt hast – anderen Menschen mit ihren Augen die Gefühle aussaugen können. Die Vampire sind keine Menschen wie wir. Das sieht man schon daran, dass sie so grelle Augen- und Haarfarben haben.“
„Aber...“, wollte ich besorgt nachhaken und machte eine Handbewegung in Richtung meiner Augen.
„Ja, deine Augen sind auch ziemlich grell“, winkte sie meinen Einwand ab, „und das liegt mit Sicherheit daran, dass du gefühlsmäßig noch nicht abgestumpft bist. Weißt du, es gibt Menschen, die innerlich stärker sind als andere, und je nachdem, wie stark man ist, umso farbiger oder eben blasser sind auch Haare und Augen.“
Ich nickte, als Zeichen, dass ich verstand.
„Die Vampire gehören jedenfalls zu der OE, der Organisationseinheit, die über die Stadt herrscht.“
„Und es kann sich niemand gegen ihre Herrschaft wehren“, überlegte ich laut und trank noch einen Schluck Tee. Allmählich wurde mir Einiges klar. „Sie regieren also praktisch mit ihren Augen.“
„Ja, aber nicht nur. In erster Linie regieren sie mit dem Nebel, den sie in der ganzen Stadt verbreiten.“
„Welcher Nebel?“, fragte ich nach, „Ich hab gar keinen gesehen. Okay, es war ein bisschen dunstig, aber nicht wirklich neblig...“
„Du wirst den Nebel noch früher sehen, als dir lieb ist.“ Sie lächelte kurz, doch ihre katzenartigen Augen blieben ernst. „Morgens ist der Nebel noch kaum sichtbar. Über den Tag wird der Nebel dann immer dichter, saugt sich sozusagen mit den Emotionen der Bevölkerung voll. Abends ist es manchmal so neblig, dass man kaum die Häuser auf der anderen Straßenseite sieht. Nachts sammelt die OE dann die Nebelfelder ab und wer weiß schon, was sie dann damit anstellen. Auf jeden Fall halten sie uns mit diesem Nebel ganz schön in Schach. Und das Dumme ist, dass die meisten Leute gar nicht wissen, dass der Nebel für ihre Niedergeschlagenheit verantwortlich ist. Viele glauben, dass es ein Fluch ist, der über der Stadt liegt. Und dass die Vampire selbst eine kalte Atmosphäre verbreiten. Das ist Schwachsinn, aber es ist ein psychologisches Phänomen, wenn man nur fest genug daran glaubt. Oh, und ihre Augen setzen die Vampire eigentlich nur ziemlich selten ein, zum Beispiel, wenn sie jemanden sehen, dessen Haar- und Augenfarbe ihnen ein bisschen zu intensiv ist. Für normale Menschen ist es kaum möglich, sich loszureißen, wenn sie ihnen einmal in die Augen schauen. Dafür muss man schon extrem stark sein – auf emotionaler und psychischer Ebene.“
Forschend schaute sie mich an, während ich all diese neuen Informationen gedanklich verarbeitete. „Woher weißt du das alles?“, fragte ich schließlich. „Ich meine, nicht, dass ich dir nicht glaube...“, fügte ich schnell hinzu, als sich ihre Augen warnend verengten, „Aber warum wissen so viele die Wahrheit nicht, und du schon?“
„Also, ich habe keine Kontakte zur OE, falls du das meinst“, sagte sie und ihre Stimme klang plötzlich kälter als zuvor. Ich hob abwehrend die Hände, so hatte ich das ja nicht gemeint; doch sie fuhr schon fort: „Ich arbeite bei der Verbotenen Zeitung. Es gibt verschiedene offizielle Tageszeitungen in Namenlos, aber die werden alle von der OE kontrolliert und schreiben nur Unsinn. Die Verbotene Zeitung wird von Ehrenamtlichen wie mir produziert und kostenlos in den Straßen verteilt. Es ist ein ziemlich riskanter Job, aber irgendwer muss ja die Wahrheit unter das Volk bringen. Wir haben ein paar wenige Spione in der OE, aber das meiste, was wir in der Zeitung veröffentlichen, finden wir selbst heraus“, erklärte sie nicht ohne Stolz. „Manches ist natürlich auch einfach nur logisches Denken. Zum Beispiel, dass es keinen Sinn macht, auf Fatum zu warten.“
„Fatum?“ Ich horchte auf. „Ich hab schon ein paar Plakate gesehen, auf denen irgendetwas von Fatum stand. Sowas in der Art wie: Vertraut auf Fatum und er wird euch retten. Oder: Nur wer sein Schicksal in Fatums Hände legt, hat sich den Eintritt ins Himmelsreich verdient. Und noch ganz viel andere Vergötterung.“
„Das Wort Vergötterung trifft es ziemlich genau auf den Punkt“ seufzte sie und verdrehte die Augen. Es war ihr anzusehen, was sie von diesem Thema hielt. „Fatum ist tatsächlich so etwas wie ein Gott. Der einzige Gott, zu dem man beten darf. Und es müssen auch alle zu ihm beten, auch wenn das natürlich keiner überwachen kann. Wie schon gesagt, liegt angeblich ein Fluch über Namenlos, und Fatum ist der Erlöser, der irgendwann zu uns kommen und uns alle retten wird. Es ist nicht bekannt, wer sich diesen Fatum-Quatsch ausgedacht hat – vielleicht war es die OE, um den Leuten wenigstens eine Sache zu geben, die sie noch zum Leben animiert. Und damit man lieber zu Fatum betet, wenn man unzufrieden ist, als zu versuchen, sich gegen die OE zu wehren. Aber vielleicht war es auch die Bevölkerung selbst, um etwas zu haben, woran man seine Hoffnung klammern kann. Etwas, worauf man vertrauen kann.“
Sie zuckte die Schultern. „Ich gebe zu, es klingt schon verlockend, so einen Anker zu haben – aber ich bin einfach zu skeptisch, um an einen unsichtbaren Übermenschen glauben zu können. Und selbst wenn Fatum existieren würde – wer weiß schon, wann er kommt? In zehn Jahren? In hundert Jahren? Oder in tausend Jahren? So lange will ich eigentlich nicht mehr warten.“
„Hm.“ Ich wusste nicht wirklich, was ich dazu sagen sollte. Ich glaubte nicht, dass ich jemals an Fatum geglaubt hatte, oder dass ich es jemals tun würde. Dafür war ich einfach zu sehr Realist. Und man musste schon ziemlich verzweifelt zu sein, um sich an etwas zu klammern, dessen Existenz weder bewiesen noch logisch war. Aber vielleicht war ich ja schon mal so verzweifelt gewesen?
Mein Blick fiel wieder auf das leere Notizbuch und den weißen Kugelschreiber, mit dem Satinkas lange, bleiche Finger spielten, und mit fiel eine weitere Frage ein. Ich deutete auf das kleine Büchlein. „Wie kannst du eigentlich die Schrift noch lesen, nachdem sie verschwunden ist?“
Sie versteifte sich und zögerte, schaute sich nervös um, obwohl wir die Einzigen in der Wohnung waren und sie kurz nach meiner Ankunft alle Vorhänge vorgezogen hatte. Sie winkte mich näher, sodass ich meine Teetasse zur Seite schob und mich über den Tisch zu ihr beugte. „Ich habe eine spezielle Taschenlampe, mit deren Licht ich die Schrift wieder sichtbar mache“, flüsterte sie so leise, dass ich die Worte mehr von ihren blassen Lippen ablas, als dass ich sie hörte. „In diesem Notizbuch schreibe ich alles für die Verbotene Zeitung auf, deshalb wäre es mein Todesurteil, wenn die OE es findet. Oder irgendein Außenstehender, der mich dann an die OE verrät.“ Sie schenkte mir einen vielsagenden Blick, was mir einen Stich gab. Dachte sie wirklich, dass ich sie verraten würde? Nach allem, was sie für mich tat? Ich öffnete schon den Mund, um zu protestieren, doch sie legte wieder beschwichtigend eine Hand auf meinen Unterarm und schüttelte leicht den Kopf. Ich schluckte meine Worte hinunter. Natürlich wusste sie noch nicht, ob sie mir wirklich vertrauen konnte. Genauso wenig, wie ich wusste, ob ich ihr vertrauen und glauben konnte. Aber mein Bauchgefühl sagte mir, dass ich es tun sollte. Irgendjemandem musste ich ja Glauben schenken, und was sie erzählte, klang ziemlich plausibel. Es war ein Risiko für uns beide – ein gut kalkuliertes Risiko.
„Wirst du also einen Artikel über mich schreiben?“, fragte ich in demselben Flüsterton zurück.
Sie nickte. „Ich würde es gerne tun, wenn du keine nachvollziehbaren Gründe hast, die dagegen sprechen.“
Ich lächelte leicht. „Solange du meinen Namen nicht erwähnst...“
„Ich weiß deinen Namen doch gar nicht. Du weißt ihn doch noch nicht einmal selbst. Oder doch?“, fragte sie stirnrunzelnd, die Skepsis zurück auf ihrem Gesicht.
„Hey, das sollte ein Witz sein“, erklärte ich augenrollend und boxte ihr spielerisch gegen den Arm. „Nimm doch nicht immer alles so ernst.“
Sie lachte kurz auf, doch es klang bitter. „Ich sollte dir jetzt wohl sagen, dass dir das Lachen in Namenlos schnell vergehen wird. Aber... ich hoffe natürlich, dass es nicht so sein wird.“ Und diesmal schenkte sie mir sogar ein kleines Lächeln, das ernst gemeint aussah.
„Danke“, sagte ich, und auch ich meinte es ernst. „Das hoffe ich auch.“ Ein Kälteschauer überlief mich, als ich mich wieder zurücklehnte und die Bewegung meine immer stärker werdende Gänsehaut beinah schmerzhaft zusammenzog. Ich verzog das Gesicht. „Ich weiß, wir haben uns gerade erst kennen gelernt, aber... Hättest du vielleicht trockene Klamotten für mich?“, fragte ich etwas kleinlaut.
„Oh, aber natürlich! Tut mir leid, da hab ich gar nicht dran gedacht.“ Sie sprang förmlich von ihrem Stuhl auf, das schlechte Gewissen in die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen eingraviert. „Du hättest ruhig schon früher etwas sagen können. Ich hole dir gleich etwas zum Anziehen, willst du erstmal eine heiße Dusche nehmen?“
Ich zögerte, eigentlich wollte ich sie nicht gleich bei unserem ersten Aufeinandertreffen so ausnutzen. Und nach dem Zustand ihrer Wohnung zu urteilen, war Satinca ziemlich knapp bei Kasse – da wollte ich nicht auch noch ihre Wasserrechnung in die Höhe treiben. Aber andererseits klang eine heiße Dusche so verlockend, dass ich nicht nein sagen konnte. „Sehr gerne, wenn das wirklich kein Problem für dich ist.“
„Ach Quatsch“, winkte sie ab und schnappte auf dem Weg noch meine leere Teetasse vom Tisch, bevor sie in einem anderen Raum verschwand. „Geh ruhig schon vor, das Bad ist gleich links, wenn du aus der Küche kommst. Handtücher müssten auch da sein.“
„Okay, danke.“ Ich folgte ihren Anweisungen und schlüpfte schon auf dem Weg zum Bad aus meiner Jacke. Gott, wie sehr ich mich nach warmer, trockener Kleidung sehnte! Ich betrat das kleine, nicht gerade saubere Bad und wollte gerade die Tür hinter mir zuziehen, als ich doch noch einmal innehielt. Mit der Klinke in der Hand schaute ich aus der Tür. „Ach ja, Satinca?“
Sie steckte ihren Kopf aus dem Türspalt gegenüber, wieder ein misstrauisches Stirnrunzeln auf dem Gesicht. „Ja?“
„Wieso erzählst du mir das alles? Wieso vertraust du mir?“
Sie lächelte erleichtert, dass dies das einzige war, was mir noch unter den Nägeln brannte. Dann schien sie aber selbst noch kurz über die Antwort nachdenken zu müssen. „Hm.“ Sie schaute nachdenklich zur Seite, während sie einen dunkelblauen Fleece-Pullover zusammenlegte. „Na ja, ich bin eigentlich immer auf der Suche nach Leuten, die noch ein kleines bisschen Willenskraft und Widerstand in sich haben. Leute, die vielleicht bei der Verbotenen Zeitung mithelfen wollen, oder, falls es so etwas jemals geben wird, bei einer Revolution gegen die OE mithelfen könnten. Und ich habe noch nie zuvor einen Menschen mit so grünen Augen gesehen, wie du sie hast.“
Sie schaute mich wieder an und lächelte leicht. „Und davon abgesehen habe ich wohl auch keine andere Wahl, als dir zu vertrauen, oder?“


4.3 Lux


Es dauerte eine Weile, bis der Hörer am anderen Ende abgenommen wurde, aber das war ja normal für Jonas. „Lux, bist du das?“
„Und was hättest du gesagt, wenn ich es nicht wäre?“, gab ich zurück.
„Ich hab deine Nummer auf dem Display gesehen. Lux, ich glaub ich hab eine Spur zu Eric!“, kam er sofort auf den Punkt.
Ich war überrascht – aber positiv überrascht. Das war ja schnell gegangen. „Erzähl“, forderte ich meinen Freund auf, auch wenn er das bestimmt sowieso vorhatte.
„Also, gerade eben kam ein Anruf rein – von einer Gruppe von Mitarbeitern, die letzte Nacht eigentlich nur von ein paar Einzelhändlern M abholen wollten. Sie waren aber in der Nähe von dem Internat Country – du weißt schon, wo gestern Abend einige Jugendliche ausgebrochen sind? - und deshalb wurde ihnen noch per Funk gesagt, dass sie bei der Gelegenheit auch alle Häuser durchsuchen sollen, ob die Kinder sich da verstecken.“ Er sprach ganz schnell und leise, als ob er Angst hatte, überhört zu werden, sodass es schwer war, ihn zu verstehen. Erst recht, da seine Stimme vor Aufregung leicht zitterte. Ich drückte mir das Handy dichter ans Ohr und hielt mir mit einer Hand das andere Ohr zu, um den Straßenlärm auszublenden. „Und stell dir vor, bei einer Hütte haben sie sie tatsächlich gefunden! Na ja, was heißt gefunden – da ist wohl ziemliches Chaos ausgebrochen. Mehrere OE-Mitarbeiter wurden getötet, einige weitere verletzt, und dann haben sie auch noch ein paar Autos zerstört und sind mit den übrigen geflohen.“
„Wow, ganz schön heftig.“ Ich spürte ein Lächeln auf meinen Lippen. Das war aufregend. WIRKLICH aufregend. Am liebsten hätte ich sofort alle Details gewusst, doch da fiel mir plötzlich etwas auf. Ich runzelte die Stirn. „Moment mal – das Ganze ist letzte Nacht passiert? Aber mein Vater hat das heute auf der Konferenz gar nicht angesprochen.“ Glaubte ich zumindest, so genau hatte ich nicht zugehört. „Und wieso erfährst du das jetzt erst? Wieso erfährt die ganze OE das jetzt erst?“, berichtigte ich mich, als mir einfiel, dass Jonas ja das gesamte Telefon- und Handynetz der Stadt abhören konnte und auch einen eigenen Funkempfänger hatte, also immer der Erste war, der Neuigkeiten wusste.
„Das ist das Schlimme an der Sache. Oder das Gute, wie man's sieht.“ Ich hörte ein leises Knarren im Hintergrund und konnte mir bildlich vorstellen, wie Jonas sich in seinem schwarzen Plastikdrehstuhl zurücklehnte. „Die Trottel hatten nur ein einziges Funkgerät mitgenommen, und das ist wohl in einem der Autos geblieben, die die Geflohenen gekapert haben. Handynetz gibt’s da draußen ja nicht, und das einzige Telefon im Haus ist wohl zerstört worden, als sie sich da drinnen eine Schießerei geliefert haben. Unsere Leute mussten also erstmal ein paar Kilometer zu Fuß laufen, bis sie an ein anderes Haus kamen. Und das mit den Verletzten...“
„Die Armen.“ Meine Stimme klang spöttischer, als ich beabsichtigt hatte. Natürlich waren die armen Teufel bemitleidenswert, aber wer so fahrlässig war, nur ein einziges Funkgerät mitzunehmen, war selbst schuld, wenn so etwas passierte. Wahrscheinlich hatten die auch alle ihr regelmäßiges Training im Schießen und im Nahkampf schleifen gelassen, sich in Sicherheit gewogen, dass ihnen bei ihrer drögen Arbeit schon nichts passieren würde. Das hatten sie jetzt davon. „Kann man das Funkgerät denn orten?“
„Ja, das ist das Gute daran. Ich habe es schon geortet und es bewegt sich noch. Die fahren mitten durch die Pampa, immer mit viel Abstand um alle Landhäuser herum. Keine Ahnung, ob sie ein bestimmtes Ziel haben oder nicht...“ Er verstummte plötzlich und ich hörte im Hintergrund das Geräusch einer sich öffnenden Tür. „Ah, wenn das nicht der gute Tom ist! Was machst du denn hier? Und gegen welche Wand bist du heute schon gelaufen?“
Es folgte ein missgelauntes Gebrummel im Hintergrund, das sich sehr nach „HaltsMaulMitWemTelefonierstDuDaHastDuEinKühlkissen?“ anhörte. Tom Timothy war ein guter Freund von Jonas. Sie sahen sich nicht oft und wenn man sie mal zusammen erlebte, hatte man nicht gerade das Gefühl, dass sie ein Herz und eine Seele waren. Aber Jonas kannte Tom schon ewig – wenn auch nicht ganz so lange wie Eric – und vertraute ihm blind. Dasselbe war auch umgekehrt der Fall. Ich wusste nicht, was ich von Tom halten sollte, dazu hatte ich ihn noch nicht oft genug getroffen. Bisher hatte ich ihn aber nur in mieser Stimmung erlebt, und heute war keine Ausnahme. Okay, dauerhaft miese Stimmung hatten viele – aber bei Tom war es besonders schlimm, eine geradezu aggressive Griesgrämigkeit.
„Das ist nur Lux“, beruhigte Jonas ihn, was ich mit einem sarkastischen Schnauben quittierte. Nur Lux, schon klar. „Warte kurz, ich mach mal laut. Oh, und ein Kühlkissen kannste dir selbst holen, da in dem Kühlschrank müssten noch Eiswürfel sein.“
Ich hörte ein Klicken, als Jonas den Lautsprecher seines Telefonapparats anschaltete, und schon konnte ich Tom deutlicher hören, wie er „Tolles Kühlkissen“, murrte. „Auf Eiswürfel kann ich verzichten, die machen nur meine Haare nass.“
„Hast recht, blutverklebt sehen die viel besser aus“, erwiderte Jonas und ich hatte automatisch sein hämisches Grinsen vor Augen.
„Blutverklebt?“, wiederholte ich. Noch mehr Action? Heute war mein Glückstag!
„Ja“, knurrte Tom nach einer kurzen Pause, „Ich war mit ein paar anderen auf Streife auf der Iron Bridge und hab einen gesehen, der richtig bunte Augen hatte. Ehrlich, sowas hab ich noch nie vorher gesehen, noch nicht mal bei einem von uns. Ein richtig grelles Grün. Hey, Jonas, ich darf mir doch ein Glas Cola nehmen, oder?“
„Schön, dass du dich erst bedienst und dann fragst, aber tu dir keinen Zwang an“, antwortete Jonas unverbindlich.
„Danke, sehr zuvorkommend von dir.“
„Gern geschehen, und jetzt geh von meinem Computertisch runter. Dein Hintern stört mich beim Arbeiten.“
Ich grinste in mich hinein. Mich hatte Jonas noch nie aufgefordert, mich nicht auf seinen Computertisch zu setzen. Und ich bezweifelte, dass das nur an der Tatsache lag, dass ich sein Vorgesetzter war. Tom hatte eben nicht meinen Charme. Oder vielleicht hatte er auch einfach einen hässlichen Hintern. Im Gegensatz zu mir natürlich. Nicht, dass man meinen Hintern unter dem weiten Mantel überhaupt noch erahnen konnte, aber... oje, ich driftete gedanklich vom Thema ab.
„Du bist ein Arsch, Jonas Black.“ Mit einem genervten Seufzer kam Tom aber anscheinend doch der Bitte nach – wenn man so etwas noch Bitte nennen konnte – und fuhr nach einer kurzen Pause, wahrscheinlich begleitet von einem Schluck Cola, fort: „Also, wo war ich? Na ja, ich hab mir diese kleine Straßenratte erstmal vorgenommen und wollte eigentlich nur zeigen, wer hier der Boss ist, aber der Idiot hat mir mit seiner Faust den Schädel eingerammt und ist weggerannt. Hab lange nicht mehr jemanden so schnell rennen sehen, den haben wir nicht mehr erwischt.“
„Wieso hast du ihm nicht einfach deine Augen gezeigt, du Schwachkopf?“
„Hab ich doch! Hab ich ja gerade gesagt! Hörst du mir überhaupt zu? Aber wie gesagt, der hat sich einfach losgerissen und ist in Richtung Graues Viertel gerannt. Das ist ja so scheiß-verwinkelt da, da haben wir seine Spur verloren.“
Graues Viertel war eigentlich ein ziemlich dummer Name, da es hier NUR graue Viertel gab. Da machte sich mal wieder die typische Einfallslosigkeit der OE bemerkbar. Das offizielle Graue Viertel war jedenfalls ein Armenviertel mit winzigen, heruntergekommenen Wohnungen, viele Menschen auf wenig Raum und wahrscheinlich alle untereinander verbündet und verschwägert. Ich konnte mir gut vorstellen, dass da so jemand Außergewöhnliches bestens untertauchen konnte. Ich war noch nie in diesem Viertel gewesen, aber plötzlich wollte ich nichts lieber tun.
„Warte mal, er hat sich von deinem Blick gelöst?!“, riss mich Jonas' ungläubige Stimme aus den Gedanken. „Bescheiß mich nicht, das ist doch gar nicht möglich.“
„Willst du sagen, dass du mir nicht glaubst, oder was?!“ Unterdrückter Zorn schwang in Toms Stimme mit, aber auch ein Hauch von Angst. Fürchtete er etwa, dass er wegen des Vorfalls Ärger von mir bekommen würde? „Wenn ich dir doch sage...“
„Ich glaube dir“, unterbrach ich ihn ruhig, und obwohl ich ein paar Dezibel leiser sprach als er, verstummte er sofort.
„Ernsthaft?“
„Ja, ernsthaft. Aber könnte ich nochmal wissen, wann genau das alles passiert ist und wo ihr die Fährte verloren habt?“
„Hm, schwer zu sagen... Ich bin ihm ja nicht hinterher gerannt, weil ich verletzt war... Jetzt schnaub nicht so sarkastisch, Jonas, ich war bestimmt zwanzig Minuten lang ohnmächtig! Also, passiert ist das alles vor etwa ner halben Stunde, eher ne Dreiviertelstunde. Ach ja, jetzt erinner ich mich wieder. Die anderen meinten, dass sie ihn wohl in der Habichtstraße aus den Augen verloren haben. Das ist so eine Sackgasse mit einer ziemlich hohen Wand am Ende, da ist der Typ rübergeklettert und als sie ihm in die Straße dahinter gefolgt sind, war er schon verschwunden und sie haben ihn nicht mehr gefunden.“
„Soso.“ Ich hatte eine Entscheidung getroffen. Ein kleiner Stadtspaziergang konnte ja nie schaden. Bevor ich wahrscheinlich für die nächsten fünf Jahre wieder keine Fuß auf diesen Asphalt setzte, konnte ich ja meinen kleinen Ausflug noch voll ausnutzen. Wobei ich bezweifelte, dass ich mir nach dem heutigen Tag wieder so lange Zeit lassen würde bis zu meinem nächsten Stadtausflug. Zum ersten Mal wurde es hier mal annähernd interessant, das konnte ich mir ja nicht entgehen lassen.
Tom interpretierte meine einsilbige Antwort anscheinend falsch, denn er begann sofort, sich eilig zu rechtfertigen: „Wir haben wirklich alles getan, was man tun konnte. Wir konnten ja nicht nicht damit rechnen, dass der Kerl so stark sein würde... Sonst hätten wir natürlich ganz anders reagiert. Ich kann sofort wieder ein paar Leute losschicken, die Gegend nochmal abzusuchen, vielleicht auch Wohnungen zu durchsuchen...“
„Ist schon in Ordnung“, unterbrach ich ihn mit kühler, aber beruhigender Stimme. „So wichtig ist es nun auch nicht. Wir haben wirklich größere Probleme als solche Einzelfälle.“
Stille trat ein. Mir zu widersprechen, wagte wohl keiner von ihnen. Jonas hatte sowieso andere Probleme, und Tom wagte es wohl nicht, eine Entscheidung von mir laut anzuzweifeln. „Wie Sie meinen“, sagte er schließlich distanziert.
Ich ignorierte ihn und wandte mich stattdessen wieder an meinen eigentlichen Freund. „Jonas, falls jemand nach mir sucht, sag einfach, dass ich heute schon früher Feierabend gemacht hab. Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch etwas zu erledigen hab.“
„Geht in Ordnung.“
Ich wollte schon auflegen, als mir noch etwas einfiel. „Oh, und Jonas?“
„Ja?“
Erleichtert, dass er noch nicht aufgelegt hatte, überlegte ich, wie ich es formulieren konnte, ohne dass Tom Wind davon bekam, dass Jonas nach Eric suchte. Soweit ich wusste, war dies eins der wenigen Geheimnisse, die Jonas vor Tom hatte. Ich vermutete, dass es daran lag, dass Tom nicht viel von der gemeinen Bevölkerung hielt. Er und Jonas waren in den meisten Dingen ziemlich gegensätzlicher Meinung.
„Komm mal mit deinem Job voran, okay? Steck ein bisschen mehr Herz in die Sache“, sagte ich, ganz allgemein gefasst.
„Woher willst du wissen, dass ich ein Herz hab?“, gab Jonas ungerührt zurück, aber ich war mir sicher, dass er mich verstanden hatte. „Außerdem hab ich hier verdammt viel Arbeit. Kannst mir ja gerne helfen, dann komm ich schneller voran.“
„Dein Spezialgebiet ist aber leider nicht mein Spezialgebiet. Ich bin mir sicher, du schaffst das schon alleine“, sagte ich kryptisch.
„Na gut, ich geb mir Mühe. Mach's gut, Lux.“
Ich legte auf. Ich freute mich schon darauf, Jonas morgen bei der Arbeit einen erneuten Besuch abzustatten und zum Thema Eric auszuquetschen. Aber jetzt hatte ich erstmal Anderes zu erledigen.
Ich stand auf und ging zügigen Schrittes los in Richtung der nächsten Bushaltestelle, deren Busse alle drei Minuten fuhren. Sobald der nächste Bus hielt, der zum Grauen Viertel fuhr, stieg ich ein und ergatterte natürlich einen der vordersten Plätze. Die Menschen hielten alle Abstand zu mir, als hätte ich irgendeine Krankheit, sogar der Busfahrer warf mir kurz einen nervösen Blick zu, bevor er schnell die Augen wieder auf die Straße heftete, als er merkte, dass ich in seine Richtung schaute. Ich war das alles inzwischen gewohnt und ignorierte das Getue der Leute. Immerhin bekam ich im Bus immer einen freien Platz.
Während ich aus dem Fenster in die Stadtlandschaft starrte, die vor meinen Augen zu einer trüben Masse verschwamm, fragte ich mich, was mich im Grauen Viertel erwarten würde. Ein bisschen gespannt war ich ja schon, um nicht zu sagen aufgeregt. Angeblich war es eins der gefährlichsten Viertel der Stadt, mit vielen Drogendealern und generell einer hohen Kriminalitätsrate. Da man sich in den vielen kleinen Gassen aber schnell mal verlief, vermieden es die meisten soweit es möglich war, hier auf Streife gehen zu müssen.
Was würde mich dort erwarten? Eine große Enttäuschung in Form von langweiligen Müllbergen und ein paar Ratten? Abgefuckte Junkies, die durch die Straßen taumelten? Oder wirklich aggressive Leute, die mir, wie es Tom passiert war, den Schädel einschlagen wollten? Die letzte Möglichkeit war bei weitem mein Favorit. Es gefiel mir, dass es wirklich danach aussah, dass es in der Stadt neuerdings einen Trend zur Gewalt gegen die OE gab. Bisher war die Bevölkerung uns natürlich noch heillos unterlegen, aber ich hätte nichts dagegen, wenn sich das bald änderte. Ich sehnte mich nach einem Kräftemessen gleichstarker Gegner, nach einer Begegnung auf Augenhöhe. Und um dieses Equilibrium zu erreichen, kniff ich auch gerne mal beide Augen zu und schickte niemanden los, um nach dem grünäugigen Typen zu suchen. Der sollte seine Freiräume ruhig haben. Blieb nur zu hoffen, dass er sie auch klug nutzte.
Mir wurde in diesem Moment mal wieder klar, wie sehr ich mich nach jemandem sehnte, den ich respektieren konnte. Im Moment hatte ich vor niemandem Respekt – wenn ich ehrlich war, noch nicht einmal vor mir selbst. Wir in der OE leisteten nichts, wir hatten unsere Macht und ruhten uns darauf aus, nutzten unsere Überlegenheit, um unseren hohen Status beizubehalten. Da hätte schon eher die Bevölkerung meine Bewunderung verdient, die trotz all der Unterdrückung unbeirrt ihren Tagesgeschäften nachging und uns mit wertvollem Glück versorgte. Doch der Respekt, den ich für die Menschen hatte, glich dem Respekt, den man vor Arbeitstieren hatte (oder zumindest haben sollte). Natürlich respektierte ich sie in gewisser Weise, und das war auf jeden Fall etwas, was mich von den meisten anderen meiner Art unterschied, aber ich würde trotzdem nie jemanden von ihnen als vollwertigen Gegner ansehen können, mit dem ich auf einer Augenhöhe war.
Meine Macht frustrierte mich, meine Kraft frustrierte mich, mein Einfluss frustrierte mich. Und es frustrierte mich, dass keiner der Bürger zumindest versuchte, es trotzdem mit uns aufzunehmen. Aber vielleicht änderte sich das ja jetzt endlich mal. Vielleicht würde, wenn uns das M ausging, langsam ein Widerstand entstehen.
Und vielleicht würde ich dann auch endlich Menschen finden, mit denen ich mich messen konnte. Gleichwertigen Gegnern, gleichwertigen Partnern. Leute, mit denen ich mich auf einem Level befand. Und vielleicht, ganz vielleicht, würde ich dann auch endlich meinen Platz in der Welt finden. Denn um ganz ehrlich zu sein, fühlte ich mich nirgendwo zu Hause. In die Welt der Bevölkerung gehörte ich nicht, und in der OE fühlte ich mich auch nicht heimisch.
Aber das war alles noch Zukunftsmusik, und ich sollte mir nicht allzu große Hoffnungen machen. Der Bus hielt an der Station Graues Viertel und ich stieg aus. Bevor ich mir weiterhin über die Zukunft Gedanken machte, sollte ich mich jetzt erstmal lieber auf die Gegenwart konzentrieren.
Und aufpassen, dass ich nicht vom nächstbesten Grünäugigen ausgeschaltet wurde, bevor meine Zukunft überhaupt beginnen konnte.
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BeitragThema: Re: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyDi Sep 10, 2013 12:54 pm

1. Du bist 18! Herzlichen Glückwunsch! (Wahrscheinlich schon sehr nachträglich >->)
2.Ash? Ich hab einen Schreck gekriegt! Irgendwo in meinem Unterbewusstsein lief sofort die Erkennungsmelodie von Pokemon los...gruselig XD
3. Ich muss leider sagen, das ich nich alles gelsesen habe, sonder tatsächlich nur bis 1.1 Nebula, also bis zum Ende davon.
Hoffentlich werd ich mich bald dem weiteren Verlauf der Geschichte widmen können, aber ich befürchte, ich werde so oder
so stark hinterher hinken D:
Also, das wars an Ankündigungen: Hier meine Meinung.
Den Prolog fand ich gut. Die Straßenszenne mit der Laterne während eines Schneesturms(nagut, also, das es schneit) ist ja irgendwie sofort im Kopf, das dann immer wieder wie auf einer Bühne aufzugreifen ist gut gelungen, ohne die tatsächliche Handlung zu verschlucken.
Aber: der Grünauge steigt doch am Ende in ein Auto...wo zur Hölle stand das, das es der Frau nich aufgefallen ist? Oder gehören zu der Szenne auch noch mehr Autos, die Grossstadtmäßig am Rinnstein geparkt sind?
Das plötzliche Auftauchen eines Autos hat mich einfach etwas irritiert.
Gut, dann kam die Szenne mit dem Tod.
Übrigens, das mit dem fetten Reh...ich musste lachen, obwohl das eigentlich gemein ist XD Aber das hast du toll hingekriegt.
Dannach, das hin und her geschwanke, das nicht abdrücken können...vielleicht zieht es das ganze etwas in die Länge, ich sah da denn Jungen mindestens zehn minuten hin und her schwanken, und sonst keine Bewegung, aber die Spannung in der Anspannung macht das wett.
Wo es dann etwas langatmig wurde, war als er da durch denn Raum schwankt und denkt...Lauter Namen, die ich nur noch mit Mühe auseinanderhalten konnte - Außerdem, wenn da noch zwei außer ihm in dem Raum sind, wieso kennt er die dann nicht, wenn er doch nur mit 9 Jugendlichen unerwegs war? Naja, vielleicht war es ja noch dunkler im Raum als gedacht, oder es sind noch mehr fremde dazugestoßen.
Dann befremdet mich, wo er doch vorhin noch so wutüberströmt war wergen dem mord an seinem Fast kleinen Bruder, wie er dannach irgendwie nur ein bisschen durstig is und die großen Trauerschübe etwas ausbleiben...naja, vielleicht ist er ja schon ausgehärtet, oder der Junge (dessen Namen ich leider nicht mehr weiß...) wird wiedergeboren...
Dann, der letzte Abschnitt ist wieder spannender. Ich schätze, diesen seltsame Getränk is irgendeine Art Droge
naja, es ist alles noch sehr nebulös...vielleicht hat sich vieles einfach schon aufgeklärt, ich habs aber einfach noch nciht gelesen Q-Q
Hoffe, du kannst irgendwas mit meinem wirren Geschreibe anfangen...
Oh, eines wollte ich noch loswerden: Du kannst wirklich gut schreiben Very Happy Ich lapalle hier immer mit Kleinigkeiten, die sonst wahrscheinlich niemanden auffallen würden XD
Außerdem ist die Handlung (oder man hat jedenfalls das Gefühl:) sehr dicht gebaut, ich hoffe, du kriegst die einzelnen Handlungsfäden gut ineinander geflochten, das hätte dann nämlich große Klasse!
Achja, und dieses große Scribble beim Zeichnen mit verschiedenen Zeichenstilen, wenn du da noch dranbist, wär ich dabei Very Happy


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BeitragThema: Re: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyMi Sep 11, 2013 4:19 am

Ui, Flieger ist zurück! Very Happy Wo haste denn gesteckt?
Ok viiielen Dank erstmal für deine ausführliche Meinung, dann werd ich mich morgen nochmal dem Geschreibsel an den Kragen gehen Wink
Prinzipiell bin ich bei Manga-Meme noch dabei, ich... öhm... pausiere nur gerade xD Hatte irgendwie in letzter Zeit nicht so viel Zeit zum Zeichnen o.O Werde aber bestimmt bald weitermachen.
Also wenn du die "Herausforderung" auch annehmen willst, dann nur zu! Bin schon gespannt, wie du die einzelnen Stile meisterst Wink (für mich ist jetzt erstmal Dragonball dran, das wird hoffentlich nicht so schwer xD)
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BeitragThema: Re: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyMi Sep 11, 2013 5:03 pm

Öhhm..einfach Unterhaltung bei deiner Geschichte fortsetzen...
Geh ihm nicht zu sehr an den Kragen Very Happy Mein Gesülze ist zweitrangig!
Und dann fang ich heute mit dem ersten an..wahrscheinlich kenn ich die meisten Animes oder Mangas gar nicht >->
Und warum ich solange nicht da war, tja...
Ich hatte ein paar nicht so lustige Sachen zu regeln mit mir selbst und mit anderen, aber die Zeit ist jetzt wieder um Smile Jetzt bin ich hoffentlich wieder so aktiv wie früher Very Happy
Die Seite ist und bleibt halt mein Geheimtipp Razz ;D
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BeitragThema: 5. Freund und Feind   Die Stadt Namenlos EmptyMo Sep 23, 2013 10:03 pm

Ok ich weiß nicht, was zurzeit los ist, aber irgendwie stecke ich fest. Man könnte es als Schreibblockade bezeichnen, aber dagegen weigere ich mich - dann würde ich ja die Schuld auf die Schreibblockade schieben und nicht auf meine eigene Faulheit. Und das ist ja das eigentliche Problem >.<

Und @Flieger: keine Sorge, ich werde der Geschichte nicht allzu sehr an den Kragen gehen ;D Mal sehen. Aber über Kommis und Anmerkungen freu ich mich natürlich immer, die werden mir auch sehr bei der Überarbeitung helfen Smile

So, hier jetzt erst mal alles, was ich vom nächsten Kapitel hab. Ich weiß, für zwei Wochen ist das echt ein mageres Ergebnis ;_;




5. Freund und Feind

Let's watch this city burn
from the skylines on top of the world
'til there's nothing left to burn
let's watch this city burn the world.

Hollywood Undead: City



5.0 Sara

Anfangs war es nur ein Kribbeln im Nacken, wie ein kühler Windhauch, dann ein Unwohlsein in der Magengegend, schließlich ein enger Knoten in der Brust – das typische, unheilvolle Gefühl, das ich tagtäglich fürchtete. Ruhig bleiben, ermahnte ich mich und zwang mich, mich nicht allzu auffällig umzuschauen.
„Stimmt irgendwas nicht, Sara?“, fragte Simon leise, ohne mich anzuschauen. Er hielt den Blick auf die Straße geheftet, seine Haare wehten ihm vor die Augen und verdeckten sein Gesicht.
Ich deutete ein Nicken an, bemüht, meine Schritte nicht automatisch zu beschleunigen. Ein Blick in den Rückspiegel eines geparkten Autos versicherte mir, dass die dunkel gekleidete Gestalt uns tatsächlich immer noch folgte. Dies bestätigte meine Befürchtungen und der Knoten in meinem Brustkorb zog sich wie eine feste Schlinge zusammen.
„Wir werden verfolgt“, sagte ich ebenso leise, meine Stimme ruhig und beherrscht.
Er schwieg eine Weile, schaute scheinbar interessiert in ein Schaufenster, als wir einen heruntergekommenen Second-Hand-Laden passierten. Die Straße spiegelte sich in dem schmierigen Glas. Vermutlich vergewisserte er sich anhand der Spiegelung, dass ich mit meiner Befürchtung recht hatte, denn es folgte ein kaum hörbares Fluchen.
„Okay, was machen wir jetzt? Ignorieren?“
Ich deutete ein Kopfschütteln an. „Den hängen wir nicht so einfach ab. Dazu folgt der uns schon zu lange.“
„Also gut. Dann bleibt uns also nur Hide, flight or fight.“
Ich schluckte nervös, befeuchtete meine trockenen Lippen. Hide, flight or fight – das war unser Motto. Aktiver oder passiver Widerstand. Die Reaktionsmöglichkeiten in Situationen, die wir alle stets zu vermeiden versuchten. Für mich war es das erste Mal, dass ich mich in so einer brenzligen Situation befand. Okay, ruhig bleiben, Sara! Immerhin war es nur ein einzelner Vampir, nicht mehrere. Und Simon und ich waren beide schnelle Läufer. Von daher waren unsere Fluchtchancen eigentlich nicht schlecht.
Ich schaute mich unauffällig um. Das Straßennetz hier im Grauen Viertel war ein unübersichtliches Spinnennetz, ein Labyrinth von Gassen, Straßen und Gängen, alle vollkommen willkürlich und ohne ersichtliches System angelegt. Und je tiefer wir ins Herz des Grauen Viertels vordrangen, umso enger, wirrer und chaotischer wurde der Stadtdschungel. Ich traf eine Entscheidung.
„Flight!“ Ich packte Simons Hand und wir rannten los.


5.1 Ash


Satincas Badezimmer war winzig und fensterlos, wie eine gekachelte Gefängniszelle. Ich stieß mir bestimmt zehnmal verschiedenste Körperteile am Waschbecken oder an einer der Wände, als ich aus meiner Kleidung schlüpfte. Ich fühlte mich ein bisschen unwohl dabei, mich in der Wohnung einer praktisch wildfremden Frau splitternackt auszuziehen, aber Satinca hatte recht, ich hatte echt eine warme Dusche nötig.
Dennoch ging ich noch einmal sicher, dass ich die Tür wirklich verschlossen hatte, bevor ich in die enge Duschkabine stieg – oder besser gesagt, mich hineinzwängte. Wie man sich hier vernünftig waschen sollte, war mir ein Rätsel. Aus dem Duschkopf kam nur ein dünnes Rinnsal, aber es musste genügen. Wenigstens war es angenehm warm und ich seufzte leise, als das Wasser mir praktisch die Gänsehaut davonwusch. Ich wollte den Wasserstrahl wärmer drehen, doch ab einem bestimmten Punkt ging es nicht weiter. Musste ich mich wohl mit einer lauwarmen Dusche zufrieden geben.
Als ich aus der Dusche stieg und mich abtrocknete, fühlte ich mich besser, wenn auch nicht wirklich warm. Meine Finger und Zehen wurden schnell wieder kalt und so beeilte ich mich, die Kleidung anzuziehen, die Satinca mir gegeben hatte.
Ich versuchte, gedanklich in Worte zu fassen, wie ich mich fühlte. Leer? Ausgelaugt? Auf jeden Fall schien sich irgendetwas in mir verändert zu haben. Ich war nicht mehr voller Enthusiasmus, nach draußen zu gehen, so wie es heute morgen der Fall gewesen war. Am liebsten wäre ich jetzt zuhause und würde mich wieder in dem Bett einmummeln. Als ich dort heute aufgewacht war, war die Welt noch in Ordnung gewesen. Dachte ich zumindest. Bevor ich die Bevölkerung gesehen hatte, der das Trübsal aus jeder Pore drang. Bevor ich mit eigenen Augen mit ansehen musste, wie sich jemand das Leben nahm – und niemand anderes sich dafür zu interessieren schien. Bevor... Ich schüttelte mich. Die weißlichen, stechenden Augen des Vampirs hatten sich in mein Gedächtnis eingebrannt.
Und jetzt? Jetzt hatte sich eine unangenehme Kälte in mir eingenistet, die mir erschreckenderweise nur allzu bekannt vorkam. War das die Wirkung des Nebels? Die Kraft des Vampirs? Das Ergebnis meines bisher ziemlich unschönen Tagesverlaufs? Oder alles zusammen?
Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als ich hinter der Badezimmertür Stimmen hörten, die hektisch durcheinander redeten. Fremde Stimmen. Dann sagte auch Satinca etwas, sie wirkte aufgebracht, aber bemüht, leise zu sprechen. Mein Herz klopfte schneller. Hatten die Vampire mich jetzt doch gefunden? In dem Fall wollte ich Satinca keinen Ärger machen. Ich schluckte und schloss die Tür auf, um sie einen Spalt breit zu öffnen und hinaus zu lugen.
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BeitragThema: 5. Freund und Feind (zweiter Teil)   Die Stadt Namenlos EmptyDi Sep 24, 2013 9:23 pm

Ich bin krank ;_;
Aber das hält mich nicht vom Schreiben ab. Im Gegenteil, Mattheit und Kopfschmerzen scheinen für meine Muse sehr förderlich zu sein o.O Bin ich komisch? xD Wie auch immer - ich bin froh, dass ich wieder am Schreiben bin. Und ich hoffe, ihr Leser auch Wink
Weiter geht's.




5.1 Ash (Fortsetzung)


„Was zum Teufel macht ihr hier?“, hörte ich Satinca zischen. Ein Blick in die Wohnküche zeigte mir, dass sie zwei Jugendlichen die Wohnungstür öffnete und die beiden hinein scheuchte. Es waren ein junger Mann und ein Mädchen, beide ungefähr in meinem Alter, und sie beide sahen etwa genauso außer Atem und verängstigt aus, wie ich wahrscheinlich auch an ihrer Tür erschienen war. Als Satinca die Tür hastig wieder zustieß, erhaschte ich noch für einen kurzen Augenblick einen Blick nach draußen. Ich glaubte, dort draußen eine schwarz gekleidete Gestalt auf einem Dach lauern zu sehen, doch bevor ich mir sicher sein konnte, versperrte mir die Haustür die Sicht.
„Wir... wurden verfolgt!“, stieß das Mädchen keuchend hervor. Sie und ihr Begleiter ließen sich erschöpft auf die zwei Stühle fallen, die an dem grob gezimmerten Tisch standen. „Von einem Vampir!“
„Und da haltet ihr es für eine gute Idee, ihn ausgerechnet hierher zu führen?! Simon, gerade von dir hätte ich mehr erwartet“, knurrte Satinca und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Eingangstür, ihre Besucher mit einem strengen und ziemlich missbilligenden Blick fixierend. Die beiden schauten sich verunsichert an und senkten schuldbewusst die Augen zu der Tischplatte. Keiner von ihnen sprach.
Satinca seufzte. „Ihr hättet euch wenigstens einen besseren Moment aussuchen können. Ich habe nämlich gerade Besuch von einem sehr außergewöhnlichen jungen Mann. Der zufälligerweise auch gerade auf der Flucht vor einigen Vampiren ist. Es wäre nicht so toll, wenn die ihn finden würden.“
Die beiden Jugendlichen sackten in sich zusammen. Noch immer sagten sie nichts. Satinca seufzte erneut und schüttelte missbilligend den Kopf. Ich beschloss, mich auch mal aus meiner Deckung zu begeben und diese unangenehme Situation vielleicht ein bisschen aufzulösen. Lautlos schob ich die Badezimmertür auf und trat in die Wohnküche, meine klamme Kleidung zu einem festen Knäuel zusammengeballt im Arm. „Hey, wird hier etwa über mich geredet?“, fragte ich mit einem leichten Lächeln.
Die beiden Jugendlichen drehten sich auf ihren Stühlen alarmiert zu mir um. Sie erstarrten und ihre Augen wurden ganz groß, dem Mädchen klappte beeindruckt der Mund auf. Ich lächelte unsicher zurück. Ob ich mich jemals daran gewöhnen würde, dass andere Leute mich aufgrund meiner Augenfarbe so perplex angafften?
„Wollt ihr euch nicht lieber vorstellen, anstatt ihn anzustarren?“, ermahnte Satinca die beiden. Sie verdrehte die Augen, als sie beiden ertappt die Augen wieder senkten und vor sich hinstotterten.
„Ich bin Sara“, bekam das Mädchen schließlich heraus, das Gesicht hinter ein paar Haarsträhnen ihrer hellbraunen Bobfrisur versteckt, „und das ist mein Cousin...“
Der dunkelblonde, groß gewachsene Junge griff über dem Tisch nach ihrer Hand. „Wir kennen uns schon. Wir...“ Er schaute mit sichtlichem Unbehagen zu mir auf und drückte Saras Hand fester, als bräuchte er Unterstützung. „Wir gehen auf dieselbe Uni.“
Satincas Augenbrauen schossen in die Höhe, mein Lächeln gefror und Sara schnappte überrascht nach Luft. „Was?! Du hast nie erzählt...“
„Wir kennen uns ja nicht wirklich, jedenfalls nicht namentlich. Wir sehen uns nur manchmal in der Uni-Kantine. Ich bin übrigens Simon.“ Auffordernd schaute er mich an, als wartete er darauf, dass ich zustimmte. „Mir ist aber noch nie aufgefallen, dass du so extrem... na ja...“ Er deutete unbeholfen auf seine eigenen Augen und dann auf meine.
„Na ja, ich...“ Ich fühlte mich etwas unwohl in meiner Haut, als ich zwischen den drei Anwesenden hin und her schaute. Wie sollte ich ihnen jetzt möglichst schnell und schonend beibringen, dass ich mich an nichts erinnern konnte, was vor dem heutigen Morgen stattgefunden hatte? Dass ich noch nicht einmal meinen eigenen Namen wusste? Ich holte gerade Luft, um mit meinen Erklärungen zu beginnen, als Satinca dazwischen ging. „Wie wär's, wenn du jetzt erstmal nach Hause gehst, hm? Ich begleite dich und wir nehmen ein paar Schleichwege, dann wird schon nichts passieren.“
„Oh, ähm... ja, natürlich...“, sagte ich überrascht und mit ein wenig schlechtem Gewissen. Ein Blick auf die Uhr sagte mir, dass ich wirklich langsam gehen sollte, schließlich war es schon früher Nachmittag. Ich wollte ja nicht Satincas Gastfreundlichkeit ausnutzen. Sie stieß sich von der Tür ab und ging mit großen Schritten an mir vorbei in den Flur, von dem zwei Türen ins Badezimmer und vermutlich ins Schlafzimmer führte. Sie verschwand kurz im Schlafzimmer und kehrte mit einer winzigen Plastikdose und einer etwas größeren Plastikflasche wieder. „Hier, das ist für dich.“ Sie streckte mir beides entgegen und nahm mir stattdessen meine Kleidung ab. Irritiert schaute ich auf die farblose Flüssigkeit, die in der milchigen, unbeschrifteten Plastikflasche vor sich hin schwappte.
„Flüssigkeit für die Kontaktlinsen.“ Satinca deutete auf die Flasche und dann auf die kleine, flache Plastikdose in meiner anderen Hand. „Die wirst du brauchen, zumindest wenn du draußen nicht alle fünf Minuten von Vampiren entdeckt werden willst.“
Nein, das wollte ich in der Tat nicht. Vorsichtig öffnete ich die weiße Dose, in welcher zwei graue Kontaktlinsen in der selben farblosen Flüssigkeit schwammen, mit der auch die Flasche gefüllt war. Sie waren nicht hübsch, aber sie würden ihren Zweck erfüllen. Ich verspürte eine starke Woge von Erleichterung bei dem Gedanken, dass sie das verräterische Grün meiner Augen verstecken und mich nicht nur vor den Vampiren, sondern auch vor den starrenden Blicken aller anderen Menschen beschützen würden. Ich würde ohne Probleme mit dem Rest der Bevölkerung verschmelzen, unsichtbar werden können, und mich nicht mehr wie ein ausgestoßener Freak fühlen.
Dankbar lächelte ich Satinca an. „Vielen Dank. Ich glaube, die kann ich echt gut gebrauchen.“


5.2 Lux

Es war wirklich erstaunlich, was so ein winziger Farbfleck anstellen konnte. Es war nur der Bruchteil einer Sekunde gewesen – der kurze Moment, als sich die Tür öffnete und mir aus dem Inneren der Wohnung, die eher einer dunklen Höhle glich, die strahlendsten Augen entgegen leuchteten, die ich je gesehen hatte.
Eigentlich hatte ich nur die beiden Jugendlichen eine Weile verfolgen und beobachten wollen, weil sie sich so verdächtig benahmen. Sie wirkten lebendiger als die anderen Passanten, irgendwie nervös, ihre Bewegungen waren fahrig, besonders die des Mädchens, und mir entging auch nicht, wie beide immer wieder anhand von spiegelnden Oberflächen nachschauten, ob sie verfolgt wurden. Meine Neugierde hatte sich natürlich verstärkt, als sie davonrannten und ich die Verfolgung aufnahm, und erst recht, als ich realisierte, dass wir uns der Habichtstraße näherten. Um die Flüchtigen in den verwinkelten Gassen nicht aus den Augen zu verlieren, wie es Toms Leuten passiert war, war ich eine Feuerleiter hinauf geklettert und folgte ihnen auf den Dächern.
Wie Tom es beschrieben hatte, waren sie in der Sackgasse der Habichtstraße über eine hohe Mauer geklettert, und als sie dahinter in einer der Baracken verschwanden, deren Tür ihnen von einer jungen Frau geöffnet und hastig wieder zugezogen wurde, war mein Verdacht gewachsen, dass sich genau in dieser Wohnung auch der Grünäugige versteckte. Wie bestätigt hatte ich mich gefühlt, als ich tatsächlich für eine Makrosekunde diese grünen Augen wie Smaragde aufblitzen gesehen hatte!
Doch als kurz darauf die Bewohnerin der Wohnung mit einem jungen Mann auf die Straße trat – und es war nicht der junge Mann, den ich eben noch verfolgt hatte – fragte ich mich, ob mir meine Fantasie nicht vielleicht einen Streich gespielt hatte. Der Jugendliche hatte nämlich absolut keine grünen Augen. Es sei denn, Grau war das neue Grün.
Stirnrunzelnd hatte ich auf dem Dach verharrt, halb versteckt hinter einem verrußten Schornstein aus Backsteinen, aus dem grauer Rauch drang und gen Himmel stieg. Ich war mir so sicher, dass er eben noch grüne Augen gehabt hatte. Ich hatte es genau gesehen, wenn auch nur kurz. Und normalerweise traute ich meinen Sinnen. Ich war schon kurz davor, enttäuscht und verwirrt wieder kehrt zu machen, doch irgendetwas hielt mich zurück. Irgendetwas an diesen beiden Leuten war merkwürdig – die Art, wie sie ab und zu immer wieder miteinander flüsterten, wie der junge Mann erst aufrecht und mit gerecktem Kopf neben der Frau entlang ging, bis sie etwas zu ihm sagte und er schnell zusammensackte und den Blick gen Boden richtete. Es sah... gespielt aus. Als wäre er krampfhaft darum bemüht, nicht aufzufallen.
Und so war ich ihnen dann doch gefolgt.
Ich hatte mich nie für einen überaus emotionalen, optimistischen oder hoffnungsvollen Menschen gehalten. Und trotzdem stand ich jetzt hier, vor der Eingangstür des schlichten Wohnungsblocks, in dem der ehemalig Grünäugige verschwunden war. Und all das nur wegen ein bisschen Grün.
Ich studierte die Klingelknöpfe mit den fremden Namen, überlegte, welcher wohl zu dem jungen Mann gehörte. Dann trat ich ein paar Schritte zurück und legte den Kopf in den Nacken, um hinauf zu schauen. Einige Fenster waren schon beleuchtet, die Dunkelheit begann langsam. Ich wünschte, ich könnte in die Fenster hineinschauen. Ich grinste in mich hinein und schüttelte über mich selbst den Kopf. Man musste schon echt gelangweilt sein, wenn man seinen Tag damit verbrachte, einem unbedeutenden kleinen Bürger hinterher zu spionieren.
Aber es stimmte – ich war gelangweilt. Okay, und vielleicht ein bisschen neugierig, ja, vielleicht sogar etwas aufgeregt.
Kurzerhand kletterte ich wieder über eine nahe Feuerleiter auf das Dach des gegenüberliegenden Häuserblocks, um einen Blick in die Fenster werfen zu können, hinter denen sich irgendwo das Zielobjekt meiner Neugierde versteckte. Ich zog mich gerade auf das geziegelte Spitzdach herauf, als das Handy in meiner Manteltasche vibrierte. Ich zuckte zusammen und hätte vor Schreck fast ins Leere gegriffen, hielt mich jedoch im letzten Moment an der Regenrinne fest. Mit klopfendem Herzen zog ich mich aufs Dach und krabbelte auf die halbwegs horizontale Fläche über einem hervorstehenden Dachfenster, von wo ich einen kurzen Blick hinunter in die schwindelerregende Tiefe warf. Puh, das war knapp gewesen.
Wütend über meine eigene Fahrlässigkeit und den Anrufer, der mich ausgerechnet in diesem Moment anrufen und aus meinen Gedanken schrecken musste, ging ich ans Telefon. Ich erkannte die Nummer sofort. Ich nahm einen tiefen Atemzug, um mich ein bisschen zu beruhigen. „Jonas? Was gibt’s Neues?“, fragte ich dann mit meinem typisch ruhigen, kühlen Tonfall, der keinerlei Emotionen preisgab.
„Lux, wo zum Teufel steckst du? Dein Vater sucht nach dir, ich hab gesagt, dass du im Archiv bist, damit er sich gar nicht erst die Mühe macht, dich dort zu suchen. Aber ganz ehrlich, langsam solltest du mal zurückkommen!“ Jonas sprach lauter als gewöhnlich und im Hintergrund war ein merkwürdiges Rauschen zu hören, das ich nicht ganz zuordnen konnte.
„Ist das etwa ein Befehl?“ Meine Stimme war sanfter als zuvor, jedoch amüsiert und drohend zugleich.
Jonas seufzte jedoch nur unbeeindruckt. „Nein, einfach eine Bitte. Ein guter Rat, von Freund zu Freund.“
Ich hielt mich gerade noch von einem belustigten Schnauben zurück. Guter Rat. „In Ordnung, ich hab schon verstanden. Aber sag mal, mein Freund...“ Ich senkte vertraulich die Stimme, während ich beobachtete, wie gegenüber nach und nach immer mehr Fenster erleuchtet wurden. „Wie steht's eigentlich um deinen guten Freund Eric?“
„Oh, ähm... na ja, um ähnlich zu sein...“, druckste er herum, plötzlich doch nervös klingend, und ich machte mich schon auf eine Enttäuschung gefasst. Stattdessen überraschte mich Jonas aber positiv, als er sagte: „Erzähl das keinem, aber ich bin gerade am Autofahren. Ja ja, telefonieren am Steuer, ganz böse, ich weiß. Ich hab eins der Autos orten können, das sich Eric und die anderen Flüchtigen geschnappt haben, weil irgendwo darin noch ein Funkgerät liegt. Das hab ich aber niemandem erzählt, der Rest der OE sucht blind nach denen, wahrscheinlich fangen sie an dem Haus an, wo sie sich verschanzt hatten, und folgen dann den Reifenspuren. Da bin ich natürlich im Vorteil. Ich hoffe nur, ich komme noch rechtzeitig... Die Suchtrupps sind ja schon vor einiger Zeit aufgebrochen...“
Ein breites Grinsen zog an meinen Mundwinkeln und spannte sich über mein Gesicht. Ich hielt es nicht zurück, da mich hier sowieso niemand sah. Oh, Jonas! Endlich! Das schien ja doch noch ganz unterhaltsam zu werden... „Keine Sorge, ich sage niemandem, dass du am Steuer telefonierst“, sagte ich schlicht. „Nicht, dass dir als Strafe noch die Glücksration gekürzt wird.“
„Was?! Sowas wird wirklich gemacht?“ Jonas klang entsetzt und ich konnte mir förmlich seine vor Schreck weit aufgerissenen, rot geränderten Augen vorstellen. Wie bei einer Laborratte.
„Oh, von Zeit zu Zeit...“, antwortete ich vage und grinste noch breiter. „Aber keine Sorge, ich werde dich nicht verraten. Das bin ich dir schuldig.“
Jonas atmete auf. „Danke. Wusste ich doch, dass ich dir vertrauen kann.“ Ich kannte kaum jemanden, der sich immer so sehr auf seine Glücksration freute, die alle zwei oder drei Wochen verteilt wurde. Er war einer der gierigen Konsumenten, die einen Großteil ihres Glücks schon in den ersten paar Tagen auf Parties verschwendeten, und den Rest der Zeit nach neuem Glück lechzten. Wobei es mir ein Rätsel war, wie er dann überhaupt Vorfreude auf die nächste Ration empfinden konnte. Aber so war Jonas eben – eines der unlösbaren Rätsel des Universums...
„Gut, ich werde dann mal Schluss machen, ich muss schließlich ins Archiv“, sagte ich nach einer kurzen Redepause, „Und ich will dich ja nicht vom Fahren ablenken. Nicht, dass du deinen hart erworbenen Führerschein gleich wieder verlierst – oder doch noch mit dem Handy am Ohr erwischst wirst...“
„Hast recht“, sagte Jonas hastig. Sein Führerschein war ihm heilig – er war mit seinen 16 Jahren vier Jahre jünger als ich und hatte den Lappen erst vor wenigen Monaten im Rekordtempo erworben, zusammen mit einem Kleinwagen, einem Geschenk seiner Eltern. Da man nach dem Führerscheinerwerb noch ein Jahr lang Probezeit hatte, in der man den Führerschein beim kleinsten Vergehen wieder verlieren konnte, lebte er in ständiger Angst, dass ihm genau dies passieren könnte. Er liebte sein Auto, liebte die Freiheit, die es versprach, und würde sich ohne fahrbaren Untersatz geradezu gehandicappt fühlen. „Ich melde mich dann ab und zu und gebe dir Updates, okay? Zumindest, solange ich mich im Handynetz befinde... Der Funk außerhalb der Stadt ist mir zu riskant, da könnte ja jeder mithören.“
Ich verkniff es mir, anzumerken, dass auch jedes Handygespräch abgehört werden könnte; das wusste Technik-Freak Jonas besser als ich. Zudem war es äußerst unüblich, dass Handygespräche von OE-Mitgliedern abgehört wurden. „Okay, dann will ich dich nicht länger aufhalten. Mach's gut, und viel Glück.“
Nachdem ich aufgelegt hatte, blieb ich noch eine Weile auf dem windigen Dach sitzen. Wäre die Luft nicht so dunstig und der Himmel nicht so undurchdringlich grau und neblig gewesen, hätte man von hier aus vermutlich bald einen schönen Sonnenuntergang beobachten können. Doch wie immer hatten sich über den Tag so viel Nebel und Wolken angesammelt, dass dies zu einem Ding der Unmöglichkeit wurde. Es war erst halb fünf und schon jetzt wurde es kalt und dunkel in der Stadt – doch auch das war ein normaler Vorgang, der auf den Nebel zurückzuführen war, welcher das Sonnenlicht abschirmte.
Dennoch empfand ich eine gewisse Zufriedenheit, als ich einfach zusammengekauert hier saß und die gegenüberliegenden Fenster beobachtete, die langsam fast alle erleuchtet waren. Bei manchen waren die Gardinen vorgezogen und schemenhafte Gestalten bewegten sich dahinter, bei anderen konnte man in die hell erleuchteten Zimmer schauen wie in eine Puppenstube. Eine Puppenstube mit kaltem Neonlicht. Trotzdem strahlte die ganze Szenerie eine gewisse Friedlichkeit aus, wenn man mal die gebeugte Haltung und die niedergeschlagenen Gesichter der Menschen darin ignorierte.
Mein Körper kühlte langsam aus und ich schlang die Arme um meine Knie, während es um mich her immer dunkler und ungemütlicher wurde. Ich hatte das Gefühl, ganz nah dran zu sein an den Menschen. So sah also ihr Leben aus. Es war nichts Spannendes oder Überraschendes daran, aber irgendwie war es trotzdem interessant. Zumindest für mich. Schließlich kannte ich sonst nur große Glas- und Stahlpaläste voller gut gekleideter Leute und den Luxus der OE. Den jungen Mann, aufgrund dessen ich überhaupt hier war, sah ich leider nicht mehr. Doch immer, wenn sich hinter einer Gardine etwas bewegte, fragte ich mich, ob er es vielleicht war.
Als es schließlich leicht zu regnen begann, erhob ich mich mit steifen Gelenken und machte mich wieder an den Abstieg. Ich wollte nicht unbedingt das Dach und die rutschige Feuerleiter hinunter klettern, wenn der Regen erst einmal stärker darauf herabprasselte und jegliche Kletteraktionen noch viel riskanter machte, als sie sowieso schon war.
Als ich mich auf den Heimweg machte und die Kapuze gegen den Regen tief ins Gesicht zog, hatte ich das unbestimmte Gefühl, dass sich heute irgendetwas geändert hatte. Mir war, als ob heute etwas Neues begonnen hätte, als ob dies erst der Anfang von etwas Großem war. Es war ein gutes, aufregendes Gefühl. Zwar konnte ich es nicht genau benennen, aber ich nahm mir vor, den grünäugigen Jungen von nun an etwas öfter zu beschatten.
Schaden konnte es ja nicht, und interessant war es allemal. Da war ich mir jetzt schon sicher.



5.3 Eric


Ich hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren. Es war, als ob wir uns in einem der Realität entrückten Zustand befanden. Als wären wir eingefroren, befänden uns in einer Parallelwelt, die nur aus dem muffigen Leder- und Blutgeruch im Auto bestand, der vorbeirasenden, immer gleichbleibenden Einöde sowie der staubigen Sonne und den Wolken, die langsam über den Himmel zogen. Rasender Stillstand.
Und ich hatte nichts dagegen, für immer in diesem Zustand zu bleiben. Wir waren in eine Apathie verfallen, in der sich die Situation aushalten ließ. Bloß nicht bewegen, bloß nichts sagen, um nicht diese zweite Realität, die sich wie eine Glaskugel um uns erstreckte, zerspringen zu lassen und brutal zurück in die Wirklichkeit zu fallen, wo wir nicht wussten, was uns erwartete.
Uns allen steckte der Schock immer noch in den Knochen, die blutigen Bilder aus der Erinnerung, doch ich verdrängte sie wie einen bösen Traum. Es war nicht echt. Ich wollte nicht darüber nachdenken, was passiert war – oder was jetzt passieren würde, denn davon hatte ich keine Ahnung. Solange ich nicht darüber nachdachte, niemand etwas sagte und sich unsere Starre nicht veränderte, waren wir sicher. Seit unserer nächtlichen Flucht war die Sonne einmal aufgegangen und war nun schon wieder dabei, am Horizont zu versinken, und ich hörte allzu laut das Knurren meines Magens und das Brennen meiner müden Augen. Doch es war ein entferntes Gefühl, ich nahm es einfach zur Kenntnis. Als ob ich mich von meinem Körper gelöst hatte, neben mir selbst saß und alles einfach sachlich beobachtete, wie ein Computerspiel, bei dem man sich in einer Wüste im Kreis drehte.
Angst war das einzige, das von Zeit zu Zeit versuchte, sich durch meinen inneren Panzer zu nagen und wieder voll in mein Bewusstsein einzudringen. Angst um Tobias, der leichenblass und scheinbar ohnmächtig – oder tot – auf der Rückbank lag. Angst, dass wir gefunden und unserer Flucht ein jähes Ende bereitet wurde. Angst vor dem, was uns erwartete. Angst vor der Zukunft. Angst um unsere Gefährten in dem anderen Auto. Doch jedes Mal schaffte ich es, die Angst zurückzudrängen, bevor sie wie ein Staudamm über mir zusammenbrach und mich als unbrauchbares, emotionales Wrack zurückließ.
Als die Dämmerung hereinbrach – hier auf dem Lande kam sie aufgrund des geringeren Nebels später als in der Stadt – schaltete ich vorsichtshalber schon mal die Scheinwerfer ein, damit ich die Reifenspuren nicht aus den Augen verlor.
Kurze Zeit später begann das Auto, äußerst ungesunde Geräusche zu machen, als hätte der Motor Verdauungsprobleme. Ich schaute auf die Armaturen – und bekam einen Schreck, der mir durch Mark und Bein ging. „Scheiße“, fluchte ich heiser. Mein Hals war ausgetrocknet, ich hatte zu lange nichts mehr getrunken.
„Was ist los?“ Alarmiert setzte sich Hanna, die auf der Rückbank zusammengesunken war, wieder aufrecht. „Haben wir sie eingeholt?“
„Nein, wir...“ Plötzlich ging ein Ruck durch das Auto und ein lautes Röhren war zu hören. Wir verloren rapide an Geschwindigkeit. Wenige Augenblicke später, in denen wir ziemlich durchgeschüttelt wurden, kamen wir zum Stehen. Zittrig atmete ich einmal durch. „Wir haben keinen Sprit mehr.“
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BeitragThema: Re: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyMi Sep 25, 2013 11:09 pm

So, ich hab jetzt Eric gelesen...
Ich dachte, die hätten das Haus schon vor einiger Zeit erobert? Aber er weiß nich, wo die Küche ist? Oder die besonders steile Treppe? Naja, vielleicht sind sie da ja alle ewas neuer...
So, die Charaktäre gewinnen etwas Farbe - obwohl es mir bis jetzt immer noch zu viele zum merken sind, und die bis jetzt sehr einfach gestrikten Beziehungen (Hündchen und Co.) zu einfach - also entweder du wirst noch oder hast bereits dir ein paar schöne Gründe mit Tiefgang ersucht, oder das ist ein bisschen flach Razz
Tja, mir ist noch aufgefallen, das du zeimlich viel Luft rauslässt....Nilpferde rennen da rum und jeder hasst jeden oder ist gehässig oder äußerst liebevoll
Nein, eigentlich wollte ich sagen, das du im Moment mit ner fetten Portion Ironie an die Sache rangehst.
Was ich momentan noch nicht verstehe ist, warum sie das Nilpferd gefangen halten - aber wahrscheinlich ist es der naheliegenste Grund: Er hat sie da nicht aufgestöbert sondern sie ham ihn da hingelockt O. Ä.
oder er hat sie doch aufgestöbert, hat aber evtl. irgendwelche Infos..
Tja, alles Spekulationen...
Oh, es macht mir im Moment gar nichts aus, wenn du länger brauchst um die 'Sachen zu Papier oder Screen zu bringen...
>-> da kann ich aufholen oder werde wenigstens aufgeschäucht ohne das der Roman alzu sehr anwächst Very Happy
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BeitragThema: Re: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyFr Sep 27, 2013 2:57 am

Tja Spekulationen, Spekulationen Wink
Auf jeden Fall viiielen Dank Flieger, dass du weiterhin so fleißig kommentierst - das motiviert Very Happy Und für die Überarbeitung kann ich natürlich auch jede zweite Meinung gut gebrauchen. ^^
Und hier geht's auch direkt weiter:



5.3 (immer noch Eric ^^)

„Was?!“
Der Motor machte ein letztes, würgendes Geräusch, und der Wagen kam rumpelnd zum Stehen.* Starr saß ich da, das Lenkrad fest in den Händen, und überlegte, was nun zu tun war. Ich fühlte mich nicht panisch – noch nicht – sondern noch immer seltsam ruhig, jedoch verwirrt. Die stoische Monotonie hatte ein Ende. Was nun?
Hanna tippte mir auf die Schulter, zumindest vermutete ich, dass sie es war, da sie daraufhin dicht an meinem Ohr sprach: „Ich schau mal nach, ob wir noch einen Reserve-Kanister im Kofferraum haben, okay?“ Auch sie klang ruhig und gesammelt, davon abgesehen, dass ihre Stimme leicht schwankte. Ich nickte stumm.
Hanna stieg aus, um den Kofferraum zu öffnen. Ich warf durch den Innenspiegel einen kurzen Blick zu Tobias. Wann hatte er das letzte Mal die Augen geöffnet? Wann hatte er sich das letzte Mal bewegt? Ich konnte keine Bewegung seines Brustkorbs ausmachen, doch ich traute mich nicht, den aschfahlen jungen Mann näher auf Lebenszeichen zu untersuchen.
Gerade, als ich mich fragte, warum die Hutablage eigentlich so eine unpraktisch starre Kunststoffplatte war, die das Wageninnere luftdicht vom Kofferraum abtrennte, öffnete Hanna ihn – und schlug ihn sofort erschrocken wieder zu. Eine weiße Wolke stob am Autoheck auf und verwirbelte milchig hinter der durchlöcherten Heckscheibe. Wie von der Tarantel gestochen floh Hanna zurück ins Auto und knallte die Tür hinter sich zu.
Betont langsam und ruhig drehte ich mich zu ihr um. Sie sah ziemlich geschockt aus. „Stimmt etwas nicht?“, fragte ich. „Wir haben doch keine Leichen im Kofferraum, oder?“ Als ob Leichen so weiß stauben würden.
Sie schüttelte den Kopf. „Nein, schlimmer.“ Ich wusste nicht, ob ich wissen wollte, was noch schlimmer wäre als Leichen im Kofferraum, sie fügte jedoch hinzu: „Der ganze Stauraum ist voller Misery-Pulver.“
„Oh.“ Wir waren also die ganze Zeit mit diesem Mordszeug durch die Gegend gefahren? Na, hoffentlich war diese Trennwand wirklich hundertprozentig dicht! Wobei... im Augenblick hätte ich gegen eine Nase voll Misery-Pulver eigentlich nichts einzuwenden. Das würde immerhin meine Gefühle lähmen und den inneren Tumult bändigen, der bei dem geringsten Anstoß aus mir herauszubrechen drohte. „Das Zeug kann man wohl nicht als Treibstoff benutzen, oder?“, überlegte ich laut, während mein Blick unbewusst zu den Schusslöchern in der Heckscheibe wanderten. Hoffentlich drang nicht allzu viel von der Misery-Staubwolke durch sie hindurch.
Hanna lachte kurz auf und fuhr sich mit einer zittrigen Hand durchs Haar. „Nein, ich glaube nicht.“ Sie sah ziemlich mitgenommen aus. Ich war vermutlich kein besserer Anblick. Mir fiel auf, wie blass sie war und wie strohig und farblos ihre Haare aussahen. Ich hätte schwören können, dass sie, als wir vor etwa 24 Stunden nebeneinander auf der Bank gesessen und unsere Sandwiches verzehrt hatten, wesentlich gesünder und strahlender ausgesehen hatte. Es schien seitdem eine Ewigkeit vergangen zu sein. Vielleicht drang doch ein wenig von dem Misery-Pulver ins Wageninnere. Oder vielleicht hatten wir das gar nicht mehr nötig, nach dem, was uns passiert war. Traumatische Erlebnisse hatten doch sicherlich die selbe Wirkung wie das Pulver, oder?
Ich lenkte meine Gedanken von dem Thema „Traumatische Erlebnisse“ schnell wieder weg und drehte mich in meinem Sitz zu Hanna um. „Und was machen wir jetzt?“
Sie begegnete meinem Blick nicht, schaute nur besorgt aus dem Fenster. „Wir müssen wohl zu Fuß weitergehen.“
Ich warf einen zweifelnden Blick auf Tobias. „Meinst du echt, das ist eine gute Idee?“
„Hast du eine bessere?“, schnappte sie. Ich zuckte noch nicht einmal zusammen, starrte sie nur milde überrascht an. Aber warum war ich überrascht?
Geschlagen hob ich die Schultern. „Also gut.“ Mit einem prüfenden Blick nach draußen, der mir versicherte, dass kein Misery-Staub mehr in der Luft herumflog, öffnete ich die Tür und stieg aus. Draußen herrschte eine ziemlich milde Temperatur, es war fast wärmer als im Auto. Ich war solche Wärme nicht gewohnt, aber hier auf dem Land war es wohl nichts Besonderes. Ich zog den blutverkrusteten schwarzen Mantel vom Beifahrersitz und legte ihn ausgebreitet auf den Boden, bevor ich die hintere Autotür öffnete. „Legen wir Tobias auf den Mantel, dann können wir ihn besser transportieren“, erklärte ich, als Hanna mich fragend anschaute. Sie nickte wortlos und stieg ebenfalls aus, um mir zu helfen.
Schweigend machten wir uns an die Arbeit. Keiner von uns brachte ein aufmunterndes Wort über die Lippen. Mir war bewusst, dass ich ganz schön einsilbig war, aber ich war einfach zu erschöpft, um mich jetzt noch aufs Reden zu konzentrieren. So erschöpft und müde, dass ich mich am liebsten einfach ins Auto gelegt und geschlafen hätte. Ich fürchtete jedoch, dass sofort alles Erlebte über mir zusammenbrechen würde, sobald ich mich auch nur für einen kleinen Moment entspannte. Das konnte ich nicht zulassen. Noch nicht jetzt, schließlich waren wir noch längst nicht außer Gefahr. Im Gegenteil – wir waren auf der Flucht, es wurde bestimmt schon längst nach uns gefahndet, und die Tatsache, dass wir nun zu Fuß unterwegs waren, machte uns noch viel langsamer und verletzlicher als zuvor.
Ich spürte nichts, als meine Finger Tobias' kühle Haut berührte, abgesehen von dem Puls, der schwach darunter pochte, kaum wahrnehmbar. Mein einziger Gedanke war, dass wir vielleicht früher hätten daran denken sollen, ihn mit dem Mantel zuzudecken, damit er nicht auskühlte. Aber in dem Auto war es ja nicht sonderlich kühl gewesen. Auch die Wunden mussten wir jetzt nicht mehr verbinden, sie waren alle schon verkrustet und getrocknet, und ich wusste nicht, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war.
Als wir ihn auf dem Mantel ablegten, brach jedoch die Schusswunde an seiner Schulter wieder auf und Tobias entfuhr ein leises Stöhnen. Warmes, helles Blut sickerte langsam über seinen Oberarm. Mein Herz setzte einmal aus, als sich seine glanzlosen, graublauen Augen einen Spalt breit öffneten. „Etwas vorsichtiger, wenn's geht“, brachte er langsam heraus. Er klang wie betrunken. Ich konnte nicht anders, als ihn anzugrinsen. Meine Mundwinkel zitterten und ich war kurz davor, vor Erleichterung irre zu gackern wie ein Bösewicht, der die Weltherrschaft an sich reißen wollte.
„Sorry“, sagte ich und Hanna tätschelte unbeholfen seine unverletzte Schulter. Sie hatte Tränen in den Augen, doch blinzelte sie rasch wieder weg. „Was meinst du, sollten wir die Wunde verbinden?“, fragte sie mich.
„Kann nicht schaden, oder?“, antwortete ich schulterzuckend. Zwar blutete es nicht stark, doch ich wollte lieber nicht riskieren, dass die Wunde weiter aufbrach, wenn wir uns in Bewegung setzten. Hanna half mir, einen Ärmel von meinem weißen Sweatshirt abzureißen, was gar nicht so einfach war, wie ich dachte, und wir nutzten den Stoff als notdürftigen Verband. Nachdem wir Tobias angewiesen hatten, sich möglichst nicht zu bewegen – woraufhin er nur müde lachte und sagte, er habe gerade wirklich kein Bedürfnis nach Bewegung – hoben wir vorsichtig den Mantel mit der lebendigen Last an und machten uns zügigen Schrittes auf den Weg.
Während wir durch die Einöde stapften und meine Arme von dem Gewicht immer schwerer und länger zu werden schienen, hoffte ich nur, dass wir bald die anderen finden würden. Denn im Dunkeln wären die Reifenspuren als Orientierung absolut nutzlos, und es brach schon langsam die Nacht herein...






*Ich hab leider keinen blassen Schimmer, wie sich ein Auto verhält, wenn der Tank leergefahren wird! Eigentlich mach ich ja gerade meinen Führerschein, aber sowas lernt man dabei nicht, und ausprobieren will ich es auch nicht. ^^ Google spuckt auch nichts Vernünftiges aus. Kennt sich irgendwer von euch damit aus? scratch 
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BeitragThema: Re: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptySo Sep 29, 2013 9:04 pm

5.4 Nebula

Kopfschüttelnd betrat ich meine Wohnung. Was für ein merkwürdiger Tag. Da kehrte ich gerade nichtsahnend die Straße, und plötzlich wurde ich fast von einem grünäugigen Gott umgerannt. Wahnsinn, solche Augen hatte ich noch nie gesehen. Er wirkte irgendwie... gestresst, verängstigt. Verwirrt. Doch das Einzige, was ich nur immer wieder denken konnte, war: Diese Augen! Diese unglaublichen Augen! Was war er? Ein Übermensch? Ein Engel aus meinen Visionen? Vielleicht sogar... Ich wagte es kaum, den Gedanken zuende zu denken.
Vor der Haustür schaute ich noch einmal hoffnungsvoll die Straße hoch und runter, doch zu meiner Enttäuschung flatterte heute keine Verbotene Zeitung durch die Dunkelheit. Schade. In einer aktuellen Ausgabe würde bestimmt ein Artikel über den jungen Mann mit den Smaragd-Augen stehen, da war ich mir todsicher. Ich hatte noch nie so eine blendende Farbe gesehen, zumindest nicht außerhalb meiner Somnium-Träume, und ich konnte doch nicht die Einzige gewesen sein, die ihn gesehen hatte. Hoffentlich hatten ihn die Schattenteufel noch nicht entdeckt.
Ich schloss die Haustür auf und biss mir auf die Unterlippe. Ich hätte ihm Hilfe anbieten sollen. Bestimmt war er auf der Flucht vor den Schattenteufeln. Aber ich war einfach so geschockt und überrumpelt gewesen, dass ich so schnell gar nicht hatte reagieren können. Mist aber auch.
Drinnen angekommen holte ich die Verbotene Zeitung, die ich gestern Abend aufgegriffen hatte, aus ihrem Versteck – dem Gefrierfach meines Kühlschranks – und legte den Eisblock mit der eingefrorenen Zeitung in die schmuddelige Küchenspüle. Während sie auftaute, beschloss ich, mir in der Zwischenzeit eine Ladung Somnium durch die Adern zu jagen. Eigentlich hatte ich gerade gar nicht so sehr das Bedürfnis, in die einladende Traumwelt zu fliehen, was mich selbst überraschte. Diese kurze Begegnung mit dem jungen Mann – wenn man es überhaupt eine Begegnung nenne konnte – hatte auf unerklärliche Weise etwas in mir berührt, das ich schon lange für tot gehalten hatte: Hoffnung.
Grün wie die Hoffnung. Verrückt, wie das Leben manchmal so spielte.
Doch obwohl mein Interesse in der Verbotenen Zeitung gerade erwacht war wie schon lange nicht mehr, und obwohl es mir plötzlich in den Fingern juckte, mal wieder irgendetwas zu unternehmen, und obwohl ich mich gerade erstaunlich gut fühlte, dafür, dass ich seit Stunden kein Somnium mehr hatte, waren die Entzugserscheinungen doch stark genug, dass ich mich gezwungen sah, erstmal meine Sucht zu stillen.
Außerdem brauchte ich jemanden zum Reden, und wer wäre dafür besser geeignet als ER? Hier, in der Realität, kannte ich ja leider niemanden persönlich, dem ich von meiner seltsamen heutigen Begegnung erzählen konnte oder wollte. Die einzige, der ich fast alles aus meinem Leben anvertraute, war Stella – und ich würde ihr ganz bestimmt nicht von meiner Vermutung erzählen.
Von meiner Vermutung, dass der junge Mann, den ich heute getroffen hatte, womöglich Fatum war. Eigentlich war mein Glaube über die letzten Jahre ziemlich dahingesiecht, so wie ich selbst auch, aber seit heute erstrahlte er wieder in voller Blüte. Ich meine, erst träumte ich von Engeln, dann traf ich – im wahrsten Sinne des Wortes – diesen jungen Mann; das konnte doch kein Zufall sein. Und irgendwann musste Fatum ja mal zu uns kommen, also warum sollte es nicht jetzt sein?
Ich stach die Nadel ein und nahm mir vor, IHN auf jeden Fall danach zu fragen. Klar, vielleicht war ER nur ein Produkt meiner eigenen Fantasie, das mir durch den Somnium-Rausch beschert wurde, und dann konnte er mir natürlich keine Fragen beantworten, deren Antworten ich nicht wusste. Aber falls meine Engelsvisionen eine übernatürliche Bedeutung hatten, und falls Fatum vielleicht wirklich existierte, konnte es ja auch anders sein. Vielleicht betrat man durch den Rausch eine andere Welt, eine Parallelwelt, die wirklich existierte, nur auf einer anderen... Ebene...
Ich driftete langsam weg und alles um mich her löste sich in Nebel, Asche und bunte Wirbel auf.
Und mein erster Gedanke, als ich IHN sah, war diesmal: Verdammt, ER hat ja grüne Augen!



5.5 Ash


Ich schloss die Wohnungstür und lehnte mich für ein paar Momente von innen dagegen. Regungslos, mucksmäuschenstill stand ich in der Dunkelheit und lauschte. Satinca hatte mir, als sie mich nach Hause begleitet hatte, ziemlich früh zugeflüstert, dass sie das Gefühl hatte, wir würden verfolgt werden. Wir hatten ein paar Umwege genommen und hofften, dass wir jeglichen potentiellen Verfolger nun abgehängt hatten, aber wirklich sicher konnte man ja nie sein.
Doch das Einzige, was ich hörte, waren die üblichen Wohngeräusche aus den anderen Wohnungen und den Wind, der um die Häuser pfiff. Über mir herrschte Stille, da ich, wie ich festgestellt hatte, in der obersten Etage lebte (und das ohne Fahrstuhl! Diese Stadt war wirklich grausam) und sich über mir nur noch der Dachboden befand, der abgeschlossen war. Also, sobald ich von oben verdächtige Geräusche oder Schritte hörte, war Panik angesagt. Panik alias „Gefahr! Bitte rennen Sie jetzt hysterisch schreiend im Kreis!“
Ich musste leicht grinsen, trotz der Nervosität, die mir noch immer in den Knochen steckte. Der schmale Flur, der im trüben Abendlicht kalt und bedrohlich wie ein Tunnel wirkte, trug auch nicht gerade zu meinem Wohlbefinden bei. Schließlich löste ich mich allerdings von der Eingangstür, die ich sehr liebgewonnen hatte, und schaute stattdessen nach meinem Handy. Wenn das jetzt nicht aufgeladen war...
Doch es war aufgeladen. Zum Glück, sonst hätte ich wirklich leicht panisch werden müssen. Ohne Kontakt zur Außenwelt in einem düsteren, kahlen Apartment zu sitzen – allein, wohlgemerkt – und immer im Hinterkopf zu haben, dass man womöglich verfolgt wurde, wäre noch deutlich unangenehmer als das ganze MIT Kontakt zur Außenwelt. Wobei Außenwelt in diesem Fall Satinca gleichkam, die mir ihre Handynummer und verschiedenste andere Telefonnummern gegeben hatte, wo ich mich melden konnte. Meine ganze rechte Handinnenfläche und die Innenseite meines Unterarms waren mit Nummern gemustert, wie Tattoos bei einem Häftling.
Ich war ein wenig enttäuscht, als ich sah, dass ich nur zwei Nachrichten verpasst hatte. Viele Freunde schien ich ja nicht zu haben, aber das war bei dieser Bevölkerung auch kein Wunder! Das eine war eine Benachrichtigung vom Handy-Anbieter, dass eine bestimmte Summe Geld von meinem Konto abgebucht worden war. Aha, ich hatte also einen Handyvertrag. Moment mal – und ich hatte ein Konto?! Interessant...
Das andere war eine Nachricht von einem gewissen Henri. Keine Ahnung, wer das war. hey ash, schrieb er, wo steckst du??!!!!!! wir mussten das referat ohne dich halten!!!! morgen kommste aber wieder zur uni oder??? lg henri
Oh-oh, das klang nicht so gut. Jetzt wusste ich wieder einigermaßen, wer Henri war: klein, dicklich, schwarze Haare, Streber... Warum war ich mit so einem Typen befreundet? Und noch wichtiger, warum machte ich ein Referat zusammen mit ihm? Was studierte ich überhaupt? Ich seufzte und schaltete mein Handy aus, dessen Hintergrund einen keltischen, metallischen Knoten zeigte, in den die Buchstaben „NDD“ eingeflochten waren. Ich hatte gehofft, dass das Handy ein paar meiner Fragen beantwortete, aber stattdessen warf es nur noch mehr Fragen auf.
Nun, immerhin wusste ich jetzt, dass ich zur Uni ging. Ich war Student, wow. Einer der Intellektuellen. Wieder schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. Eigentlich gar nicht mal so schlecht. Ob Simon mir wohl ein bisschen helfen konnte, mich wieder in den Unibetrieb einzufinden? Seine Nummer hatte ich leider nicht, Satinca hatte nicht gewollt, dass ich mit Simon und Sara viele Worte, Informationen oder Nummern austauschte. Die beiden wussten noch nicht einmal, dass ich mein Gedächtnis verloren hatte und was mir heute passiert war.
Satinca hatte mir draußen erklärt, dass sie den beiden noch nicht vollständig vertraute. Die zwei waren noch nicht lange bei der Redaktion der Verbotenen Zeitung dabei, Sara war praktisch gerade erst eingestiegen. Laut Satinca waren sie noch jung, unerfahren und manipulierbar, weshalb sie ihnen lieber noch nicht so viel anvertrauen wollte.
Nachdenklich spielte ich an dem Handyanhänger herum, während ich mit etwas Unbehagen aus dem Fenster in die Dunkelheit schaute. Ich hatte immer noch das Gefühl, beobachtet zu werden, aber wahrscheinlich war das nur Paranoia. Dort draußen war es zu dunkel, um etwas oder jemanden zu erkennen, und da ich noch nirgendwo das Licht angeknipst hatte, glaubte ich auch nicht, dass man mich sehen konnte, wenn man von draußen hereinschaute. Trotzdem beunruhigten mich die Fenster des Nachbarhauses, die mich wie stumm wachende Augen anstarrten.
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BeitragThema: Re: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyDo Okt 03, 2013 1:43 am

Endlich ist auch das fünfte Kapitel fertig! Puh. Ich hab das Gefühl, noch nie so lange an einem Kapitel geschrieben zu haben. Ist aber wahrscheinlich nur Einbildung Laughing 
Wie auch immer - hier kommt das dicke Ende vom fünften Kapitel!!!
bounce 


(immer noch Ash)


Ich schüttelte diese unangenehmen Gedanken ab. Plötzlich wurde mir bewusst, was ich eigentlich gerade in der Hand hielt: der Handyanhänger war eine winzige Taschenlampe, an deren Ende sich unter einer Kunststoffkappe eine hellgrüne Kugelschreibermine verbarg. Hellgrün?! Ich hatte wieder Satincas hellgrüne Schrift vor Augen, die wenige Sekunden später verschwand.  Ich habe eine spezielle Taschenlampe, mit deren Licht ich die Schrift wieder sichtbar mache. Das waren ihre Worte gewesen. Eine Taschenlampe also...
Ich lächelte triumphierend in mich hinein. Wenn mich nicht alles täuschte, hatte ich gerade den Schlüssel gefunden, der mich in meinem scheinbar leeren Tagebuch lesen ließ. Ich ging ins Schlafzimmer, knipste das Licht an und zog die Vorhänge zu – man konnte ja nie vorsichtig genug sein – bevor ich das demolierte Tagebuch herauskramte. Als ich mit der kleinen Taschenlampe auf die erste „leere“ Seite leuchtete, wurden tatsächlich grünlich glimmende Buchstaben sichtbar. Bingo!
Ich machte es mir im Schneidersitz auf meinem großzügigen Bett bequem und begann, zu lesen.


5.6 Eric

Meine Augen brannten vor Überanstrengung und von der staubtrockenen Luft. Die Sonne war schon lange hinter den Hügeln verschwunden, und langsam wurde es so dunkel, dass man kaum noch die Hand vor Augen sehen konnte. Ganz zu schweigen von den Reifenspuren. Verdammt, hätten unsere sogenannten Freunde nicht mal kurz stehen bleiben und auf uns warten können?!
Als wir schließlich beim besten Willen nicht mehr sehen konnten, wohin wir traten, und ständig über Unebenheiten des Bodens und in kleine Kuhlen stolperten, beschlossen wir, uns ein wenig auszuruhen. Eine andere Wahl blieb uns ja gar nicht.
„Ich übernehm die Nachtwache, leg dich ruhig hin“, sagte ich und unterdrückte ein Gähnen. Ich konnte Hannas skeptischen Blick förmlich spüren, während wir es uns auf dem kahlen Boden so bequem machten, wie es eben möglich war. Es hatte sich ziemlich abgekühlt, sodass uns der aufgeheizte Boden nun geradezu wärmend erschien. Mit einem besorgten Stirnrunzeln wickelte ich Tobias fest in den Mantel ein, bevor ich mich dicht neben ihn setzte und in die Finsternis starrte. Fröstelnd schlang ich die Arme um meine Knie, während sich Hanna auf der anderen Seite neben die schlafende oder bewusstlose Gestalt von Tobias legte.
Wir mussten uns wirklich ein bisschen beeilen, um so schnell wie möglich Hilfe zu bekommen. Ich wollte gar nicht daran denken, wie viel Blut er vielleicht schon verloren hatte. Ganz abgesehen von der Tatsache, dass wir seit über 24 Stunden keine Nahrung oder Flüssigkeit zu uns genommen hatten. Auch ich spürte schon die Auswirkungen davon – ich fühlte mich ausgelaugt und erschöpft, wurde von einem störrischen Kopfschmerz geplagt, und wahrscheinlich wäre ich auf der Stelle eingeschlafen, sobald ich mich in eine horizontale Lage begab. Doch die Angst vor Albträumen sowie die weitaus größere Angst, nicht wieder aufzuwachen, hielten mich wach.
Ich konnte nicht sagen, ob Minuten oder Stunden vergangen waren, als ich ein Flüstern aus der Dunkelheit zu meiner linken Seite hörte. „Bist du noch wach?“
Ich seufzte lautlos. „Hanna, du solltest schlafen“, antwortete ich genauso leise.
„Ich kann nicht.“ Ihre Stimme klang plötzlich erstickt, als ob sie Tränen zurückhielt. Ich seufzte erneut. Na großartig. „Es ist in letzter Zeit einfach zu viel passiert... Erst wurden Paul und ich in dieses verdammte Internat gesteckt, nur weil wir in der Schule einmal zu laut gesagt haben, was wir von der OE halten... dann mussten wir beim Ausbrechen diesen armen Jungen zurücklassen, dessen Namen ich mir immer noch nicht merken kann...“ Sie schniefte und fuhr fort: „Dann wollten wir in diesem verlassenen Haus Unterschlupf suchen, und kaum sind wir drinnen, steht dieser Typ mit der Knarre vor uns und erschießt einfach Stefan...“ Ich zuckte bei ihren Worten leicht zusammen und ballte unwillkürlich zusammen, als ich mich zusammenriss. „Dann die Sache mit Lisa... Und dann -“
„Ja, verdammt, ich weiß, was dann passiert ist!“, schnappte ich, „Ich war dabei!“
Hanna verstummte und ich hörte nur noch ihren zitternden Atem und den kalten Wind, der mir um die Ohren strich. Verdammt, weinte sie etwa? Vielleicht hätte ich etwas sensibler reagieren sollen. Sie brauchte einfach jemanden zum Reden. Hanna brauchte immer jemanden zum Reden. Normalerweise übernahm Paul immer die Rolle des Zuhörers, aber jetzt, wo er nicht da war...
Was war eigentlich passiert? Warum war Paul nicht hier? Er hing doch sonst immer wie eine Klette an seiner Schwester, also wo steckte der Trottel?
„Nein, du weißt nicht alles, was dann passiert ist“, murmelte sie. „Du warst ja nicht dabei, als diese feigen Turteltauben Anton und Cecilia einfach losgefahren sind und mich mit Lisa zurückgelassen haben -“
„Was?!“, stieß ich hervor. Für solche Feiglinge hatte ich die beiden nun nicht gehalten. Okay, unseren „Anführer“ Anton vielleicht schon, aber Cecilia... wobei, sie hatte schon ganz schön verängstigt gewirkt, und das sollte was heißen. Cecilia war nicht so leicht zu verängstigen. „Wenn ich die beiden sehe, bringe ich sie um!“, knurrte ich, „Und Paul auch! Hat er gar nichts dagegen getan?“
Aus irgendeinem Grund war es einfacher, in der Dunkelheit über so etwas zu reden, als Hanna dabei ins Gesicht schauen zu müssen. Man sollte die Gegebenheiten eben immer zu seinem Vorteil nutzen. Huch, was war das denn – war mein Optimismus doch noch nicht komplett tot?
„Es war nicht so einfach“, antwortete Hanna, „Du weißt ja, dass wir alle aus der Dachluke klettern, auf den Kompost springen und fliehen wollten, während Tobias drinnen die Vampire ablenkte.“ Sie holte tief Luft und ich rückte unwillkürlich etwas näher an Tobias heran. Er hatte für uns sein Leben aufs Spiel gesetzt. Er durfte nicht sterben. Und deshalb würde er auch nicht sterben.
„Und was ist dann schief gelaufen?“, lenkte ich meine Gedanken wieder auf unser eigentliches Gespräch zurück. „Ich hatte Anton und Cecilia doch gesagt, dass sie euch abfangen sollen.“
Sie lachte bitter auf. „Ja, das haben sie auch getan. Aber es waren so viele Vampire, dass die wohl nicht alle mit Tobias beschäftigt waren, und als wir gehört haben, wie sie die Treppe zum Dachboden hochkamen, haben wir uns natürlich beeilt, so schnell wie möglich raus und in die Autos zu kommen. Paul hat Helena rausgeholfen – sie ist ja so klein, dass sie das allein nicht geschafft hätte. Alle haben mir zugerufen, dass ich Lisa zurücklassen sollte, aber ich...“ Ihr Stimme zitterte wieder. „Ich war so dumm und wollte sie mitnehmen. Sie war ja immer noch bewusstlos, und ich konnte sie doch nicht einfach da lassen... Alle anderen waren schon draußen, und dann ging plötzlich die Dachluke auf, und... ich glaube, Paul wollte zurück und mir helfen, zumindest klang das Geschrei von draußen so, aber die anderen müssen ihn festgehalten haben... und dann sind sie weggefahren. Ich weiß, ich war diejenige, die einen Fehler gemacht hat, und ich sollte glücklich sein, dass sie entkommen sind... aber... ich...“
Sie verstummte und rang nach Atem wie nach einem Dauerlauf. Ich wünschte plötzlich, sie würde weinen, würde endlich loslassen und dem Schmerz freien Lauf gewähren. Aber dafür war sie zu stolz. Zu stark. Und es war ja nicht so, dass ich gerade mit gutem Beispiel voranging, im Gegenteil. Im Verdrängen und Verschließen war ich Meister, und nicht gerade stolz darauf. Aber manchmal war es eben wichtig. Lebenswichtig. Wir mussten einen klaren Kopf behalten, zumindest, solange wir noch auf der OE auf der Flucht waren.
Ich blinzelte also die Tränen fort, die sich in meinen Augen anstauen wollten, auch wenn ich noch nie zuvor so sehr das Bedürfnis gehabt hatte, einfach alle Barrieren aufzugeben, alle Staudämme einbrechen zu lassen. Es war nicht der richtige Moment. Außerdem brauchte Hanna mich jetzt – sie brauchte Trost.
„Du hast das Richtige getan“, sagte ich sanft. „Wenn du sie freiwillig zurückgelassen hättest, hättest du doch jetzt ein schlechtes Gewissen, oder? Du warst die Einzige von euch, die das Richtige getan hat. Na ja, abgesehen von Paul“, gab ich widerwillig zu. „Und was die anderen betrifft, die werden schon eine Weile ohne uns klarkommen. Sie werden ja jetzt schlau genug sein, zu allen Landhäusern Abstand zu halten, und es würde niemand auf die Idee kommen, Autos von der OE anzuhalten oder anzugreifen, oder? Also, das Schlimmste, was ihnen passieren könnte, ist, dass einer von ihnen versucht, zu kochen, und sie sich alle eine Lebensmittelvergiftung zuziehen.“
Von Hanna kam ein undefinierbares Geräusch, das fast wie ein Kichern klang. Ermuntert fuhr ich fort: „Oder Anton hat solche Angst vor der kleinen Helena, dass er sich in die Hose macht. Das wäre auch nicht so angenehm für alle Anwesenden.“
Jetzt musste sie wirklich kurz auflachen. „Eric, bist du sicher, dass du nicht mit Tobias verwandt bist? Normalerweise ist er doch der Spaßvogel.“
„Na ja, was heißt schon Spaßvogel...“, wiegelte ich ab. Eigentlich fühlte ich mich gerade gar nicht so sehr spaßvogelig. Unsere Situation war mehr als 200%ig purer Ernst. Aber vielleicht waren es ja gerade solche Momente, die in einem das Bedürfnis hervorriefen, andere aufzumuntern? So, wie ich es immer bei Ash versucht hatte, wie Tobi es für uns alle getan hatte, und wie ich es jetzt für Hanna tat. „Aber nein, Tobi und ich sind nicht verwandt. Ich hab zwar einen großen Bruder, aber...“ Ich brach ab. Schlechtes Thema.
„Also, wie gesagt, mach dir nicht so viele Gedanken. Es wird schon alles gut gehen“, sagte ich. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn Hanna wieder gelacht hätte, so unglaubwürdig klangen die Worte.
Hanna seufzte jedoch nur. Eine kühle Hand legte sich auf meine Schulter und ich wandte überrascht den Kopf, konnte aber in der Dunkelheit natürlich nichts erkennen. „Eric, wie machst du das?“, fragte sie leise.
„Was?“, fragte ich verwundert zurück.
„Na, mit dem, was uns passiert ist. Besser gesagt, was dir passiert ist. Mag sein, dass ich ein bisschen unter Schock stehe, aber ich bin nicht blind – ich hab den blutverschmierten Mantel gesehen. Und das Messer, und die Pistole, und Tobis Wunden... ich hab zwar nicht gesehen, was euch passiert ist, aber ich hab es gehört. Ich hab die Schüsse gehört, und den Lärm...“
„Okay, okay, ich hab verstanden, was du meinst.“ Unsanft schob ich ihre Hand von meiner Schulter. Mag sein, dass es unsensibel war, aber ich wollte im Moment weder Mitgefühl, noch Mitleid. „Ich komm damit klar.“
„Und wie?“ Unbeirrt legte sie wieder die Hand auf meine Schulter und drückte sie ein wenig. Die Kälte ihrer kleinen Hand sickerte durch mein Sweatshirt, doch nach einer Weile bildete sich zwischen uns eine angenehme Wärme. Ich konnte mich nicht dazu bringen, sie wieder weg zu schieben. Ich seufzte und überlegte, wie ich darauf antworten sollte. Wie ich etwas erklären sollte, das ich schon seit ich denken konnte ganz instinktiv tat.
„Verdrängung, würde ich sagen“, antwortete ich schließlich mit einem angedeuteten Schulterzucken. „Und in manchen Situationen, so wie jetzt... na ja... Hast du schon mal etwas von Schrödingers Katze gehört?“
„Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich weiß nicht mehr genau...“
„Es ist aus der Physik. Es geht darum, dass man eine Katze, einen instabilen Atomkern und ein gut verschlossenes Gift in einem luftdichten Raum einschließt. Wenn der Atomkern zerfällt, wird das Gift freigesetzt und die Katze stirbt. Solange man also den Raum nicht öffnet, weiß man nicht, ob die Katze tot oder lebendig ist. Wenn man ihren Zustand beschreiben müsste, wäre sie gleichzeitig tot und lebendig, und man weiß die Wahrheit erst, wenn man den Raum öffnet und nachschaut.“
„Und du bist in dieser Gleichung die Katze?“, fragte Hanna. Über sterbende Katzen zu reden, schien sie aus irgendeinem Grund zu beruhigen. Ich musste leicht lächeln.
„So ungefähr.“ Ich wollte plötzlich nicht mehr weiter reden, ich hatte schon zu viel gesagt. Schon zu viel von mir preisgegeben. Aber jetzt hatte ich schon einmal angefangen, jetzt konnte ich den Vergleich auch zu Ende bringen. Hanna war ja nicht dumm, sie würde es früher oder später sowieso verstehen. Geschlagen stieß ich die Luft aus und sackte ein wenig zusammen. Hanna strich mir ein wenig zögerlich über die Schulter und ich  musste wieder lächeln. Vielleicht war es doch ganz okay, mich ihr anzuvertrauen. Hanna war schließlich... Hanna. „Du darfst diesen Vergleich aber nicht wörtlich nehmen, ich werde jetzt nicht anfangen, zu schnurren“, witzelte ich.
„Keine Sorge, das erwarte ich auch nicht“, erwiderte sie, ihre Stimme so weich und leicht wie der Druck ihrer Hand. „Also, wie war das jetzt mit Schrödingers Katze? Du schließt deine Gefühle weg, deine Seele, stimmt's? Und dann hast du Angst, den Raum wieder zu öffnen. Du weißt selbst nicht mehr, was mit dir passiert, und du willst es auch gar nicht wissen.“
Verdammt, sie hatte mich ertappt. Meine Fingernägel bohrten sich in meine Handflächen, als ich versuchte, das Gleichgewicht zu halten. Hanna hatte mich zum Schwanken gebracht und ich war kurz davor, abzustürzen. Nein! Das durfte ich nicht! Ich musste...
Tobias erwies sich als eine nutzlose Barriere zwischen uns, als Hanna den Arm weiter ausstreckte und mir tröstend über den Rücken rieb. Als wäre ich ein kleines Kind. „Ist doch so, oder?“
„Ja, du hast recht. Gewonnen“, sagte ich schroff, doch es klang überhaupt nicht nach meiner eigenen Stimme. Ich war tot und lebendig zugleich. Ein Untoter, ohne Gefühle, solange die Katze eingesperrt war. Doch sobald ich den Raum öffnete, würde ich den Schaden konfrontieren müssen, den die letzten Tage angestellt hatten, und versuchen, ihn irgendwie wieder gerade zu biegen. Wieder zu heilen. Und das konnte ganz schön wehtun.
„Aber steigt die Wahrscheinlichkeit nicht, dass die Katze tot ist, je länger du sie in dem Raum eingesperrt hältst?“, fragte Hanna leise mit der Engelsgeduld einer Kindergärtnerin. Und plötzlich fühlte ich mich wirklich wie ein kleines Kind. „Es kann doch nicht gut sein, dich so zu verschließen. Irgendwann musst du dich mit allem auseinandersetzen. Du kannst dich doch nicht bis an dein Lebensende so verkapseln.“
„Ach nein?“, gab ich zurück. Dabei wusste ich doch, dass sie recht hatte. Ja, ich machte meinem neuen Erscheinungsbild als störrisches Kleinkind, das getröstet werden musste, jetzt schon alle Ehre. Aber ich hatte einfach Angst. Angst vor der Wahrheit...
„Es wäre zumindest sehr schade“, sagte sie nur und zog mich näher heran, bis sie ihren Kopf auf meine Schulter legen konnte, den Arm zu einer halben Umarmung um meinen Rücken geschlungen. Okay, das war's. Ich konnte nicht mehr. Frische Tränen traten in meine Augen, während sich irgendetwas in mir immer noch dagegen wehrte, nachzugeben. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, wir waren immer noch in Gefahr, ich konnte jetzt nicht zu einem nutzlosen, heulenden Bündel zusammenbrechen.
„Na gut, du hast gewonnen“, würgte ich an dem Kloß vorbei, der plötzlich in meinem Hals steckte. „Du hast recht. „Aber nicht jetzt... Jetzt ist nicht der richtige Moment. Die OE könnte uns finden, wir müssen wachsam bleiben... bitte, Hanna...“
„Schhh, ist ja gut...“ Sie hörte nicht auf mich. Na toll, jetzt fühlte ich mich echt wie ein kleines Baby. Aber irgendwie war es auch unglaublich beruhigend. Die Körperwärme, die Hanna ausstrahlte, die Finsternis, welche Nähe und Intimität suggerierte, ihre sanfte Stimme...
„Knutscht ihr?“
Tobias' mehr geröchelte als gesprochene Worte rissen mich gerade noch rechtzeitig zurück, bevor ich womöglich auf die Idee kam, jetzt schon meinen Schutzwall einreißen zu lassen. Ertappt wichen Hanna und ich voneinander zurück.
„Quatsch!“, sagte sie etwas zu schnell, während ich mir fahrig übers Gesicht wischte. Maske wieder zurechtgerückt, alle Mauern stabilisiert. Mir ging es gut. Okay, nicht gut – aber auch nicht schlecht.
„Gut, dann guckt mal“, sagte Tobias. Noch bevor ich nachfragen konnte, wie wir wissen sollten, welche Richtung er meinte, und dass hier sowieso alles gleich aussah – nämlich pechschwarz – sah ich es schon selbst: Zwei Lichtpunkte, die rasch näher kamen. Sie kamen aus derselben Richtung, aus der auch wir gekommen waren, und steuerten direkt auf uns zu. Ab und zu waren sie nicht mehr zu sehen, wenn sie hinter einem Hügel verschwanden, doch sie tauchten jedes Mal wieder auf.
Es waren eindeutig die Scheinwerfer eines Autos.


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BeitragThema: Re: Die Stadt Namenlos   Die Stadt Namenlos EmptyDo Okt 03, 2013 1:43 am

5.7 Ash

Hallo Welt. Mein Name ist Ash Phoenix, ich bin 19 Jahre alt und fühle mich bereits wie ein alter Greis: jederzeit bereit, zu sterben. Warum? Das weiß ich selbst nicht genau. Liegt wahrscheinlich an der Lebensphilosophie hier in der Stadt Namenlos. Keiner scheint hier besonders glücklich zu sein. Zumindest keiner, der älter als 8 Jahre ist. Spätestens dann sollte jeder begriffen haben, dass es unter diesem ewig stahlgrauen Himmel für niemanden ein Happy End geben wird. Gerade in diesem Alter, wenn die Kinder langsam begreifen, dass der Sinn des Lebens nicht existiert, ist die Selbstmordrate besonders hoch. Das habe ich zumindest mal gelesen, in der Verbotenen Zeitung, die ich voller Raureif auf der Straße gefunden habe. Natürlich lese ich sie nicht regelmäßig, das wäre mir viel zu deprimierend – und deprimierend ist mein Leben schon genug.
Persönlich kenne ich niemanden, der bereits sein Kind verloren oder sich selbst im Kindesalter ins Jenseits befördert hat. Was wohl daran liegt, dass ich sowieso niemanden persönlich kenne. Zumindest niemanden in meinem Umfeld. Ich habe keine Freunde, aber Freundschaft ist hier sowieso ein Fremdwort, und meine Eltern sind vor einigen Jahren einfach verschwunden. Die einzige Person, die mir nahe steht, ist mein kleiner Bruder Eric, doch der wurde letztes Jahr in ein Erziehungsinternat gebracht. Irgendein Lehrer hat ihn verpetzt, weil er in der Schule angeblich „wiederholt gesetzesfeindliche Äußerungen“ von sich gegeben hat.
Dass ich nicht lache! Ich glaube eher, dass er zu fröhlich für diese Welt war. Irgendwie hat er es immer wieder geschafft, gut gelaunt zu sein und sogar mich damit anzustecken. Aber gute Laune ist in Namenlos nicht gern gesehen. Gott, ich hasse diese Stadt! Jetzt, ohne jegliche Kontakte, verlasse ich natürlich nur in den dringendsten Notfällen mein Haus, oder wenn ich mich ab und zu zur Uni schleppe. Lieber bleibe ich jedoch in meinem Zimmer, lerne oder lese, als mich mit der grausamen Wirklichkeit vor meiner Haustür auszusetzen. Ich gebe es zu – ich habe Angst davor, neue Kontakte zu knüpfen, seit ich die wenigen Menschen verloren habe, die ich in mein Herz geschlossen hatte. Man hat sie mir entrissen und das hat tiefe Wunden hinterlassen, die niemals heilen werden.
Aber ich sollte aufhören, zu jammern. Wen interessiert das schon, wenn es sowieso jedem genauso dreckig geht? Alles ist lieblos und grau, die Menschen wissen nicht, wofür sie leben. Außer natürlich die Politessen von der Ordnungseinheit. Allein der Gedanke an sie löst in mir eine solche Wut aus, dass ich besser nicht länger darüber nachdenke, weil ich sonst kurz davor bin, Amok zu laufen. Ernsthaft. Das sind keine Ordnungshüter, diese verdorbenen Wesen, die das Schicksal von Namenlos in der Hand haben! Sie sind doch schuld an dem ganzen alltäglichen Übel, dem man in jeder Häuserschlucht begegnet! Diese Stadt ist verflucht, verseucht von Einsamkeit, Schatten und Kriminalität, und das ist alles allein ihr Werk! Das können einfach keine Menschen mehr sein, die vom Leid der Anderen leben! Böse Geister werden sie voller Hass genannt, oder Schwarzroben, oder Vampire, weil sie einfach alles Schöne (sollte es hier einmal existiert haben) aus der Stadt gesaugt haben.
Es heißt, wer ihnen einmal in die Augen schaut, kann auch gleich mit dem Leben abschließen. Überall spürt man ihre Präsenz oder zumindest die Verzweiflung, die sie wie Gift verbreiten und die in jede Straße, in jedes Haus dringt. Jeder ist infiziert und siecht langsam dahin. Auch ich. Wie sollte ich dem auf Dauer standhalten, so ganz allein? Denn Liebe und Freundschaft, die wohl viele Menschen retten könnten, sind hier Fremdwörter wie aus einer anderen Sprache, einer anderen Zeit oder einer fremden Welt. Das war bestimmt nicht immer so.
Meine Großmutter hat mir manchmal alte Sagen erzählt über die Anfangszeit der Stadt, als sie noch einen Namen hatte, den aber heute niemand mehr weiß. Natürlich ist es streng verboten, sich diese Legenden zu erzählen, und meine rebellische Oma ist irgendwann spurlos verschwunden. Auf jeden Fall soll diesen Sagen zufolge auch einmal eine bessere, hellere, wärmere Zeit gegeben haben.
Doch in den letzten Jahrhunderten wurde es immer kälter in Namenlos. Besonders in den letzten Jahrzehnten, und erst recht in den letzten Jahren, Monaten und Wochen. So fühlt es sich zumindest für mich an. Besonders, seit Eric verschwunden ist. Kein Wunder, dass ich immer häufiger mit dem Gedanken spiele, endlich einen Schlussstrich zu ziehen und diesem verdammten Leben zu entfliehen. Bisher hat mich aber noch ein letztes Bisschen Stolz daran gehindert, mich den Vampiren auszuliefern. Denn sie können mir zwar das Leben zur Hölle machen; aber den Tod, über den entscheide immer noch ich, und nur ich allein!


Meine Augenbrauen waren beim Lesen immer weiter nach oben gewandert, bis sie beinah in Bedrängnis mit meinem Haaransatz kamen. Na, als ich diesen ersten Eintrag verfasst hatte, musste ich ja fantastische Laune gehabt haben.
Ich blätterte ein wenig weiter und schlug eine beliebige andere Seite auf. So eine extreme Depri-Phase konnte doch nicht allzu lange andauern, oder?
Ich las weiter:

Manchmal habe ich das Gefühl, dass jede Idee schon mal erfunden, jeder Gedanke schon mal gedacht, jeder Satz schon mal gesagt, jedes Leben schon mal gelebt wurde. Es kann gar nicht anders sein. Wir befinden uns alle in einem ewigen Kreislauf und nichts ist wirklich neu. Irgendwann wird vielleicht auch Namenlos wieder zu dem schönen Ort, welcher es einst gewesen sein soll. Aber wie viele Jahre wird das noch dauern? Werde ich es noch erleben? Ich glaube nicht.

Um Himmels Willen, das war ja nicht auszuhalten! Frustriert schlug ich das Tagebuch wieder zu. Anscheinend handelte jeder Eintrag nur von einem einzigen Thema: Die Stadt Namenlos und wie schrecklich das Leben hier doch war. Na super, ich war also ein extrem depressiver, pessimistischer, sarkastischer, suizidgefährdeter Schwarzdenker. Oder, das war ich zumindest mal gewesen. Jetzt war ich anders. Aber wieso? Natürlich war ich mehr als froh darüber, dass sich über Nacht aus irgendeinem Grund all meine Erinnerungen in Luft aufgelöst hatten, aber es hätte mich wirklich mal interessiert, wie das überhaupt passiert war. Was war geschehen?
Nachdenklich stopfte ich mein Tagebuch wieder in sein Versteck unter meiner Matratze und befestigte den kleinen Taschenlampen-Kugelschreiber wieder an meinem Handy. Na, immerhin wusste ich nun schon ein bisschen mehr über mein damaliges Ich: Ich war ein notorischer Jammerlappen gewesen, der mit seiner Situation mehr als unzufrieden war, aber auch keine Hoffnung auf eine bessere Zukunft hatte. Schrecklich! Ich musste ja ein äußerst unangenehmer Zeitgenosse gewesen sein. Kein Wunder, dass ich keine Freunde hatte.
Ich musste ein wenig grinsen. Mir schien es fast, dass ich an diesem ersten Tag nach meinem Gedächtnisschwund mehr Bekanntschaften geknüpft und mehr über die Stadt Namenlos, die OE und die Verbotene Zeitung gelernt hatte, als in meinen bisherigen 19 Lebensjahren.
Aber hey, einiges hatte ich aus meinem Tagebuch auch gelernt: Ich hatte einen Namen (der gar nicht mal so schlecht klang, wenn auch etwas düster), einen zweifelhaft rebellischen Bruder namens Eric und eine rebellische Großmutter. Die natürlich beide spurlos verschwunden waren, wie es sich für Rebellen gehörte. Es war nicht viel, aber es war ein Anfang. Ich beschloss, als erstes nach meinem Bruder zu suchen. Er konnte ja noch nicht allzu lange verschwunden sein, wenn man bedachte, dass ich sein altes Zimmer immer noch nicht ausgerümpelt hatte, obwohl sich schon der Staub auf den Möbeln sammelte (ich war mir nun ziemlich sicher, dass dieses unbenutzte Schlafzimmer einmal  meinem Bruder gehört hatte). Vielleicht fand ich in diesem Zimmer ja auch ein paar Hinweise darauf, wohin er verschleppt worden war.
Erfüllt von Tatendrang schwang ich die Beine vom Bett. Doch das erste, was ich tat, war, Satinca eine SMS zu schreiben:

Hallo Satinca. Mein Name ist Ash Phoenix.
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BeitragThema: 6. Ewiges Feuer   Die Stadt Namenlos EmptyDi Okt 08, 2013 12:30 am

So, ein ganzes Kapitel ist zwar noch nicht fertig (Schande über mich! Schande über mich! Mad  ) ABER hier ist der erste Teil vom nächsten Kapitel. Und ich muss sagen, ich bin diesmal ziemlich zufrieden Smile Na ja, zumindest so zufrieden, wie man mit seinem eigenen Geschreibsel eben sein kann xD
Oh, und ich mach hier keinen Blocksatz mehr. Bei OpenOffice sieht das gut aus, aber hier ist das ja eine Qual. ^^


6. Ewiges Feuer


The right thing to guide us
Is right here, inside us
No one can divide us
When the light is nearly gone

Nickelback: When we stand together



6.0 Eric

Fluchend sprang ich auf und Hanna tat es mir gleich (jedoch ohne Fluchen). Wir hätten uns von Anfang an etwas weiter weg niederlassen sollen, nicht direkt auf der Reifenspur. Hier entdeckte man uns ja sofort! Mit vereinten Kräften packten wir den Mantel, auf dem Tobias lag, und rannten blindlings in die Dunkelheit, weg von dem Pfad der Reifenspuren und den Scheinwerfern des Autos, die suchend über den Sandboden glitten.
Meine müden Gliedmaßen protestierten, als wir über die unebene Landschaft stolperten, die wir in der Dunkelheit nicht sehen konnten. Wir kamen nicht weit, bevor die Zwillingslichter der Scheinwerfer uns erfassten und wie gleißende Augen fixierten. Der Automotor brummte zufrieden. Unsere Schatten, die vor uns her rannten, wurden schnell kürzer und schärfer, als das Auto näher kam. Uns blieben nur noch wenige Sekunden, bis es uns eingeholt hätte.
Obwohl Tobias der am wenigsten lebendige von uns war, war er derjenige, der eine Entscheidung traf. „Los, lauft in verschiedene Richtungen, dann könnt ihr entkommen!“, verlangte er.
„Aber dann müssen wir dich hier lassen!“, protestierte ich und mein Griff in dem Stoff unserer provisorischen Trage wurde fester. Niemals würde ich Tobias zurücklassen, was dachte er sich eigentlich dabei?!
„Das ist der Sinn der Idee!“
Mein Blick begegnete kurz Hanna, und es war, als ob ich in einen Spiegel schaute. Wir beide waren wild entschlossen, zusammen zu bleiben. „Da, hinter den Hügel!“, rief Hanna atemlos und wir machten eine scharfe Biegung, um zwischen einigen steileren Erderhebungen in Deckung zu gehen. Unser Verfolger konnte aufgrund einiger Bäume nicht so schnell wenden und der Abstand vergrößerte sich etwas, bevor das Auto uns wieder entdeckte und begann, wieder aufzuholen.
Mit einer Kraft, die ich ihm gar nicht mehr zugetraut hätte, warf sich Tobias zur Seite und brachte uns aus dem Gleichgewicht. Hanna schnappte erschrocken nach Luft, als wir ins Stolpern kamen. Doch der Einzige, der zu Boden ging, war Tobias. Er stieß ein schmerzerfülltes Ächzen aus, kniff die Zähne zusammen und presste eine Hand auf seine Schulter, als er ziemlich unsanft auf dem harten Untergrund aufkam.
„Tobi!“ Erschrocken kniete ich mich neben ihn und wollte ihn sofort wieder hoch hieven, doch er schlug meine Hände weg. „Geh!“, stieß er hervor. „Ihr beide!“
Das Licht des nahenden Autos verschärfte die Konturen in seinem leichenblassen Gesicht auf beinah gespenstische Weise, er sah wirklich mehr tot als lebendig aus. Er brauchte mich. Und plötzlich erkannte ich Ash in ihm. Ash hatte mich gebraucht, und ich hatte ihn im Stich gelassen. Ich würde nicht denselben noch einmal begehen. „Nein“, sagte ich mit fester Stimme. Zumindest versuchte ich das, aber es klang eher nach einem verängstigten kleinen Kind. Die nahenden Lichter blendeten mich und ich schloss die Augen.
„Komm schon, Eric!“ Zwei Hände packten meine Schultern und Hanna versuchte mit aller Kraft, mich weg zu zerren, doch ich ließ es nicht zu. Da verschwanden die Hände so schnell, wie sie gekommen waren. Ich spürte noch kurz den Nachklang ihrer Wärme, der jedoch vom nächsten Windstoß weggeweht wurde.
Kurz fragte ich mich, ob der Autofahrer uns einfach überfahren würde, doch da erstarb das Motorengeräusch schon. Ich öffnete blinzelnd die Augen, kniff sie jedoch sofort wieder zu, als das grelle Licht scharf hineinstach. Der Wagen hatte direkt vor uns angehalten. Spätestens jetzt war jegliches Weglaufen sinnlos, und mein Herz sank. Vielleicht konnte sich ja wenigstens Hanna retten.
Ich hörte, wie die Autotüren sich öffneten. Und dann, zu meiner Überraschung, eine altbekannte Stimme. „Eric, bist du das? Hey, du musst nicht gucken, als ob deine Hinrichtung bevorsteht, weißt du.“
Überrascht hob ich nun doch den Kopf. In dem gleißenden Licht konnte ich eine dunkle Gestalt ausmachen, die sich wie ein schwarzer Scherenschnitt dagegen abhob. „Jonas?“, fragte ich zögerlich, voller Unglaube. Es war so unwirklich.
Doch als Jonas aus dem grellen Licht trat und ich sein Gesicht sah, grinste er mir aufmunternd zu und ich konnte nicht anders, als matt zurückzulächeln. Irgendetwas sagte mir, dass jetzt alles gut werden würde, auch wenn ich unser Glück immer noch nicht recht glauben konnte. Ich hätte ihm vor Erleichterung die Füße küssen können.
Plötzlich verrutschte Jonas' Lächeln jedoch und er schaute erschrocken irgendetwas oder irgendjemanden hinter mir an. Hastig drehte ich mich um, alle Muskeln wieder angespannt, bereit, aufzuspringen.
Zum Glück war es jedoch nur Hanna, und mir wurde auf eine merkwürdige Weise warm, als ich realisierte, dass sie uns doch nicht im Stich gelassen hatte. Wobei „nur Hanna“ in diesem Fall untertrieben war - „nur Hanna“ hielt nämlich eine Pistole fest in beiden Händen und richtete den Lauf genau auf Jonas. Sie musste mir die Waffe in dem ganzen Tumult bei unserer Flucht entwendet haben, ich hatte ihren Verlust noch gar nicht bemerkt.
„Nicht, Hanna!“ Bevor sie einen großen Fehler machen konnte, sprang ich schnell auf und stellte mich zwischen sie und meinen alten Kindheitsfreund, mit dem Gesicht zu Hanna. Ihr Gesicht war eine starre Maske, ihre Arme schwankten nicht das kleinste bisschen, doch ihr schneller Atem verriet, dass sie alles andere als die Ruhe in Person war. Hatte ich genauso ausgesehen, als ich den Tod von Stefan hatte rächen wollen?
„Was soll das, Eric?“, fragte sie, „Geh zur Seite!“
„Nein. Hanna, wir kennen uns – ich weiß, das klingt verrückt, aber er ist nur hier, um uns zu helfen! Glaube ich zumindest“, fügte ich hinzu, als ich mich plötzlich fragte, ob Jonas tatsächlich aus diesem Grund hier war, oder aus einem anderen. Aber warum wäre er dann allein?
„Genau!“, bekräftigte Jonas. Er klang aufgebracht und seine Stimme war höher als sonst. Er hatte noch nie gut mit Auseinandersetzungen außerhalb seiner sicheren vier Wände umgehen können. „Nicht schießen! Ich bin ein Freund, kein Feind!“
Das klang so blöd, dass ich beinahe die Augen verdreht hätte, doch stattdessen versuchte ich, Hanna mit meinem Blick festzuhalten und weich zu kochen. Doch sie hielt ihm stand und ihre bläulich-grauen Augen wurden schmal. Kurz zuckte mir der dümmste Gedanke durch den Kopf, den man in so einer Situation haben konnte: Hanna hatte verdammt schöne Augen. „Was soll das heißen, ihr seid Freunde?“, fragte sie drohend, „Seit wann hast du dich denn mit den Vampiren verbündet?“
Oh-oh. Nein, jetzt war wirklich ein ungeeigneter Moment, über die Schönheit von Augen nachzudenken. Besonders die Augen von einem Mädchen, das gerade eine Waffe auf mich richtete. „Ich hab mich nicht mit ihnen verbündet – es ist eher so, dass Jonas sich mit mir verbündet hat. Als wir jünger waren, hat er mir oft geholfen... aber kann ich dir vielleicht wann anders davon erzählen? Ich bin gerade echt nicht in Erzähllaune“, erklärte ich.
Doch Hanna war hartnäckig. „Ist doch beides dasselbe! Und warum sollte sich ein Vampir dir helfen wollen? Verdammt, was verheimlichst du mir, Eric? Ich hab dir die ganze Zeit vertraut, und du...“ Sie kniff die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen und packte die Pistole fester. Für eine Schreckenssekunde glaubte ich schon, dass sie mich erschießen würde. „Ich meine, wir alle haben dir vertraut!“
„Und ich hab dieses Vertrauen auch bisher nicht gebrochen, oder? Jonas und ich hatten seit Jahren keine Kontakt mehr! Wir waren als Kinder befreundet, aber als unsere Eltern das herausgefunden haben, haben sie uns verboten, uns zu treffen. Natürlich haben wir es trotzdem weiterhin heimlich getan, aber irgendwann ist Jonas' Familie in einen anderen Stadtteil gezogen und seitdem haben wir uns nicht mehr gesehen. Verdammt, wir waren damals Kinder!“ Doch Hanna sah immer noch nicht überzeugt aus. Ich stieß ein frustriertes Schnauben aus. „Weißt du was? Ich dachte bisher echt, dass du anders bist. Dass du mich nicht dafür verurteilst, mit jemandem von der OE befreundet zu sein. Ja, jemand von der OE, kein sogenannter Vampir! Das sind nämlich auch alles nur Menschen, und du kannst sie nicht alle über einen Kamm scheren! Aber schön, wenn du wirklich so ignorant bist, dann erschieß mich doch!“ Auffordernd breitete ich die Arme aus, wohlwissend, dass Hanna niemals so weit gehen würde. Zumindest hoffte ich das.
Jonas schnappte hinter mir voller Entsetzen nach Luft. Er klang, als wäre er kurz davor, zu hyperventilieren, aber immerhin wagte er es nicht, etwas zu sagen. In Hannas (immer noch wunderschönen) Augen flackerte zum ersten Mal Unsicherheit auf. Dann ließ sie, ganz langsam, die Pistole sinken, bis sie ihr mit einem dumpfen Geräusch vor die Füße fiel. Auch Hannas Kopf und Schultern sackten nach vorne. „Tut mir leid“, sagte sie kaum hörbar.
Ich atmete erleichtert aus und merkte jetzt erst, dass ich die Luft angehalten hatte. „Schon okay, die meisten hätten wohl nicht anders reagiert“, murmelte ich und rieb mir den Nacken, den Blick auf einen unbestimmten Punkt auf dem Boden gerichtet. Aus irgendeinem Grund konnte ich Hanna nicht mehr anschauen. „Ich erklär dir das alles wann anders nochmal genauer, wenn wir beide nicht so gestresst und übermüdet sind, okay?“
Sie nickte stumm. Sie sah plötzlich klein und zerbrechlich aus und überhaupt nicht mehr gefährlich. Eine komplette 180-Grad-Drehung von der Hanna, der ich eben gegenüber gestanden hatte. Zögerlich streckte ich eine Hand nach ihr aus, und als sie nicht zurückschreckte, sondern sich mir sogar leicht entgegen lehnte, zog ich sie in eine Umarmung.
Jonas atmete hörbar einmal tief durch. „Oh Mann, oh Mann... Puh...“, sagte er mit zittriger Stimme, „Ihr macht mich jetzt schon fertig, wisst ihr das?“
Widerstrebend löste ich mich halb aus der Umarmung, weit genug, um mich zu Jonas umdrehen zu können. Einen Arm ließ ich um Hannas schmale Schultern geschlungen, und sie protestierte nicht. Entschuldigend lächelte ich Jonas zu, der an der Motorhaube seines schwarzen Mittelklassewagens lehnte und sich mit dem Ärmel seiner schwarzen Robe über die Stirn wischte. „Tut mir leid“, sagte ich, „Wir sind beide ziemlich fix und fertig.“
Jonas lachte nervös auf. „Das merk ich. Ach ja...“ Er deutete mit dem Daumen auf die leblose Gestalt von Tobias, die vor dem Auto lag. „Was ist eigentlich mit dem da? Ist der... na ja... tot oder lebendig?“, fragte er voller Unbehagen.
„Der da hat auch einen Namen“, knurrte Tobias. Erschrocken stolperte Jonas von ihm weg, wobei er fast hinfiel.
Ich konnte nicht anders – ich prustete los. All der angestaute Stress löste sich in einem brüllenden Lachanfall, mit dem ich gar nicht wieder aufhören konnte. „Aber... er muss trotzdem... Krankenhaus...“, stieß ich kichernd hervor, als wäre dies das Lustigste, was jemals ein Mensch von sich gegeben hatte, und hielt mir den Bauch.
„Sehr witzig“, murrte Jonas und begann, Tobias auf die Rückbank zu schleifen, der jedes Mal kaum hörbar fluchte, wenn eine seiner Wunden dabei belastet wurde. „Steigt erstmal ein und dann sehen wir weiter. Einer von euch neben mich, der andere quetscht sich noch auf die Rückbank. Oh, und Eric, wenn du die nächsten Stunden nicht aufhörst zu lachen, muss ich dich leider knebeln.“
„Sorry... kann... nicht... aufhören...“, kicherte ich atemlos, bevor ich wieder losprustete. Ich kletterte auf den Beifahrersitz und Hanna ließ sich neben Tobias auf die Rückbank fallen.
Jonas seufzte, als er sich auf den Fahrersitz schwang. „Na, das kann ja heiter werden.“


6.1 Satinca

Ich schaute nur kurz auf, als Sara ihrem Cousin die Tür öffnete. Sie begrüßte ihn mit einer Umarmung, ich gab nur ein knappes „Hallo Simon, wie schön, dass du nicht dran gedacht hast, den Hintereingang zu benutzen.“ Ich hatte ihm nun schon tausendmal eingebläut, dass er nicht durch die Haupteingangstür kommen sollte, weil sonst jeder Hanswurst von der belebten Straße vor der Tür hereinschauen konnte. Und es wäre nicht gut, wenn dieser Hanswurst mich hier sehen würde. Offiziell hatte ich mich nämlich bei mir zuhause verschanzt, während ich inoffiziell hier in Simons Haus Unterschlupf gesucht hatte. Seit gestern war ich mir ziemlich sicher, von der OE beschattet zu werden. Genau genommen, seit ich Ash zu seiner Wohnung begleitet hatte. Also war mir nichts Anderes übrig geblieben, als vor Big Brother zu fliehen.
„Dir auch einen schönen guten Tag, Satinca!“, gab Simon augenrollend zurück.
Ich lachte trocken auf. „Schöner, guter Tag? In welchem Universum lebst du denn?“
„Und was ist dir über die Leber gelaufen? Du sagst doch immer, man soll positiv denken. Übrigens glaube ich, dass es auffälliger wäre, wenn ich mich durch den Hintereingang hereinschleiche, als wenn ich ganz normal durch den Haupteingang komme.“ Die Treppenstufen knarrten, als er in den ersten Stock ging, um seine Unitasche in seinem Zimmer zu verstauen. Simons Haus war ziemlich groß – der Hauptgrund, warum ich und ein paar weitere Mitarbeiter der Verbotenen Zeitung uns hier einquartiert hatten, obwohl Simon praktisch noch ein Neuling war und sich noch nicht erwiesen hatte, ob wir ihm trauen konnten. Der Gedanke, dass er ein ganzes Haus voller Leute hatte, nach denen die OE bestimmt schon suchte, und wie viel Geld er bekommen würde, wenn er uns an die OE verriet, bereitete mir Tag und Nacht Kopfschmerzen. Ein Glück, dass Geld etwas war, das Simon dank seiner reichen Familie sowieso schon im Überfluss hatte.
Missmutig kniff ich die Lippen zu einem Strich zusammen und konzentrierte mich wieder auf meine Arbeit, die auf dem großen, runden Esstisch vor mir lag: Die neueste Ausgabe der Verbotenen Zeitung von Hand zusammentackern. Als ob ich mit meiner Zeit nichts Besseres anfangen könnte! Wenigstens musste ich es nicht allein machen: rund um den Tisch saßen noch einige weitere Mitarbeiter, die wie ich emsig am Basteln waren. Mir gegenüber saß Sara, die ihrem Cousin mit einer Mischung aus Stolz, Sorge und Zuneigung hinterher schaute. Kurz trafen sich unsere Blicke, sie wich meinem jedoch schnell wieder aus und widmete sich mit nahezu unnatürlicher Konzentration wieder ihrer Arbeit. Ich unterdrückte ein Seufzen. Klar, Sara stand auf seiner Seite, was hätte ich auch anderes erwarten sollen?
Es wurmte mich, dass ich plötzlich auf Simon angewiesen war. Dass ich auf irgendjemanden angewiesen war. Ich mochte es nicht, nicht Herrin meines Lebens zu sein (zumindest im Rahmen der Möglichkeiten, die man hier hatte). Ich hasste es, für unbestimmte Zeit nicht mehr in meiner eigenen Wohnung wohnen zu können. Denn so schäbig sie auch sein mochte, sie gehörte immerhin mir ganz allein, und ich hatte dort das Sagen. Hier war ich mir dessen nicht mehr so sicher, denn obwohl ich ja eigentlich die Vorsitzende der Zeitungsredaktion war, war ich hier nicht die Hausherrin. Ich sah mich selbst gern als Anführerin einer Protestbewegung, und ich glaube, die meisten Mitarbeiter sahen mich genauso, aber im Moment musste ich mir meinen Anführerposten in gewissen Dingen mit Simon teilen, und das war mehr als ärgerlich.
„Wie war die Uni?“, brach Sara die unangenehme Stille, die sich wie eine kratzige Wolldecke über den Tisch gesenkt hatte, als ihr Cousin lässig wieder die Treppe herunter kam. Er hatte die silberne Einheitskleidung der Uni gegen eine schwarze Jogginghose und ein eng anliegendes graues T-Shirt getauscht, bei dem er noch etwas den Saum glattstrich, bevor er sich scheinbar unbewusst durch sein kinnlanges Haar fuhr und die sorgsam gekämmte Frisur somit zerstörte. Wären hier nicht alle durch den Nebel der OE so gefühls-abgetötet, lägen ihm schon jetzt alle weiblichen Mitglieder der Zeitung sabbernd zu Füßen, dachte ich grimmig. So lag ihm wenigstens nur Sara zu Füßen. Ich verstand echt nicht, was sie an ihm fand – was irgendwer an ihm fand. Oder ganz allgemein, was man an Männern finden konnte.
„Geht so“, sagte er und zog sich einen Stuhl heran, um sich neben seine Cousine zu setzen. „Ein Professor hatte fast einen Herzinfarkt, als er gesehen hat, dass ich mal wieder da bin. Ich wurde gefeiert wie ein vom Tode wiederauferstandener Held“, grinste er. Oh bitte.
„Das kann ich mir vorstellen“, sagte ich jedoch nur trocken, ohne mir anmerken zu lassen, was ich von seiner momentanen Selbstinszenierung hielt. Dieser Junge war definitiv zu eitel. „Es würde mich wundern, wenn am Ende des Semesters die Hälfte deiner Kommilitonen deinen Namen wissen.“ Wahrscheinlich schon, gerade WEIL er so oft fehlte. Die meisten hielten ihn bestimmt für einen komischen Vogel, weil er so selten kam. Er studierte auch eigentlich nur, um irgendwas zu machen und nebenbei bei der Zeitung arbeiten zu können. Wobei ich manchmal fürchtete, dass es auffälliger war, wenn er beim Studium ständig fehlte, als wenn er offiziell arbeitslos. Vielleicht wollte er sich auch einfach nur seine Eltern vom Hals halten. Und immerhin waren seine Noten in der Uni immer gut – intelligent war er, das musste man ihm lassen – weshalb die meisten wohl glaubten, dass er einfach die ganze Zeit zuhause lernte.
Simon grinste. „Das kannst du laut sagen. - So, was müssen wir hier jetzt machen? Ich raff das immer noch nicht so ganz.“ Er ließ sich von Sara (zum abertausendsten Mal) erklären, wie die Zeitungen zu tackern waren, und machte sich ans Werk. Mir wäre es ja lieber, er würde einfach die Finger davon lassen. Simon war ein Kopf-Mensch – in handwerklichen Dingen überhaupt nicht begabt.
„Hast du Ash getroffen?“, fragte ich, um ihn wieder zum Reden zu bringen und damit vom Basteln abzuhalten.
Leider schien er der Ansicht zu sein, dass er multitaskingfähig war, denn er tackerte munter weiter, während er erzählte: „Ja, in der Kantine. Wir studieren ja nicht dasselbe, aber in der Kantine sitzen wir immer in derselben Ecke. Deshalb kennen wir uns ja schon eine Weile vom Sehen. Witzig, oder?“ Er stirnrunzelte auf das Papier in seinen Händen hinunter und ich schaute lieber gar nicht so genau hin, was er da gerade fabrizierte. „Er war aber ziemlich wortkarg“, fuhr er fort, „Na ja, wahrscheinlich, weil wir mitten in der Uni waren, da konnten wir ja nichts Wichtiges besprechen. Aber ich weiß noch nicht wirklich, was ich von ihm halten soll.“
Ich verbiss mir ein Lächeln. Gut so. Ash und ich hatten gestern Abend ein wenig gesimst und ich hatte ihm eindringlich geschrieben, jedem erstmal von Grund auf zu misstrauen und lieber Dinge für sich zu behalten, als sie anderen zu erzählen, besonders so unsicheren Kandidaten wie Simon und Sara. Auch, als er mir per SMS ganze Romane schreiben wollte, hatte ich ihm erklärt, dass auch alle Nachrichtendienste von der OE höchstwahrscheinlich ausgespäht und abgehört werden konnten, weshalb er unser Gespräch am besten sofort wieder löschen sollte – und mir wichtige Dinge besser persönlich sagte. Und Simon hatte Ash heute in der Uni seine Adresse gegeben, damit er auch wusste, wo er mich – und alle anderen – antreffen konnte.
Es juckte mir in den Fingern, nein, eigentlich überall, mich endlich wieder mit Ash auszutauschen. Er war ein unglaublich interessanter Sonderfall, und wenn irgendjemand den Menschen Hoffnung geben und die Revolution vorantreiben konnte, dann er. Leider schien er ziemlich naiv und emotional instabil zu sein. Ein Sensibelchen, das zu viel Empathie hatte, als es für den Optimismus gesund war. Und seinen ungewöhnlichen Optimismus musste er unbedingt erhalten, doch das würde ein harter Kampf werden, je mehr seine Naivität vom Alltag abgetötet wurde.
Ich hatte Großes mit ihm vor. Mit Ash als Vorzeige-Idol würde ich die Revolution anführen, die Namenlos schon so lange nötig hatte – alle würden zu ihm aufschauen und ihn als Anführer sehen, ohne zu realisieren, dass ich diejenige war, die ihn anleitete. Er würde im Fokus stehen, alle Liebe und allen Hass abbekommen, und ich würde mich zurücklehnen können, weil alle mich als soziale, selbstlose, aufopferungsvolle und mutige Mama des Widerstands sahen, welche die Gruppe zusammenhielt. Es war beinahe perfekt, wie mir das Schicksal in die Hände gespielt hatte. Ich hoffte nur, dass Ash dafür stark genug war.
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BeitragThema: 6. Ewiges Feuer (zweiter Teil)   Die Stadt Namenlos EmptyFr Okt 11, 2013 12:13 am

Und endlich geht's weiter!! Very Happy
Muss... regelmäßiger... schreiben... !!!
Rolling Eyes 

6.2 Ash

Hätte ich es nicht besser gewusst, hätte ich wohl befürchtet, dass ich langsam aber sicher farbenblind wurde. Dies war zwar sicherlich nicht der Fall, aber der wahre Grund dafür, dass meine Augenfarbe immer mehr verblasste und sich einem Grau-Grün annäherte, war auch nicht besonders beruhigend.
Ich wandte mich von meinem Spiegelbild ab und konzentrierte mich stattdessen darauf, den Fußboden mit dem Staubsauger zu bearbeiten. Das arme alte Teil klapperte und röchelte, als ob es jeden Moment den Geist aufgeben würde. Kein Wunder, dass ich, nach der Menge an Staub und Fusseln auf dem Boden zu urteilen, anscheinend seit ein paar Monaten keine Lust gehabt hatte, staubzusaugen. Mit diesem Zombie von einem Staubsauger machte das ja auch keinen Spaß.
Doch nachdem ich heute stundenlang in der Uni gesessen hatte, tat es gut, sich mal etwas zu bewegen und etwas Produktives zu tun. Ich studierte Mathematik, war das zu fassen? Ich hätte nie gedacht, dass ich mathematisch begabt war, doch zu meiner eigenen Überraschung verstand ich alles erstaunlich gut. Es war jedoch gähnend langweilig gewesen und ich hatte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, mit meiner Zeit Besseres anfangen zu können.
Zum Beispiel, die Wohnung aufzuräumen und zu putzen. Vielleicht wurde es dann ja mal etwas wohnlicher hier. Und natürlich hoffte ich auch, dabei weitere Hinweise auf mein bisheriges Leben zu finden, die mir halfen, meine Erinnerungen wiederzubeleben. Ich hatte bereits Adresslisten gefunden, ein Gitarre, Fotoalben, eine CD-Sammlung und ein paar Kreide- und Wasserfarben-Bilder, teils auf Papier, teils auf Leinwand gemalt. Das war doch schon mal alles ganz interessant.
Nachdem ich das Spiegelzimmer fertig gesaugt hatte – wobei ich es vermied, in die Spiegel zu schauen, da der Anblick meiner verblassenden Augen meine kribbelnde innere Unruhe nur noch mehr verstärkte – ging ich ins Schlafzimmer, um mich meinen Funden zu widmen. Jetzt, wo die ganze Wohnung sauber war, konnte ich mich gleich etwas besser entspannen.
Die Bilder waren schnell durchgeblättert. Manchmal stand ein Datum darauf, eine Signatur oder ein paar Worte, die das Abgebildete beschrieben. Sie zeigten die unterschiedlichsten Dinge: Eine skizzierte Winterlandschaft, die detaillierte Malerei einer Katze oder Porträts und Selbstporträts. Eins hatten sie aber gemeinsam: Sie alle strahlten eine gewisse Melancholie aus. Aber was hatte ich schon anderes erwartet?
Auf einem der Porträts stand auf der Rückseite Eric, der Name meines Bruders. Ich stutze und besah mir das Bild noch einmal genauer. Es war sehr naturalistisch mit Bleistift gezeichnet und zeigte einen Teenager, der den Betrachter leicht anlächelte. Auf den ersten Blick sah er mir überhaupt nicht ähnlich, doch je länger ich das Bild betrachtete, umso mehr Ähnlichkeiten entdeckte ich. Seine Haare schienen etwas heller zu sein als meine, vielleicht dunkelblond, und fielen ihm in langen Strähnen schräg in die Stirn. Ich horchte in mich hinein, doch in meinem Unterbewusstsein regte sich nichts. Kein Wiedererkennen, keine Erinnerung. Enttäuscht seufzte ich in mich hinein und legte die Bilder beiseite. Immerhin hatte ich nun eine Vorstellung davon, wie mein verschollener Bruder aussah, und ich hoffte, dass ich ihn erkennen würde, wenn wir uns jemals wiedersahen.
Es juckte mir in den Fingern, in meinem Tagebuch nachzuforschen, ob ich schon irgendwelche Anhaltspunkte hatte, wo Eric gerade stecken könnte. Doch eins nach dem anderen.
Als nächstes nahm ich mir die CDs vor. Musik war häufig mit Erinnerungen verknüpft, und ich hoffte inständig, dass sie mir helfen würde, mein Leben zu rekonstruieren. Auf einem CD-Cover war derselbe stilisierte keltische Knoten abgebildet, den auch mein Handy-Hintergrund zierte, mit dem eingeflochtenen NDD. New Dark Destiny, der Name der Band also. Damit würde ich anfangen.
Ich legte die CD in die Musikanlage ein, die in einem schmalen Wandregal neben der Schlafzimmertür stand, und ließ mich mit der Musik beschallen, während ich in den Fotoalben blätterte. Wie das schwarz-lastige Cover versprach, war es ziemliche Grufti-Musik. Manchmal geradezu aggressiv mit Screamo, manchmal ruhig und so tieftraurig, dass man es schon als düsteren Kitsch beschreiben konnte. Die meisten Songs klangen gar nicht so schlecht, machten aber auf die Dauer ziemlich miese Laune. Ein paarmal stutzte ich und schloss stirnrunzelnd die Augen, wenn ein Song an der Panzertür kratzte, hinter der meine Erinnerungen weggeschlossen waren. Ich versuchte, diese Tür aufzustemmen, mich in die Stimmungen und Atmosphären fallen zu lassen, die von der Musik hervorgerufen wurden. Es kam dem Versuch gleich, sich an einen vergessenen Traum erinnern zu wollen: Manchmal hatte ich für Sekundenbruchteile bestimmte Bilder vor den Augen, die ich aber nicht zuordnen konnte. Es war zum Haare ausreißen.
Die Fotoalben waren da schon etwas hilfreicher. Sie zeigten Eric und mich als Kinder auf einem Spielplatz, Eric und mich beim Schnee schippen, Eric und mich beim Umzug in diese Wohnung... überhaupt schien es uns fast nur im Doppelpack zu geben. Die wenigen Bilder, auf denen ich allein zu sehen war, zeigten mich mit meiner Gitarre und ein paar anderen musizierenden Leuten auf einer Bühne – ich spielte also in einer Band? Interessant! - oder mich am Steuer eines silbernen Kleinwagens, was mit der Überschrift „Unser erstes eigenes Auto!“ betitelt war. Das Foto war noch nicht alt und ich fragte mich, ob das Auto noch irgendwo da draußen parkte. Das würde einiges erleichtern, wenn ich nicht nur auf meine eigenen Füße und die öffentlichen Verkehrsmittel angewiesen war, sondern einen eigenen fahrbaren Untersatz hatte.
Auf ein paar Fotos waren auch ein Mann und eine Frau zu sehen, wahrscheinlich unsere Eltern. Ich fragte mich, wo die beiden steckten. Ebenso stellte sich mir allmählich die Frage, wie um alles in der Welt ich Geld verdiente. Wer bezahlte denn die Wohnung, das Auto, mein Studium, die Handygebühren, all das? Ich hatte bisher noch keine Spur von meinen Eltern gefunden, und irgendetwas sagte mir auch, dass Eric und ich keine besonders herzliche Beziehung mit ihnen hatten. Die eher mürrischen Blicke der beiden auf den Fotos bestätigten dies, wobei es mich auch nicht gewundert hätte, wenn hier alle Eltern ihre Kinder so überaus glücklich anschauten.
Auch auf der (ziemlich kurzen) Adressliste waren meine Eltern nicht zu finden. Die Namen kamen mir alle nicht bekannt vor, außer Henri, mein Mitstudent (der mir heute in der Uni übrigens ziemlich die Hölle heiß gemacht hatte, weil ich gestern zu unserem geplanten Referat nicht erschienen war. Ich konnte ihn nicht leiden und hätte ihm am liebsten gesagt, dass er seine Referate von nun an alleine machen konnte). Ganz unten stand „Omi“ mit einem Herz davor gekritzelt. Ich traute meinen Augen kaum. Ein HERZ?! Hatte ich an dem Tag Drogen genommen, oder wie war ich, Depri-Grufti vom Dienst, auf die Idee gekommen, ein HERZ auf die Adressliste zu kritzeln? Noch davor vor den Namen meiner Oma!
Ich konnte über mein damaliges Ich nur den Kopf schütteln. Dann schaltete ich die Musik aus. Das war ja nicht zum Aushalten. Meine Erinnerungen waren und blieben verschwunden, die Musik war zum Kotzen, und überhaupt fühlte ich mich gerade ziemlich frustriert, träge und lustlos.
Ich verwandelte mich wieder in mein früheres Ich.
Diese Erkenntnis traf mich wie ein Schock. Wie von der Tarantel gestochen griff ich nach meinem Handy, das in der Hosentasche meiner schwarzen Skinny Jeans steckte, und schickte Satinca eine SMS. Kann ich heute bei euch vorbei kommen? Ich hatte ja ihre neue Adresse, und ein bisschen Gesellschaft hatte ich gerade echt bitter nötig, sonst würde ich hier noch im Rekordtempo versauern. Echt unglaublich, wie schnell man psychisch wieder abrutschen konnte.
Während ich auf Satincas Antwort wartete, verstaute ich den Fundus, den ich auf dem Schlafzimmerboden ausgebreitet hatte, in den Wandschränken im Spiegelzimmer. Ich schloss die verspiegelte Schranktür und musterte prüfend die Augenfarbe meines Spiegelbilds. Täuschte ich mich oder war der Farbton schon wieder etwas mehr verblasst?
Ich riss mich los und marschierte entschlossenen Schrittes zurück ins Schlafzimmer. Schluss damit! Ich konnte doch nicht alle paar Minuten in den Spiegel schauen und die Farbnouancen meiner Augen überprüfen! Das war doch krank!
Ich ließ mich aufs Bett plumpsen und schnappte mir die Gitarre, die ich als einziges noch hier im Zimmer gelassen hatte. Während ich auf Satincas Antwort wartete, klimperte ich ein bisschen darauf herum. Ich war erstaunt, wie gut es mir von der Hand ging. Ich hatte natürlich auch Notenblätter gefunden, aber weil die Songs alle solche Titel hatten wie „Bloody Lullaby“ oder „Flowers of the Death“, hatte ich sie gleich wieder beiseite gelegt. Da dachte ich mir lieber selbst Melodien aus.
Ich war so vertieft in mein Spiel, dass ich zusammenzuckte und einen furchtbar schrägen Ton spielte, als mein Handy vibrierte. Oh Mann, ich war seit gestern Abend ganz schön schreckhaft! Lag bestimmt an meiner Paranoia, die zwar nachgelassen, aber immer noch nicht ganz verschwunden war.
Satinca hatte mir geantwortet. Heute nicht. Lieber morgen. Bis dann, bleib auf der Hut. Na danke. Gerade, wenn ich glaubte, dass mein Verfolgungswahn langsam nachließ, kam so eine Warnung. Ich seufzte enttäuscht. Satinca wollte bestimmt nicht, dass ich heute vorbei kam, weil die Chancen gut standen, dass ich immer noch von der OE beobachtet wurde. Ich hatte jedoch heute kein einziges Mal eine verdächtige Gestalt gesehen. Aber na gut, Satinca war die Chefin.
Ich spielte noch ein paar Akkorde und überlegte, was ich nun mit dem angebrochenen Abend anfangen sollte. Alleine wollte ich ihn eigentlich nicht verbringen. Ich schaute auf die blank polierte, glänzende Gitarre hinunter und hatte eine Idee. Ich würde einfach eine kleine Hausparty veranstalten und all meine Kommilitonen einladen, von denen ich die Handynummer hatte. Dann würde ich diese langen Gesichter mal ein bisschen auf Trab bringen! Ich schnappte mein Handy und musste grinsen, als ich die Nachricht tippte: WICHTIG! Vergesst nicht unseren heutigen Lernabend. Treffen um 20 Uhr bei mir. Bringt alle Unterlagen aus dem letzten Semester mit!
So, da würde jetzt bestimmt niemand wagen, abzusagen. Mit einem selbstzufriedenen Grinsen verschickte ich die SMS und stand dann auf, um noch etwas zu essen und ein wenig für die Party vorzubereiten. Mein Kühlschrank war jedoch ziemlich leer, und Alkohol hatte ich auch kaum im Haus. Aber ich hatte ja noch mehr als zwei Stunden Zeit bis zum Beginn des „Lernabends“. Also machte ich mir ein schnelles Sandwich, schnappte mir einen großen Einkaufsbeutel und mein Portemonnaie, und verließ kauend die Wohnung.
Wäre doch gelacht, wenn ich nicht mit meiner Gitarre für ein bisschen gute Stimmung sorgen könnte, dachte ich und trat hinaus in die Nacht.


6.3 Jonas

Ich gähnte und rieb mir die Augen. Letzte Nacht war echt anstrengend gewesen. Erst die Rettungsaktion von Eric und seinen zwei Freunden, die ich in dem leer stehenden, ländlichen Ferienhaus meiner Eltern untergebracht hatte, dann hatte ich den Verletzten möglichst unauffällig in ein Krankenhaus schmuggeln müssen, und dann, als ich endlich nach Hause gekommen war, hatte ich auch noch mit meinen Eltern diskutieren müssen, wo ich denn so lange gesteckt hatte. Ich hatte irgendetwas von einem Mädchen gemurmelt und schließlich hatten sie mich auf mein Zimmer gelassen, jedoch mit der Warnung, nicht noch einmal so spät nach Hause zu kommen.
Ich konnte nie besonders gut schlafen und war es gewohnt, jede Nacht nur um die fünf Stunden Schlaf zu bekommen, aber letzte Nacht hatte ich absolut kein Auge zugetan. Ständig waren Gedanken und Sorgen in meinem Kopf gekreist – waren Eric und das Mädchen in dem Ferienhaus sicher? Und ihr Freund im Krankenhaus? Hatte ich wirklich das Richtige getan, war ich vorsichtig genug gewesen? Was, wenn die OE mir auf die Spur kam? Ich bereute nicht, einem Freund geholfen zu haben, aber ich war es nicht gewohnt, Regeln zu brechen, und daher hielt mich diese Aufregung die ganze Nacht lang wach.
Die Bürotür schwang auf und Ian trat mit zwei dampfenden Kaffee-Bechern ein. Ich gähnte zur Begrüßung.
„Du siehst aus, als ob du ein bisschen Koffein gebrauchen könntest“, stellte Ian fest und stellte vorsichtig einen Pappbecher neben meinem Computer ab. „Du solltest dir echt mal angewöhnen, mehr zu schlafen“, riet er mir. Sein Drehstuhl quietschte, als er sich darauf sinken ließ und geräuschvoll seinen Kaffee schlürfte.
Ich zuckte nur mit den Schultern. „Mag sein, dass ich oft übermüdet aussehe, aber ich brauch einfach nicht so viel Schlaf. Nur letzte Nacht war ein bisschen zu wenig, sogar für mich.“
„Ach ja? Was hat dich denn wach gehalten?“
Es war eine harmlose Frage, doch ich fühlte mich sofort ertappt und nahm schnell einen Schluck Kaffee, an dem ich mich fast verschluckte. „Ich hatte ein bisschen Zoff mit meinen Eltern. Das Übliche“, erklärte ich vage.
Ian verzog mitfühlend das Gesicht. Zwar war er mit seinen 17 Jahren nur ein Jahr älter als ich, er wohnte jedoch schon allein, weil auch er sich mit seinen Eltern seit der Pubertät ständig in den Haaren hatte. „Mann, ist ja nervig. Aber sie lassen dich doch noch feiern gehen, oder?“
„Bestimmt. Du weißt doch, heute ist unser Glückstag, den werden mir meine Eltern bestimmt nicht versauen“, grinste ich.
Er grinste zurück. „Stimmt.“
Die Verteilung der Glücksrationen fand alle zwei Wochen statt, und an diesem Tag fanden überall in der Innenstadt und in den Wohnvierteln der OE große Parties statt. Natürlich war von der gemeinen Bevölkerung niemand eingeladen, wahrscheinlich wussten die meisten normalen Bürger gar nicht, dass diese Parties überhaupt existierten. Für uns war es jedoch immer ein Festtag – oder auch Glückstag, wie Ian und ich ihn nannten. Wir zwei gehörten zu denen, die einen Großteil ihrer Glücksration schon am Tag der Ausgabe verbrauchten, oder spätestens in den darauf folgenden Tagen, an denen auch noch Parties stattfanden. Ich nahm mir jedes Mal vor, diesmal nicht so verschwenderisch zu sein, aber ich wusste schon, dass ich mich auch heute nicht zurückhalten konnte.
Ich gähnte erneut und Ian warnte mich: „Hey, wenn du heute Abend auf der Party einpennst, schlepp ich dich aber nicht nach Hause. Ich hab da Besseres zu tun.“
„Danke, du bist ein wahrer Freund. Sag mal, apropos Freund... hast du Lux heute schon gesehen?“
Ian runzelte die Stirn. „Nein, jetzt wo du es erwähnst... hab ich noch nicht. Komisch.“
„Hätte ich mir denken können“, murmelte ich. Es war nicht so, dass Ian Lux aus dem Weg ging, aber... doch, eigentlich war es so. Ian war sehr bodenständig und fühlte sich in der Gegenwart der „oberen Zehntausend“ der OE nicht besonders wohl. Er fand sie alle merkwürdig und abgehoben. Lux ganz besonders.
„Na gut, wie steht's mit Tom?“, seufzte ich.
Verwirrt schaute Ian von seinem Computer auf und blickte mich über den Rand seines Kaffee-Bechers an. „Was soll mit ihm sein?“
„Na, hast du ihn heute schon gesehen?“
„Ja, aber nur kurz, heute morgen. Er ist wegen seiner Kopfverletzung heute nicht auf Streife gegangen. Wahrscheinlich stromert er hier irgendwo herum und terrorisiert alle Mitarbeiter, die unter ihm stehen.“ Er runzelte die Stirn. „Wieso suchst du ihn denn?“
„Ich wollte ihn nur was fragen... Ich geh ihn mal suchen“, entschied ich und erhob mich von meinem Stuhl.
„Oh... okay, dann bis später“, sagte Ian nur verwundert und schaute mir fragend hinterher, als ich das kleine Büro verließ. Ich musste mir noch irgendeine Ausrede überlegen, die ich Ian nachher auftischen konnte, warum ich so dringend mit Tom sprechen wollte. Ich schaute auf die Uhr und beschleunigte meine Schritte. Es war schon Abend, hoffentlich war Tom noch hier im Gebäude. Musste er ja eigentlich, denn in einer Stunde würde die Glücksausgabe stattfinden, und wer wollte die schon verpassen?
Ich hatte den ganzen Tag hin- und herüberlegt, ob ich es wirklich riskieren konnte, Tom einzuweihen. Auch jetzt war ich mir noch nicht sicher, ob dies eine gute Entscheidung war, und die Nervosität nagte an mir. Ich war heute in meiner Mittagspause noch einmal bei dem Ferienhaus vorbeigefahren, wo ich Eric und das Mädchen untergebracht hatte, um ihnen Essen zu bringen. Die beiden hatten noch geschlafen. Sie hatten so erschöpft ausgesehen, dass ich mich fragte, was sie alles durchgemacht hatten, und mein schlechtes Gewissen hatte sich verstärkt. Die beiden brauchten meine Hilfe, und ich durfte sie nicht im Stich lassen.
Ich wusste noch nicht genau, wie ich ihnen langfristig helfen konnte. Doch gestern Abend hatte Eric mich nach seinem Bruder gefragt, also war dies nun das Erste, was ich unternehmen würde: Ash Phoenix ausfindig machen. Und dafür brauchte ich Tom. Er ging ständig auf Streife, besaß Unmengen an Stadtplänen und Adresslisten, in denen er sich auch noch wunderbar zurechtfand, und wenn er das nächste Mal auf Streife ging, würde er Ash ganz unauffällig eine Nachricht überbringen können. Natürlich könnte ich auch selbst die Adresse recherchieren, aber das würde bei unserem riesigen Archiv Ewigkeiten dauern – erst recht, da dieser Teil des Archivs noch nicht in digitaler Form verfügbar war. Außerdem vertraute ich der Post nicht, und Ash persönlich einen Besuch abzustatten, war mir dann doch etwas zu riskant. Ich war nicht so risikofreudig wie Lux, dass ich mich ganz allein in der Stadt herumtreiben wollte. Diese Bevölkerung war unberechenbar.
Es lief also alles auf Tom hinaus. Vielleicht würde er ja sogar helfen wollen, sich zusammen mit mir, Eric und Ash eine Lösung zu überlegen, wie wir die beiden Brüder in Zukunft vor den harten Maßnahmen der OE schützen konnten.

Tom zu finden, erwies sich als nicht besonders schwierig – man musste einfach nur dem Gehör folgen. Kaum öffneten sich die Fahrstuhltüren zum ersten Stock, hörte ich schon im ganzen Gang sein Geschimpfe widerhallen. Es kam aus einem der Büros und klang ganz danach, dass er gerade einen Mitarbeiter zusammenfaltete. Typisch Tom, dieser Hitzkopf.
Ich klopfte an die Tür, auch wenn dies bei der Lautstärke von Toms Schimpftirade bestimmt niemand hörte, wartete kurz, und trat dann ein. Es war ein großes Büro, in dem sechs Mitarbeiter mit relativ kurzen schwarzen Mänteln und eingezogenen Köpfen an ihren kleinen Schreibtischen saßen, emsig in Aktenordnern blätterten und kritzelten, um bloß gut beschäftigt zu wirken. An einem der Schreibtische stand, wie ich vermutet hatte, Tom, und schimpfte mit hochrotem Kopf auf einen aschfahlen jungen Mitarbeiter ein, der sich immer wieder nervös die Brille zurecht rückte.
„Tom“, sagte ich. Er reagierte nicht, also packte ich seine Schulter und sagte noch einmal lauter: „Tom!“
„Siehst du nicht, dass ich gerade beschäf- ooooh, du bist's!“ Er hatte sich zu mir umgedreht und seine verkniffenen Gesichtszüge entspannten sich etwas. Kurz herrschte eine unangenehme Stille.
„Können wir kurz was besprechen?“, fragte ich.
Tom zuckte die Schultern und steckte die Hände in seine Manteltaschen. „Klar, schieß los.“
„Nicht hier.“ Vielsagend schaute ich mich in dem gut gefüllten Büro um, in dem es nun, abgesehen von dem Papiergeraschel und dem Kratzen der Kugelschreiber ziemlich still war. Der junge Mitarbeiter, der aus irgendeinem Grund Toms Zorn auf sich gezogen hatte, hatte den Kopf wie eine Schildkröte eingezogen und schaute mich hoffnungsvoll aus großen Augen an.
Genervt stieß Tom die Luft aus und stopfte eine rote Locke zurück in seine Kapuze, die es gewagt hatte, daraus hervor zu lugen. „Also schön.“ Er wandte sich noch einmal warnend an den Mitarbeiter. „Heute bist du nochmal davongekommen, Freundchen. Glück gehabt. Sei froh, dass ich heute in so guter Stimmung bin“, zischte er und der junge Mann wurde, wenn möglich, noch blasser. Er nickte hektisch.
„Komm.“ Tom zog mich nach draußen und lehnte sich in dem Gang neben ein Fenster. „Scheiß-Tag“, knurrte er und schaute sehnsüchtig nach draußen. „Ich wäre heute lieber auf Streife gegangen, weißt du. Ich fühl mich hier wie ein Tiger im Käfig.“
„Vermutlich wäre es auch für deinen Kopf besser gewesen. Weniger Aufregung und so“, murmelte ich und räusperte mich. „Du, Tom – kann ich dich um einen Gefallen bitten?“
„Bitten kannst du mich immer.“ Er grinste schief.
„Also gut.“ Ich holte Luft. Und beschloss in diesem Moment, dass ich Tom nicht die ganze Wahrheit erzählen würde. Aber lügen kam auch nicht infrage, darin war ich nicht gut. Außerdem würde ich Tom nur dann vertrauen können, wenn er auch mir vertrauen konnte. „Weißt du, ich sitze ein bisschen in der Klemme...“, begann ich, „Ich möchte jemandem einen Brief schicken, aber ich weiß seine Adresse nicht. Und der Post, na ja, der vertrau ich auch nicht wirklich. Also dachte ich, du könntest vielleicht den Brief überbringen? Du kennst dich ja in der Stadt prima aus, und bist da sowieso ständig unterwegs, also...“ Unsicher kaute ich auf meiner Lippe herum und zog dann kurzerhand den Brief aus meiner Manteltasche, den ich für Ash verfasst hatte.
Tom nahm ihn entgegen und studierte nachdenklich die Adresse, schaute skeptisch aus den Augenwinkeln zu mir. „Hm...“, machte er und ich fragte mich, ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen war. Hoffentlich wollte er nicht noch mehr Details wissen. Hoffentlich...
Er steckte den Umschlag in die Innentasche seines Mantels. „Also gut, weil du's bist. Aber ich hab was gut bei dir, klar?“ Er grinste und fügte hinzu: „Und erwarte nicht, dass ich das heute noch erledige. Heute ist feiern angesagt. Ich mach es morgen, okay?“
Mir fiel ein Stein vom Herzen und ich konnte nicht anders, als zurück zu lächeln. „Okay, aber nicht vergessen!“
Er reckte beide Daumen in die Höhe und zwinkerte mir zu. „Vertrau mir!“



6.4 Lux


Ich nieste dreimal hintereinander und fluchte innerlich. Verflixt und zugenäht, dieses Archiv war nicht nur schlecht beleuchtet und chaotisch, es war auch noch staubig! Kein Wunder, dass meine Eltern immer so verwundert dreinschauten, wenn ich als Ausrede „bin im Archiv“ angab. Bestimmt war ihnen schon längst klar, dass ich mich stattdessen wer weiß wo herumtrieb. Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, dass ich mich eines Tages wirklich bei funzeligem Licht durch zerfledderte Aktenordner wühlen würde. Und das den halben Tag lang! Es wurde wirklich Zeit, dass unser Archiv eingescannt und digital zugänglich gemacht wurde. Natürlich arbeiteten daran schon ein paar hundert Mitarbeiter, aber es dauerte... und ich hatte nicht vor, noch mehrere Jahre zu warten.
Lieber verbrachte ich den lieben langen Tagen in dieser staubigen unterirdischen Halle, in der es nach altem Papier roch.
Ich nieste erneut und die dünnen Seiten des Ordners, in dem ich gerade blätterte, flatterten durcheinander. Verflucht nochmal... Ich wollte gerade wieder genervt zurückblättern, als mir ein Name ins Auge sprang. Ash Phoenix. Dahinter stand eine genaue Ziffer, die angab, wo sich die Akte über ihn befand. Na, endlich! Triumphierend knallte ich den Aktenordner wieder zu, was eine Staubwolke aufwirbelte, und prompt musste ich fünfmal hintereinander niesen, bis meine Augen tränten. Verdammt nochmal. Eine Gestalt, die einige Meter von mir entfernt Aktenordner stapelte, konnte sich ein Grinsen jetzt nicht mehr verkneifen. Ja, haha, Lux Sombris hat eine Stauballergie, wie lustig. Lach du nur.
Ich verschwand in einen anderen Gang, wo ich ungestört nach der Nummer suchen konnte, unter der Ash eingeordnet war. Kurz schaute ich auf die Uhr – und bekam einen Schock. Schon so spät?! Na, immerhin hatte ich noch nicht die Glücksausgabe verpasst. Ich hätte nicht gedacht, dass Archivarbeit so viel Zeit fraß. Immerhin war ich jetzt schon seit der Mittagspause damit beschäftigt, nach den Namen zu suchen, die ich auf dem Klingelschild an dem Haus des mysteriösen Grünäugigen gesehen hatte. Einfacher wäre es natürlich gewesen, nach der Adresse zu suchen, aber in unserem dummen System war das ja nicht möglich. Dieses System hatte sich bestimmt jemand ausgedacht, der Sekretärinnen quälen wollte. Ja, heute spielte ich mal Sekretärin.
Auf jeden Fall hatte ich im untersten Stockwerk angefangen und war die Namen von unten nach oben durchgegangen, wobei es natürlich zu jedem Nachnamen viele Leute gab, die so hießen, was das ganze in die Länge zog. Und bei meinem Pech war bisher noch nicht der junge Mann dabei gewesen, nach dem ich suchte. Mittlerweile war ich beim letzten Namen im obersten Stockwerk angelangt, Phoenix, und zum Glück gab es nicht viele Leute mit diesem Namen. Wenn sich jetzt herausstellte, dass Ash Phoenix auch nicht derjenige war, nach dem sich suchte, dann hatte ich ein Problem. Denn das würde bedeuten, dass ich noch viele weitere Stunden mit Recherchieren verbringen müsste, und darauf hatte ich echt keine Lust.
Endlich hatte ich die richtige Ziffer gefunden und ich zog den Ordner aus dem Regal. Aus irgendeinem Grund begann mein Herz plötzlich, schneller zu schlagen, als ich den schwarzen Deckel aufklappte. Doch all meine Befürchtungen lösten sich in Luft auf, als ich das Passbild auf der ersten Seite sah und sofort erkannte ich den jungen Mann wieder, den ich gestern Abend (und auch kurz heute Vormittag) beschattet hatte.
Ich blätterte durch die Akte. Wow, ganz schön viele Seiten. Was zum Teufel wurde denn alles in solchen Akten abgeheftet? Das würde ich mir morgen mal in Ruhe durchlesen. Ich blätterte zur ersten Seite zurück und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf Ash. Ja, er war es wirklich, ich war mir sicher. Gestern Abend hatte ich ihn ja nicht wirklich zu Gesicht bekommen, nur aus der Ferne, und besonders gute Lichtverhältnisse hatten auch nicht geherrscht, aber heute war ich ihm auf dem Weg zur Uni gefolgt und hatte einen ziemlich guten Blick auf sein Gesicht erhascht – soweit das eben möglich war, ohne mich zu zeigen. Auf diesem abgedruckten Passfoto in schwarz-weiß sah er zwar aus wie ein Sträfling und schaute drein wie kurz vor seiner Hinrichtung, aber es war unverkennbar er.
Zufrieden klappte ich die Akte zu – etwas vorsichtiger diesmal, um nicht wieder eine Niesattacke zu erleiden – und wollte mich gerade zum Gehen wenden, als mir ein Aktenordner auffiel, der etwas weiter aus dem Regal hervorstand als die anderen. Hier war ja echt alles Kraut und Rüben. Kopfschüttelnd griff ich danach, um ihn wieder gerade zu rücken, und automatisch huschten meine Augen über den Namen, der auf dem Rücken des Aktenordners unter der Identifikationsnummer stand: Helene Meyer. Helene Meyer... irgendetwas rührte sich in meinem Gedächtnis bei dem Namen. Stirnrunzelnd hielt ich inne, die Hand noch an den Ordner gelegt, doch ich konnte beim besten Willen kein Gesicht mit dem Namen verknüpfen. Hätte ich bloß ein besseres Namensgedächtnis! Aber es gab doch bestimmt tausende Meyers, wieso kam mir ausgerechnet dieser Name so bekannt vor?
Mit dem Wissen, dass meine Neugierde nun entfacht war und so schnell keine Ruhe mehr geben würde, zog ich den Ordner kurzerhand heraus. Ein wenig Zeit hatte ich ja noch bis zur Glücksausgabe, auch wenn die meisten anderen, die hier im Archiv gerade recherchierten, dies anscheinend anders sahen, denn die Halle leerte sich allmählich mehr und mehr. Die beinah vollkommene Stille, die nur ab und zu durch das wiederhallende Schlagen der Ausgangstür durchbrochen wurde, gab mir das Gefühl, ganz allein in diesem Halbdunkeln zu sein, und ich schauderte bei dem Gedanken, aus Versehen hier eingesperrt zu werden.
Vielleicht sollte ich mich doch beeilen.
Hastig klappte ich den Ordner auf und musste prompt wieder niesen. Verdammte... oh! Meine Augen weiteten sich überrascht, als mich das nur allzu bekannte Gesicht der alten Sekretärin meiner Eltern anschaute. Helene Meyer, richtig – die Frau, von der mein Vater auf der letzten Versammlung erzählt hatte. Die von ein paar Bürgern angegriffen und ermordet worden war. Aber warum war in ihrer Akte dann nicht auf der ersten Seite markiert, dass sie verstorben war? Und warum trug sie so ein grässliches, quer gestreiftes T-Shirt, das fast aussah wie Sträflings-Klamotten? Tja, wie ich schon sagte, alles Kraut und Rüben hier...
Moment mal. Das sah nicht nur aus wie Sträflings-Klamotten – das WAREN Sträflings-Klamotten! Und nach dem Datum unter dem Passbild zu schließen, war das Foto erst vor kurzem aufgenommen worden. Ich runzelte die Stirn und hielt die Nase dichter an das Papier. Irgendetwas stimmte hier nicht. Irgendetwas stimmte hier ganz und gar nicht...
Ich zuckte zusammen, als die Ausgangstür erneut knallte und wie ein Donnerschlag widerhallte. Ich überflog den Steckbrief auf der ersten Seite – und schnappte ungläubig nach Luft. Dort stand schwarz auf weiß: Des Hochverrats und der Spionage schuldig gesprochen. ZUM TODE VERURTEILT.
Für eine Ewigkeit starrte ich einfach nur auf diese Worte. Ich konnte meinen Augen nicht trauen. Hochverrat? Spionage? Zum TODE verurteilt?! Seit wann war Frau Meyer eine Spionin? Und vor allem, seit wann gab es bei uns die Todesstrafe? Geschockt lehnte ich mich an das Regal. Ich konnte es nicht fassen.

Mein Vater hatte gelogen.









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BeitragThema: 6. Ewiges Feuer (dritter Teil)   Die Stadt Namenlos EmptyFr Okt 11, 2013 7:50 pm

6.5 Ash


Ich hatte mich verlaufen.
So ein Mist aber auch. Wenn ich gewusst hätte, dass die Busse und Bahnen am Abend nur noch alle dreißig Minuten fuhren, hätte ich die Party morgen veranstaltet und vorher noch in aller Ruhe eingekauft. Aber nein, stattdessen irrte ich jetzt vollgepackt mit Bierdosen, Sektflaschen und Cocktailwürstchen durch die Stadt, und die schweren Einkaufsbeutel und -Tüten zogen meine Arme immer mehr in die Länge.
Die Situation war einfach zu urkomisch, als dass ich Angst gehabt hätte. Auch, wenn die Straßen kalt, düster und menschenleer waren und der Wind unheimlich hindurch pfiff, war alles, was ich spürte, Ärger auf mich selbst. Wie hatte ich auch so dumm sein können! Als ich zum Supermarkt gefahren war, hatte ich noch Glück gehabt und einen Bus erwischt, und zu meinem Glück war ich auch wenige Minuten vor Ladenschluss noch angekommen, doch auf der Rückfahrt hatte ich nicht eine halbe Stunde warten wollen und hatte entschieden, dass die Navigations-App in meinem Handy ausreichen würde, um zu Fuß nach Hause zu finden. Das war dann wohl der metaphorische Tritt in das metaphorische Fettnäpfchen.
Dummer Ash. Dummer, dummer Ash. Grummelnd stapfte ich zügigen Schrittes durch die Dunkelheit. Etwas hellere Straßenlaternen wären auch mal ganz nett. Oder funktionierende Handy-Navigations-Apps, die einen nicht in die Irre führten. Allmählich machte sich Nervosität in meinem Magen breit. Wie spät war es? Warteten die Gäste schon auf mich? Kam ich zu spät? Ich hätte ja gerne auf meine Armbanduhr geschaut, aber da Bier, Sekt und Würstchen meine Arme mit vereinten Kräften gen Erde zerrten, ließ ich das lieber bleiben, wenn ich mir nicht das Handgelenk brechen wollte.
Nicht weit von mir entfernt öffnete sich eine Haustür, und für einen kurzen Moment schallten Gelächter und laute Musik auf die menschenleere Straße. Ich traute meinen Augen kaum, als zwei bunt – ja, ernsthaft, BUNT! - gekleidete Personen in das zuckende Lichtermeer eintraten, was sie hinter der Tür erwartete. Dann schloss sich die Tür wieder und die Stille legte sich erneut über die Straße. Ich war positiv überrascht, und zwar nicht nur von der ungemein guten Schalldämpfung der Eingangstür.
Ich war also nicht der Einzige, der eine Party veranstaltete und Spaß hatte. Ich hatte schon ein wenig daran gezweifelt, ob diese Party wirklich eine gute Idee war. Aber vielleicht war das Völkchen hier ja doch gar nicht so trostlos, wie es auf den ersten Blick erschien.
Trotz meiner Situation nun mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen, ging ich um die nächste Straßenecke – und hätte einen Triumphschrei ausstoßen können, als ich die Skyline der Innenstadt erkannte. Hier ganz in der Nähe war die Brücke, auf der ich den Vampiren begegnet war. Und auch, wenn ich damit nicht gerade gute Erinnerungen verband, wusste ich nun wenigstens, wo ich mich befand.
Von hier aus würde ich nach Hause finden. Ermutigt beschleunigte ich meine Schritte.

Es geschah wenige Häuserblocks später. Ich stratzte gerade in Gedanken versunken eine ziemlich schmale Gasse entlang, als sich aus den Schatten am Straßenrand plötzlich eine Gestalt löste. Bevor ich wusste, wie mir geschah, wurde ich gepackt und gegen die Häuserwand geschmettert. Scheppernd fielen meine Einkaufsbeutel zu Boden. Der Unbekannte holte zu einem Fausthieb aus. Reflexartig kniff ich die Augen zusammen und riss abwehrend die Arme hoch.
„Scheiße, das ist Hope!“
Die Stimme kannte ich doch... Vorsichtig blinzelte ich hinter meinen Armen hervor, als sich der feste Griff des Unbekannten ein wenig lockerte, mit dem er mich an die Wand fixierte. Er trug eine schwarze Sturmhaube über dem Kopf und schwarze Handschuhe an den Händen. „Wer?“, fragte er verwirrt.
„Na, Hope, von dem Satinca erzählt hat. Der mit den grünen Augen!“ Zwei weitere, ebenfalls vermummte Gestalten erschienen hinter meinem Angreifer. Hope?, dachte ich nur verwundert.
Die dunklen Augen hinter den kleinen Schlitzen der Sturmhaube musterten mich und wurden dann schmal. „Der hier hat aber keine grünen Augen.“
„Nein, Mann, natürlich nicht! Er...“
„...ich trag Kontaktlinsen“, beendete ich den Satz. Kurz zögerte ich, dann nahm ich mir als Beweis eine Kontaktlinse aus dem Auge. Aua, unangenehm, das musste ich noch ein bisschen üben.
Mein Angreifer schien jedoch schwer beeindruckt. Er zog scharf die Luft ein und wich förmlich vor mir zurück. „Heilige Scheiße...“, hauchte er. Ich schob die Kontaktlinse zurück in mein armes Auge und blinzelte ein paarmal, während einer der anderen Vermummten vor mich trat und mich streng musterte. „Was zum Teufel machst du hier?“, zischte er und endlich erkannte ich die Stimme: Es war Simon.
„Dasselbe könnte ich euch fragen“, gab ich grummelig zurück. Jetzt, wo mir klar war, dass mir keine Gefahr drohte, war ich in erster Linie sauer, dass sie meine Einkäufe demoliert hatten. Mit düsterem Blick machte ich mich daran, die Beutel wieder aufzusammeln. Sekt und Wurstwasser tropfte auf die Straße und ich verzog das Gesicht. Leckere Mischung.
„Wir verteilen gerade die Zeitung, sieht man doch“, erklärte Simon und hob demonstrativ die Tragetasche, die quer über seiner Schulter hing und prall mit der neusten Ausgabe der Verbotenen Zeitung gefüllt war. Erst jetzt sah ich, dass auch die beiden anderen Tragetaschen bei sich hatten. Simon verschränkte die Arme. „Und du?“
„Ich war einkaufen, sieht man doch“, äffte ich ihn nach und warf einen vielsagenden Blick auf meine triefenden Einkaufsbeutel. „Wobei ich wohl morgen noch einmal einkaufen gehen kann. Vielen Dank.“
„Aha.“ Simons Blick sprach Bände, als er auf die Unmengen an Alkohol blickte.
Ich verdrehte die Augen. „Jetzt guck nicht so, ich mach heute ne Party.“ Und nein, du bist nicht eingeladen, fügte ich in Gedanken hinzu. Eigentlich hatte ich ja nichts gegen Simon... zumindest bisher. Aber so, wie er sich gerade aufspielte, konnte ich ihn von Minute zu Minute weniger leiden.
Er schnaubte sarkastisch. „Ja, klar.“
„Glaub es oder glaub es nicht.“ Ich hievte die Beutel ein wenig höher, als die nassen Trageriemen drohten, mir aus den Händen zu rutschen. „War das alles? Ich würde jetzt nämlich gerne nach Hause gehen.“
„Nein, warte!“ Simon packte mich an der Schulter. Ich konnte förmlich in seinen Augen sehen, wie er mit sich selbst rang. „Du... solltest nicht alleine gehen“, sagte er dann langsam, als müsste er die Worte herauszwingen.
Diesmal war ich derjenige, der schnaubte. „Danke für die Fürsorge, aber ich brauche keinen Babysitter.“
„Doch, brauchst du“, entschied Simon. Er winkte seinen zwei Begleitern zu. „Los, kommt mit.“
Die beiden seufzten wie aus einem Munde. „Ach komm schon, Simon...“
Doch er schüttelte strikt den Kopf. „Satinca würde uns köpfen, wenn wir Ash hier alleine herumlaufen lassen. Jetzt kommt schon, so weit ist es nicht bis zu ihm nach Hause.“
„Genau, also könnt ihr mich auch alleine gehen lassen“, pflichtete ich ihm bei. Doch Simons Argumente schienen bei seinen Begleitern zu wirken, denn sie gaben sich geschlagen und trotteten neben uns her, als Simon mich vorwärts zerrte. Ich seufzte nur und ließ mich mitziehen.
„Wieso hat mir eigentlich niemand Bescheid gesagt, dass ihr heute die Zeitung verteilt?“, brach ich nach einer Weile die unangenehme Stille. „Ich hätte doch auch helfen können.“ Satincas SMS kam mir wieder in den Sinn. Sie hatte nicht gewollt, dass ich dabei war. Hatte mir noch nicht einmal davon erzählt. Okay, wir kannten uns gerade erst seit gestern, aber Sara und Simon waren doch laut Satinca auch noch ziemlich neu in der Redaktion, und Simon durfte anscheinend helfen. Und bisher hatte ich sogar das Gefühl gehabt, dass sie mich vertrauenswürdiger fand als sie beiden. Also was war das Problem? Traute sie mir diese Arbeit etwa nicht zu?
Simon stieß die Luft aus. Er wirkte aus irgendeinem Grund verärgert. „Nein, du hättest nicht helfen können. Das hätte Satinca nicht erlaubt. Du bist doch ihr neuer Liebling.“
„Was?“, fragte ich verwirrt.
„Sag bloß, du hast es noch nicht gemerkt. Also, uns hat sie es heute ziemlich deutlich klar gemacht, stimmt's?“ Seine Begleiter nickten, wenn auch etwas widerstrebend. „Sie meinte, dich dürfe man nicht für solche trivialen Arbeiten wie das Verteilen von Zeitungen riskieren. Wäre ja ein Drama, wenn dir dabei etwas passiert. Aber uns darf man riskieren, oder was?“ Er ballte die Fäuste und ausgegangen von dem, was von seinem Gesicht zu sehen war, schaute er ziemlich sauer drein.
„So ein Quatsch!“, entgegnete ich sofort, „Sie denkt einfach, dass ich immer noch verfolgt werde. Und wenn meine Verfolger uns sehen würden, würden wir alle in der Klemme stecken, stimmt's?“
Die drei tauschten leicht beunruhigte Blicke aus und schauten sich um. Wir waren jedoch eindeutig allein und sie entspannten sich wieder einigermaßen.
„Wenn du schon weißt, dass du verfolgt wirst, wieso bist du dann so dumm und läufst nachts allein durch die Gegend?“, hakte Simon nach einer kurzen Pause nach.
„Weil Satinca sich irrt. Ich werde nicht mehr verfolgt“, seufzte ich mit mehr Überzeugung, als ich hatte. „Und übrigens, ich habe nie versucht, mich bei ihr einzuschleimen.“
„Das hab ich auch nie behauptet.“
„Hat sich aber ganz danach angehört.“
Eine Weile füllte wieder unser wütendes Schweigen die Stille. Endlich erreichten wir mein Wohnhaus. Zum Glück waren noch keine Gäste da, und ein Blick auf meine Uhr bestätigte mir, dass ich noch zehn Minuten bis zum Beginn der Party Zeit hatte. Immerhin.
Ich drehte mich zu meinem Geleitschutz um und wollte mich gerade mit einem schnippischen Kommentar verabschieden, doch Simon kam mir zuvor. „Sie vertraut uns nicht, oder?“, fragte er. Er klang plötzlich gar nicht mehr wütend, nur noch verbittert. „Sie hat uns noch überhaupt nichts über dich erzählt. Und ich wette, sie hat dir auch gesagt, niemandem etwas anzuvertrauen, oder?“ Er seufzte. „Die meisten von uns wissen gar nichts über dich. Die meisten wissen noch nicht einmal deinen Namen! Nur dieses Pseudonym, Hope.“ Er verdrehte die Augen angesichts meiner Verwirrung. „Das hat Satinca dir gegeben, um deine Anonymität zu bewahren. Weil du ja unser Hoffnungsträger bist. Und das alles nur wegen deiner blöden Augen. Ist doch bestimmt nur ein genetischer Fehler, sonst nichts.“
Ich starrte zurück. Er wusste wirklich überhaupt nichts. Dann zuckte ich jedoch nur mit den Schultern. „Keine Ahnung, ob sie euch vertraut und warum, woher sollte ich das wissen? Frag sie doch einfach.“ Ich schloss die Haustür auf. „Gute Nacht allerseits.“
„Gute Nacht“, brummelte die drei wie aus einem Munde.
Meine Hände schmerzten wie hulle, als ich die vier Etagen bis zu meiner Wohnung erklomm, doch mein Gehirn war anderweitig beschäftigt. Immerhin wusste ich nun, warum Simon mir gegenüber plötzlich so feindselig war. Ich wäre auch sauer, wenn ich mit allen Mitteln versuchte, das Vertrauen von jemandem zu gewinnen, und dieser Jemand sein Vertrauen stattdessen einfach so einer neuen Bekanntschaft schenkte und diese von da an bevorzugte.
Ich würde darüber auf jeden Fall nochmal mit Satinca sprechen müssen. Ich respektierte sie, als Anführerin, als mutige Revolutionärin, in der ein bewundernswertes, ewiges Feuer zu schlummern schien – doch so sehr ich sie auch respektierte, diese Hoffnungsträger-Sache gefiel mir nicht. Alles andere verstand ich ja in gewissen Maßen: dass sie mir mehr vertraute als den anderen, dass sie mir ein Pseudonym gab, nicht jedem Hinz und Kunz meine Lebensgeschichte erzählte, und mich ein bisschen beschützen wollte, weil ich ja praktisch neu in dieser Welt war – alles verständlich. Aber diese plötzliche Glorifizierung musste echt nicht sein, ich war ja auch nur ein Mensch. Ja, ein Mensch, und ich war nicht aus Zucker. Ich konnte auch arbeiten, wie alle anderen, und mithelfen, so gut ich eben konnte.
Doch diese Gedanken schob ich jetzt erstmal zur Seite. Ich hatte schließlich eine Party vorzubereiten. Und zwar im Turbo-Gang!


6.6 Norman

Ich wusste nicht mehr, wie das alles angefangen hatte. Oder wie ich hier hineingeraten war. Noch immer ein wenig schlaftrunken und orientierungslos taumelte ich zwischen den anderen Leuten umher, wurde hin- und hergedrängt. Der Lärm war ohrenbetäubend, das Gebrüll dröhnte in meinen Ohren, ich verstand nur einzelne Wörter, die keinen Sinn ergaben.
Überall wurde geschubst, gedrängt, randaliert und Einrichtung zerstört. Und ich hatte es irgendwie geschafft, mich in die Mitte einer Menschentraube zu manövrieren. Ein explosionsartiger Knall war zu hören, dann brach Jubel aus. Während ich noch versuchte, zu verstehen, was gerade passierte, bewegte die Menge sich plötzlich ruckartig vorwärts. Blind krallte ich mich an zwei fremden Schultern fest, um in dem Gedränge nicht über die vielen Beine zu stolpern und niedergetrampelt zu werden.
Jetzt sah ich, was passiert war: Die Tür des Schlafsaals war aufgebrochen worden! Wie eine Herde wilder Tiere strömten wir hinaus, ich ließ mich einfach mittreiben. Als ich mich gerade schon fragte, ob der Gang dahinter menschenleer war, erschienen wie aus dem Nichts plötzlich drei Nachtwächter, die ziemlich erschrocken und überfordert aussahen. Kurz schienen sie zu überlegen, ob und wie sie uns aufhalten sollten; dann stürmten wir jedoch auf sie zu und sie ergriffen die Flucht.
Ein weiterer Knall war zu hören und ich sah, wie in dem Gang auch eine andere hohe Tür aufbrach und eine weitere Menschentraube herausströmte. Wir näherten uns dem Hauptausgang und meine Aufregung wusch die Müdigkeit davon. Ein paar sogenannte „Pädagogen“ liefen uns noch über den Weg, doch keiner wagte es, uns aufzuhalten, und sie alle flohen förmlich vor uns. Irgendeine Durchsage schnitt mit blecherner Stimme durch die Gänge, doch in dem Chaos beachtete sie keiner. Man konnte sie bei dem Lärm sowieso nicht verstehen.
Ich hörte aufgeregtes Geschrei und schaute mich um, so gut das eben möglich war, wenn man in einem Meer aus Körpern steckte, von denen die meisten größer waren als ich. Ich sah, wie die Büros gestürmt wurden, wie sich Jugendliche in den einheitlich hellgrau karierten Pyjamas Kämpfe mit den weitaus besser gekleideten Lehrern – oder sollte ich lieber sagen, Gefängniswärtern – lieferte. Einige der Angestellten waren ziemlich gut im Zweikampf, aber bei der schieren Masse an Gegnern hatten sie einfach keine Chance. Ich drängte mich, so gut es ging, von den Büros weg, da ich nicht vorhatte, ebenfalls in einen Kampf verwickelt zu werden. Dabei hätte ich echt schlechte Karten. Wobei es sicherlich befriedigend wäre, sich mit Frau Mahlzahn anzulegen.
Ich zuckte zusammen, als Schüsse abgefeuert wurden. Panik brach aus. Manche duckten sich, manche schrien, alle versuchten, in verschiedene Richtungen zu laufen. Ein paar Leute sanken getroffen zu Boden, hellrote Flecken breiteten sich auf ihren farblosen Pyjamas aus. Für einen Moment konnte ich nur fassungslos auf diese kräftige Farbe starren; dann steckte die allgemeine Panik mich an und alle Gedanken waren wie weggeweht.
Einige warfen sich gegen das Haupttor, versuchten, es aufzubrechen, doch erfolglos. Es war weitaus massiver als die Flügeltüren der Schlafsäle und blieb fest verschlossen. Weitere Schüsse waren zu hören. Irgendwer rief etwas, ich konnte nur das Wort „Computer“ herausfiltern, doch es ließ mich aufhorchen.
Computer.
Damit kannte ich mich aus. Meine Panik legte sich ein wenig, als mir klar wurde, dass ich vielleicht etwas tun konnte. Dass ich nicht vollkommen hilflos und dem Schicksal ausgeliefert war. Mit vollem Körpereinsatz versuchte ich, mich aus der Menschenmenge heraus zu drängen, und wurde dabei mehrmals sehr unangenehm eingequetscht.
Als ich es schließlich geschafft hatte, sah ich zu meiner Erleichterung, dass die Gefahr gebannt war: Alle Beamten waren aus ihren Büros gezerrt und entwaffnet worden. Sie standen an einer Wand des Gangs aufgereiht und wurden von einigen Jugendlichen bewacht, die ihnen alle Schusswaffen, Schlagstöcke und Taser abgenommen hatten. Als ich die Taser sah, wurde ich wütend. Aus welchem Grund hatten sie dann die Pistolen benutzt?!
In einer Bürotür stand ein etwa vierzehnjähriges Mädchen und versuchte, sich Gehör zu verschaffen. „Kennt sich irgendwer hier mit Computern aus? Hallo?!“
Ein etwas älterer Junge tauchte neben ihr auf. „Ey, lass uns doch einfach einen von den Flaschen da zwingen, uns das Tor zu öffnen!“, schlug er vor und wedelte aufgebracht in Richtung der Entwaffneten. Sein Blick war düster, als er ihn über sie über sie schweifen ließ und dann kurz zu den Verletzten auf unserer Seite blickte. Zum Glück schien niemand lebensbedrohlich verletzt zu sein. „Und hinterher bringen wir sie alle um, das haben sie verdient, diese Schweine!“
„Bist du bescheuert?“, protestierte das Mädchen.
Ich hatte mich nun zu ihnen durchgekämpft und räusperte mich lautstark. „Hey, ähm... ich kenn mich ein bisschen mit Computern aus. Also spart euch die Gewalt lieber.“
„Ts.“ Der Junge musterte mich abschätzig von oben bis unten. Er war für sein Alter ganz schön groß und blickte finster auf mich hinab.
Das Mädchen zog mich jedoch mit einem erleichterten Seufzer ins Büro. Nicht gerade sanft schob sie mich zu einem großen, ziemlich altmodisch und mechanisch aussehenden Computer, um den herum alle möglichen Hebel, Knöpfe und Schalter angeordnet waren. Auf dem Computerbildschirm blinkten und flimmerten kryptische Zahlen und Abkürzungen. „Na dann mach schnell, bevor die da draußen völlig die Nerven verlieren“, verlangte sie.
Ich störte mich nicht an ihrem Befehlston, sondern machte mich an die Arbeit. Ich blendete den Lärm vor dem Büro aus und versank in der Welt der Technik. Der Computer und das gesamte Sicherheitssystem waren wirklich ziemlich veraltet und ungewohnt zu bedienen, doch als ich langsam verstand, wofür die einzelnen Schalter und Hebel zu gebrauchen waren und was die vielen blinkenden Lämpchen und Anzeigen auf dem Bildschirm zu bedeuten hatten, war es eigentlich ziemlich simpel.
„Hast du's gleich?“, fragte das Mädchen und trommelte mit den Fingern nervös gegen die Lehne des Bürostuhls, auf dem ich saß.
„Gleich“, murmelte ich abwesend. Ein Schuss war zu hören und das Mädchen verabschiedete sich mit einem „Scheiße, was machen die denn da?!“, um nach dem Rechten zu sehen.
Wenige Minuten später hatte ich es geschafft. Nur ein einziger Knopfdruck genügte, und alle Lämpchen erloschen – die Sicherheitssysteme, Videokameras und Elektrozäune waren nun alle deaktiviert. Ich legte einen großen Hebel um und auf dem Bildschirm erschien das simple Wort „OPEN“.
Draußen war nun großer Jubel zu hören, und das Geräusch riss mich aus meiner Trance heraus. Aufregung und Nervosität kehrten zurück und ich sprang auf, als Adrenalin durch meinen Körper rauschte.
Jetzt bloß weg hier!













Und hiermit erkläre ich dieses Kapitel nun für beendet Wink
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