Namenlos alias Im Wald verborgen

Konnte es sein, dass Stella etwas für ihn empfand? Dass sie womöglich Gefühle entwickelt hatte?

Ein leichter Stich ließ Carlotta zusammenzucken. Wenn dem wirklich so war, dann würde es die Freundschaft zwischen den beiden Frauen verkomplizieren. Würde sie dem Druck standhalten?

Fragen über Fragen und doch keine Antworten. In was hatte sich Carlotta jetzt schon wieder begeben?

Seufzend stand sie auf und ging zum Fenster. Sie schaute in die Dunkelheit. Sie hatte sich wie ein wärmender Mantel über die Erde gelegt. Schützend, dennoch bedrohlich. Was nicht alles in der Nacht geschah, wenn alle Katzen grau wurden. Es gab viel zu viel Schlechtes. Ungerechtigkeit war eine Weitere Eigenschaft. Menschen konnten im Dunkeln nicht gut sehen. Tiere umso besser. Es gab genug davon, die in der Nacht jagten. Und sie waren erfolgreich.

Im Laufe der Zeit hatten sich die Menschen die Jagdtechniken der Tiere abgeschaut und auf ihre Art und Weise perfektioniert. Angefangen mit Steinschleudern und Wurfspeeren bis hin zu Nahkampfwaffen, wie Dolche, Schwerter und Schlagknüppel, weiter zu Feuerwaffen jeglicher Art. So unterschiedlich die Waffen auch sein mögen, eines haben sie alle gemeinsam: Man muss sich anschleichen, Ruhe bewahren ... und angreifen. Die Beute musste erlegt werden.

Verbrecher arbeiten nach dem gleichen Prinzip: Anschleichen, Beute fixieren, angreifen. In diesem Fall ist die Beute jedoch kein Tier, sondern der Mensch, ein Artgenosse. Aber auch hier gibt es Perfektionen. Das Anschleichen muss nicht immer buchstäblich so gemeint sein. Es gab Straftäter, die sich erst bei ihrem Opfer sympathisch zeigen, es sozusagen einlullen, damit es keinen Verdacht schöpft, um dann zuzugreifen und es zu eliminieren. Je nach Technik ist auch die Dauer unterschiedlich. Und der Ort musste selbstverständlich genauso präzise gewählt werden, wie die Waffe.

Mit Schrecken wurde Carlotta bewusst, dass Stella und sie im Grunde genommen leichte Beute waren. Wer sagte denn, dass der Fremde nicht solch ein Täter war, der sich in die Herzen seiner Opfer schleicht, um sie dann auf grauenvollste Art und Weise zu quälen und schlussendlich zu töten?

Ein Kloß bildete sich in ihrer Kehle. Hatte sie einem Mörder unabsichtlich Unterschlupf gewährt?

Nein, das konnte nicht sein. Er sah nicht wie ein Mörder aus. Dafür war er ... zu gesetzt. Niemals würde er einer Fliege auch nur etwas antun können. Dafür war er ... zu rücksichtsvoll. Sie konnte aber auch nicht abstreiten, dass er geheimnisvoll war. Er gab nicht viel von sich preis. Das war schon etwas auffällig, aber musste ihr denn jeder dahergelaufene Fremde auch noch sein Herz ausschütten? Nein, das würde niemand tun, auch sie würde es nicht machen. Dafür war sie schon zu oft ins offene Messer gelaufen. Wunden heilten eben nur langsam. Und ehe man es sich versah, hatte man auch schon die nächste.

Ein weiterer Seufzer entwich ihr, bevor sie sich ihren Morgenmantel überzog und doch noch einmal in den Salon ging. Als sie die Treppe hinunter ging, knarrte die Stufe. Sie stöhnte, da der Fehler immer noch nicht behoben war und ging weiter. Sie dachte sich nichts dabei. Der Schrecken, stecke ihr zwar noch sichtlich in den Gliedern, aber wenn sie dem Tod geweiht sein sollte, konnte sie so oder so nichts dagegen tun. Der Tod holte sich seine Kinder, wenn er es für richtig hielt. Man starb, wenn es an der Zeit war zu sterben.

Im Salon angekommen, legte sie den Lichtschalter um und wartete bis der ganze Raum vollständig beleuchtet war. Sie schaute sich um. Der Salon war eine Art kleine Bibliothek. An drei Wänden standen deckenhohe Regale, deren obere Fächer nur mit einer Leiter erreichbar waren. In der Mitte des Raumes befand sich eine Sitzgruppe: ein schweres rot bezogenes Sofa und zwei Sessel derselben Ausführung, sowie ein niedriger Couchtisch, auf dem ein Rittersporn, ein Ritterstern und eine Hyazinthe Platz fanden. Ein Kamin, der an der vierten Wand montiert war, beleuchtete die Sitzgruppe.

Wie immer, wenn sie nicht schlafen konnte, nahm sie sich ein Buch und setzte sich zur wohligen Wärme, die der Kamin ausstrahlte. Sie fand jedoch nicht die Ruhe, das Buch aufzuschlagen. Minutenlang schaute sie in die Flammen, bis ihr die Augen weh taten. Sonst hatte das Feuer eine beruhigende Wirkung auf sie. Heute war das jedoch anders. Es jagte ihr Angst ein. Sie hatte das Gefühl, von der Wärme erdrückt zu werden. Sie legte sich wie eine Schlinge um ihren Hals und nahm ihr die Luft. Wie zwei Hände, die unerschütterlich zudrückten.

Carlotta sprang hilfesuchend auf und eilte in die Küche. Doch hier war niemand. Stella hätte dort sein müssen, aber das war sie nicht. Mit vor Angst geweiteten Augen rannte sie in die Empfangshalle zurück und die Treppen hinauf, bis sie kurz vor dem Ersticken vor Stellas Tür stand. Wie von der Tarantel gestochen, hämmerte sie gegen das harte Holz. Ein dumpfer Laut war es, mehr nicht. Dennoch konnte sie ein leises Geräusch vernehmen. Sie wusste jedoch nicht, woher dieses Geräusch kam. Vielmehr wuchs die Angst in ihr, in den nächsten paar Sekunden das Gedächtnis zu verlieren, wenn nicht sogar zu sterben.

Eben hatte sie zwar noch gedacht, dass sie sowieso früher oder später sterben würde, aber jetzt wollte sie es ganz und gar nicht. Nicht nachdem sie einen so gut aussehenden und sympathischen Mann hatte kennen lernen dürfen. Das passierte nicht oft.
Ein weiteres Mal schlug sie ihre Faust gegen die Tür, doch war der Klang des Klopfens nun leiser. Ihre Kraft schwand von Sekunde zu Sekunde. Sie wusste nicht mehr, wohin sie gehen sollte, wen sie um Hilfe bitten sollte.

Lysanias!, schoss es ihr durch den Kopf. Warum hatte sie noch nicht daran gedacht, ihn um Hilfe zu bitten?